Man sieht, wie sich Leute darüber beklagen, daß sie nach allen erdenklichen Anstrengungen, um das Nichts zu begreifen, doch nicht damit fertig werden können. Was ist der Erschaffung der Welt vorausgegangen? Was hat ihren Platz eingenommen? Nichts. Wie aber soll man sich dieses Nichts vorstellen? Es ist leichter, sich eine ewige Materie vorzustellen. Jene Leute strengen sich dort an, wo man sich überhaupt nicht anstrengen sollte, und das ist eben der Grund, der sie in Verlegenheit bringt. Sie wollen sich irgendeine Idee bilden, die ihnen das Nichts vorstellt; aber wie jede Idee real ist, so ist auch das, was sie ihnen vorstellt, real.
Sobald wir vom Nichts sprechen, müssen wir, wenn unsere Gedanken sich unserer Sprache gemäß einstellen und ihr entsprechen sollen, darauf verzichten, uns irgend etwas vorzustellen. Vor der Schöpfung existierte Gott; doch was existierte dabei, was nahm den Raum der Welt ein? Nichts! Es gab überhaupt keinen Raum; der Raum wurde mit dem Weltall geschaffen, das sein eigener Raum ist; denn es besteht in sich selbst, nicht aber außer sich. Es gab also nichts; aber wie soll man nun das Nichts begreifen?
Man braucht gar nichts zu begreifen. Wer nichts sagt, erklärt durch seine Sprache, daß er jede Realität von sich weist; also muß das Denken, wenn es dieser Sprache entsprechen soll, auf jede Idee verzichten und darf seine Aufmerksamkeit nicht auf irgend etwas richten, das eine Realität vorstellt.
Zwar enthält man sich dabei nicht des Denkens überhaupt, man denkt immer;
aber in diesem Fall heißt denken eben einfach sich selbst empfinden, heißt
empfinden, daß man sich enthält, sich Vorstellungen zu bilden. -
(
enz
)
: SWR2 Wissen, Das reine Nichts
Nichts (3)
Dreißig Speichen gehören zu einer Nabe,
doch erst
durch das Nichts in der Mitte
kann man sie
verwenden,
man formt Ton zu einem Gefäß,
doch erst durch das Nichts im
Innern
kann man es benutzen,
man macht Fenster und Türen für das Haus,
doch erst durch ihr Nichts in den
Öffnungen
erhält das Haus seinen Sinn
Somit entsteht der Gewinn
durch
das, was da ist,
erst durch das, was nicht da ist
- (tao)
Nichts (4) Vor dem Berufungsrichter sitzt mit sonderbar
leerem und hartem Gesicht eine Frau von achtunddreißig Jahren. Ein Zeuge sagt
von ihr: »Sie arbeitete nicht, sondern betätigte sich in der Hauptsache sexuell.«
Dieses Wort scheint zuzutreffen, in seiner ganzen Nüchternheit. Was sie je getan,
es geschah immer in bezug auf das Geschlecht. Sie hatte viel Umgang vor ihrer
ersten Ehe und ist nun zum zweitenmal verheiratet. Aber immer hatte sie die
Spezialität, an ihren früheren Liebhabern Erpressungsversuche zu verüben. Einmal
schon wurde sie zu zwei Jahren Gefängnis deswegen verurteilt. Als sie frei wurde,
wählte sie zum Opfer einen ihrer ältesten Freunde. Achtzehn Jahre ist es her.
Der etwas leichtsinnige junge Mann von damals ist jetzt in geachteter Stellung
und verheiratet. Schon damals hatte sie ihn und seine Familie mit einer angeblichen
Schwangerschaft geängstigt, später behauptete sie, er sei ihr bei einer Abtreibung
behilflich gewesen und sei der Urheber ihrer Krankheiten. Noch vor Gericht behauptet
sie das, obgleich schließlich ärztliche Atteste vorgebracht werden, die überhaupt
eine Schwangerschaft als unwahrscheinlich hinstellen. Ihre Verteidigung wird
immer kleinlauter. Schließlich verstummt sie, wird ein Nichts. Ohne Bewegung
nimmt sie das Urteil zu drei Jahren Gefängnis und fünf Jahren Ehrverlust hin.
