athematik ist eine im wesentlichen sprachlose Geistestätigkeit, die ihren Ursprung in der Wahrnehmung einer Bewegung der Zeit hat. Diese Wahrnehmung einer Bewegung der Zeit läßt sich als das Auseinanderfallen eines Lebensmoments in zwei verschiedene Dinge beschreiben, von denen einer dem anderen Platz macht, aber im Gedächtnis bleibt. Wenn die so entstandene Zweiheit aller Eigenschaften entkleidet wird, geht sie in die leere Form des gemeinsamen Substrats aller Zweiheiten über. Und dieses gemeinsame Substrat, diese leere Form, macht die grundlegende Intuition der Mathematik aus. - Luitzen Brouwer, nach (bar)

Mathematik (2)strenge Mathematik, ich habe dich nicht vergessen, seit deine gelehrten Unterweisungen mir, süßer als Honig, ins Herz drangen wie eine erfrischende Woge. Von der Wiege an begehrte ich instinktiv, aus deiner Quelle zu trinken, die älter ist als die Sonne und immer noch wandle ich im heiligen Vorhof deines feierlichen Tempels, der ich der treuste deiner Jünger bin. Mein Geist war in Nebel gehüllt, in etwas unbestimmt Dichtes wie Rauch; aber in gläubigem Dienst gelang es mir, die Stufen deines Altars zu erklimmen, und du hast diesen düsteren Schleier vertrieben wie der Wind das Brettspiel vertreibt. Du hast ihn ersetzt durch äußerste Kälte, vollendete Vorsicht und unbeirrbare Logik. Mit Hilfe deiner stärkenden Milch hat sich mein Denkvermögen schnell entwickelt und inmitten der bezaubernden Klarheit, mit der du jene, die dich aufrichtig lieben, verschwenderisch beschenkst, ungeheure Dimensionen erreicht. Arithmetik! Algebra! Geometrie! Grandiose Dreifaltigkeit, leuchtendes Dreieck! Wer euch nicht gekannt hat, ist ein armer Wicht! Er verdiente die Strafe der härtesten Folter; denn in seiner unwissenden Sorglosigkeit liegt blinde Verachtung; wer euch aber kennt und zu würdigen weiß, begehrt keine Güter der Erde mehr; begnügt sich mit euren magischen Freuden; und von euren dunklen Fittichen getragen, wünscht er nichts weiter als sich leichten Fluges, eine aufsteigende Schneckenlinie konstruierend, zum Sphärengewölbe der Himmel emporzuschwingen. Die Erde zeigt ihm nur Täuschung und moralisches Blendwerk; du aber, o knappe Mathematik, erfüllst durch die unwiderlegliche Verkettung deiner fest gefügten Lehrsätze und durch die Beharrlichkeit deiner eisernen Gesetze die geblendeten Augen mit einem mächtig leuchtenden Widerschein jener höchsten Wahrheit, deren Spur in der Ordnung des Weltalls zu finden ist. Aber die Ordnung, die dich umgibt, vergegenwärtigt vor allem in der vollkommenen Regelmäßigkeit des Quadrats, Freund des Pythagoras, ist noch größer; denn der Allmächtige hat sich und seine Attribute in dieser denkwürdigen Arbeit, die darin bestand, dem Schoße des Chaos deine Schätze an Lehrsätzen und deine herrliche Pracht zu entreißen, völlig offenbart. Im Altertum und in modernen Zeiten sah manch große menschliche Vorstellungskraft ihren Geist sich entsetzen bei der Betrachtung deiner symbolischen Figuren, die gleich entsprechend geheimnisvollen, von verborgenem Atem lebenden Zeichen auf flammendem Papier geschrieben standen, was der vulgäre Laie nicht versteht und die doch nur die leuchtende Offenbarung der Axiome und der ewigen Hieroglyphen waren, die vor dem Weltall existierten und die nach ihm bestehen werden. - (mal)

Mathematik (3) MATH[EMATIK]. Am Ende ist die ganze Mathemat[ik] gar keine besondre Wissenschaft - sondern nur ein allgem[ein] wissenschaftliches Werckzeug - ein schönes Werckzeug ist eine Contradictio in adjecto. Sie ist vielleicht nichts, als die exoterisirte, zu einem äußern Object und Organ, gemachte Seelenkraft des Verstandes - ein realisirter und objectivirter Verstand. Sollte dieses vielleicht mit mehreren und vielleicht allen Seelenkräften der Fall seyn - daß sie durch unsre Bemühungen, äußerliche Werckzeuge werden sollen? - Alles soll aus uns heraus und sichtbar werden - unsre Seele soll repraesentabel werden - Das System der Wissenschaften soll symbolischer Körper (Organsystem) unsers Innern werden - Unser Geist soll sinnlich wahrnehmbare Maschine werden - nicht in uns, aber außer uns. /Umgekehrte Aufgabe mit der Äußern Welt./ - (bro)

Mathematik (4) Seine eigene Erfahrung hatte ihn von dem geringen Nutzen der Mathematik überzeugt, zumal wenn man sie nur um ihrer selbst willen treibt... Er fand, keine Beschäftigung sei weniger gediegen als die mit bloßen Zahlen und eingebildeten Figuren. - Baillet, Vie de Descartes (1693), über Descartes, nach (wv)

Mathematik (5) Das höchste Leben ist Mathematik.

Es kann Mathematiker der ersten Größe geben, die nicht rechnen können.

Man kann ein großer Rechner seyn, ohne die Mathematik zu ahnden. Der ächte Mathematiker ist Enthusiast per se. Ohne Enthusiasmus keine Mathematik.

Das Leben der Götter ist Mathematik. Alle göttliche Gesandten müssen Mathematiker seyn.

Reine Mathematik ist Religion.

Zur Mathematik gelangt man nur durch eine Theophanie.

Die Mathematiker sind die Einzig Glücklichen. Der Mathematiker weiß alles. Er könnte es, wenn er es nicht wüßte.

Alle Thätigkeit hört auf, wenn das Wissen eintritt. Der Zustand des Wissens ist Eudämonie, selige Ruhe der Beschauung - himmlischer Quietism.

Im Morgenlande ist die ächte Mathematik zu Hause. In Europa ist sie zur bloßen Technik ausgeartet.

Wer ein mathematisches Buch nicht mit Andacht ergreift und es, wie Gottes Wort, ließt, der versteht es nicht.

Jede Linie ist eine Weltaxe.

Eine Formel ist ein mathematisches Recept.

Die Zahlen sind die Droguen.

Die Arithmetik ihre Pharmacie.

Die höhere Mathematik enthält am Ende nur Abkürzungsmethoden.   - Novalis, Mathematische Fragmente

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