Der Richter spricht die sofortige Verhaftung aus. Sie wird hinausgeführt. Und
es ist nicht, als sei ein Mensch dagewesen. - Sling, Der Fassadenkletterer
vom "Kaiserhof". Berliner Kriminalfälle aus den Zwanziger Jahren.
Hg. Ruth Greuner. Berlin 1990
Nichts (5) Wer den Urknall ausgelöst hat? Ich nicht.
Was vor dem Urknall war -?
Können Sie sich vorstellen, daß einmal, vor Beginn der Zeit, nichts war?
Können Sie sich vorstellen, daß außerhalb des Universums nichts ist?
Also nicht - das könnten Sie sich vielleicht notfalls noch vorstellen -,
nicht leerer Raum, schwarze Leere, nein, nicht einmal Leere. Sondern nichts.
Das Nichts -was schon falsch ist, vom »Nichts« zu reden, denn allein das Wort
»Nichts« suggeriert, daß es es gäbe. Es es gäbe, zweimal »es«, schon richtig.
Aber das Nichts gibt es nicht, weil, wenn es es gäbe, es nicht nichts wäre.
Hat schon Parmenides geschrieben. - Herbert Rosendorfer: Kadon, ehemaliger Gott. München
2008 (zuerst 2001)
Nichts (6) Habe ich sie geträumt,
diese ungeheure Gegenwart? Sie war da, lag
auf diesem Park, war in diese Bäume gepurzelt, ganz wabbelig, alles verschmierend,
ganz dickflüssig, eine Konfitüre ... Ich haßte
diese widerliche Marmelade. Es gab noch und noch davon! Das stieg bis zum Himmel,
das lief überallhin aus, das erfüllte alles mit seinem glitschigen Niederschlug,
und ich sah seine endlosen Weiten ... Ich war nicht überrascht, ich wußte wohl,
daß das die alte Welt war, die nackte Welt, die sich auf einmal zeigte, und
ich, erstickte vor Wut auf dieses dicke, absurde Sein. Man konnte sich nicht
einmal fragen, wo das herauskam, das alles, noch wie es kam, daß eine Welt existierte
als vielmehr nichts. Das hatte keinen Sinn, die Welt war überall gegenwärtig,
vorne, hinten. Es hatte, nichts vor ihr gegeben. Nichts. Es hatte keinen Moment
gegeben, in dem sie hätte nicht existieren können. Genau das ärgerte mich:
selbstverständlich gab es keinen Grund, daß sie existierte, diese quallige Larve,
Aber es war nicht möglich, daß sie nicht existierte. Das war undenkbar: um sich
das Nichts vorzustellen, mußte man schon dasein, mitten in. der Welt, und die
Augen weit offen haben und leben; das Nichts, das war nur eine Idee in meinem
Kopf, eine existierende Idee, die in dieser Unermeßlichkeit schwebte: dieses
Nichts war nicht vor der Existenz, gekommen, es war eine Existenz wie jede andere
und war nach vielen anderen erschienen. Ich schrie, »was für eine Sauerei,
was für eine Sauerei!«, und ich schüttelte mich, um, diese schmierige Sauerei
loszuwerden, aber sie hielt, und es gab soviel davon, Tonnen um Tonnen von Existenz,
unbegrenzt: ick erstickte mitten in diesem unermeßlichen Überdruß.
- Jean Paul Sartre, Der Ekel. Nach (
enc
)
Nichts (7) »Nicht wahr«, fragte uns Z., »ohne das Wort nicht kommen wir nicht aus, obschon es nur ein Partikel ist, das sich in unsere Sätze einschieicht? Auch wenn es wie ein Kobold in der Grammatik herumtobt, verstehen wir doch, was gemeint ist. Schlimm wird es erst, wenn, wie ein Pickel, mir nichts, dir nichu ein kleines s hervorsprießt, ein metaphysischer Mitesser, der zur Herrschsucht neigt.
Aber was bedeutet Nichts? Seit diese Frage überhandnahm, haben sich Theologen und Philosophen an ihr die Zähne ausgebissen. Man könnte sogar sagen, daß sie durch ihr Grübeln die Sache noch schlimmer gemacht haben, indem sie diese sonderbare Silbe, die gar nicht deklinierbar ist, zum Substantiv er hoben. Seitdem geistert DAS NICHTS durcl unsere Sprache, ein Wort, vor dem ich Sie nur warnen kann.
Schon der erste Philosoph der Griechen hai uns angefleht, nicht in diese
Falle zu tappen. Vom Nichts, sagte Parmenides, der Eleat, sollten wir
die Finger lassen, nicht von ihm handeln, es nicht bedenken und nicht von ihm
reden. Natürlich hat sich niemand an diesen Rat gehalten. Charles de Bouvelles,
ein Mathematiker, hat im sechzehnten Jahrhundert ein geistreiches und verrücktes
Buch darüber verfaßt, das er Libellus de nihilo nannte. Den Vogel
schoß freilich, wie so oft, Hegel
ab, indem er feststellte: ›Das reine Sein und das
reine Nichts ist also dasselbe.‹ Andere haben sich darüber gestritten, was der
folgende Satz bedeutet: Einer behauptet: >Nichts existiert‹, und sofort schleudert
ihm ein anderer entgegen: ›DAS Nichts existiert.‹ Und schon geraten die
beiden sich in die Haare.« - Hans Magnus Enzensberger, Herrn Zetts Betrachtungen
oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern. Berlin 2014
Nichts (8) Wenn es eine künftige Fülle gibt, dann kommt sie aus dem Nichts, dem Unwirklichen. Das ist die einzige Garantie für die Zukunft.
Der Utilist und der Vernünftler sagen für das Imaginäre Trug und Maja, für
das Nichts Vakuum oder Äther. Das sind Leute, die wollen alles in den Mund nehmen
und essen oder zu einer Moral aufschneiden. Aber das Nichts ist die indifferente
Voraussetzung allen Seins. Das Nichts ist die Grundlage,
nur darf man nicht an Robert Meyer glauben, und alle Existenz ist doch
nur eine Einschränkung des Nichts. Die Existenz in Formen ist ein Sofa, eine
Schlummerrolle, eine ebenso unverbindliche, wie langweilende Konvention. Wenn
man frei und kühn zum Leben in vielen Formen ist, wenn man den Tod als ein Vorurteil,
einen Mangel an Phantasie ansieht, dann geht man aufs Phantastische, das ist
die Unermüdlichkeit in allen möglichen Formen. - (beb)
Nichts (9)— Warum, sagte er, warum sollte man das Leben
nicht ertragen, da doch ein Nichts schon genügt, es einem zu nehmen? Ein Nichts
bringt es, ein Nichts beschwingt es, ein Nichts bezwingt es, ein Nichts vollbringt
es. Wenn das nicht wäre, wer könnte da die Schicksalsschläge ertragen und die
Demütigungen einer glanzvollen Karriere, die Betrügereien der Lebensmittelhändler,
die Preise der Fleischer, das Wasser der Milchhändler, die Aufregung der Eltern,
die Wut der Lehrer, das Gebrüll der Feldwebel, die Schändlichkeiten der Besitzenden,
die Wehklagen der Vernichteten, das Schweigen der unendlichen Räume, den Geruch
des Blumenkohls oder die Passivität der Holzpferdchen, wenn man eben nicht wüßte,
daß der schlechte und höchst fruchtbare Lebenswandel einiger winziger Zellen
(Gebärde) oder die Bahn einer Kugel, die ihr vorgeschrieben wird von einem unfreiwillig
verantwortungslosen Anonymus, alle diese Sorgen unversehens im Blau des Himmels
verdampfen läßt. Ich, der ich hier zu euch spreche, habe oft über diesen Problemen
gebrütet, während ich, mit einem Gazeröckchen bekleidet, albernen Deppen von
eurer Sorte meine natürlich ziemlich behaarten Schenkel zeige, die aber, und
das muß gesagt werden, von Berufs wegen enthaart sind.-
Raymond Queneau, Zazie in der Metro. Frankfurt am Main 1999 (zuerst 1959)
Nichts (10)
Nichts (11)
Nichts (12) Das Nichts hat nicht eine
Eigenschaft, in der es bestünde, deshalb ist es eben nichts; deshalb
verlieren auch andere Geschöpfe, die sieb freiwillig dem Nichts
verbinden, ihre Eigenschaften und werden zu nichts. .- (
bin
)