Mein Herz ist leer, wie eine taube Nuß, An hundert Weiber hatt ich wohl im Sold, Kein Funke mehr, kein Stern aus früherer Welt; |
- Aus: Frank
Wedekind,
Ich hab meine Tante geschlachtet. Frankfurt
am Main 1982 (Insel Taschenbuch 655)
Überdruß (2) Mr. Lamb war völlig aufgerüttelt. Aus so vielen triftigen Gründen fühlte er sich dieser Frau und all ihren falschen Lebensnormen überdrüssig. Er stand beim Goldfischaquarium und blickte geistesabwesend auf seine vier Bewohner hinab, drei Fische und eine winzige, aber bejahrte Schildkröte.
Rührt sich diese verdammte alte Schildkröte denn niemals vom Fleck?, fragte er in seinem Unterbewußtsein, während er, hellwach und mit wohlgewogenen Worten, fortfuhr, zu seinem Weibe zu sprechen.
»Es gibt da noch etwas, das bedacht werden will«, hörte er sich sagen, »nämlich die jederzeitige Möglichkeit, daß ich eines Morgens zu früher Stunde in Gestalt eines ausgehungerten Tigers, eines unterernährten Wolfes, eines Menschenfresserhais, eines wilden Ebers, eines... eines...« Er hielt einen Augenblick im Sprechen inne, um sich Zeit zu lassen, sich ein besonders gräßliches Tier auszudenken. »... Krokodils«, nahm er den Faden triumphierend wieder auf. »Und wenn deine zerbrechliche Lilie es wagen sollte, in meinem Bett zu liegen, so würde ich ihn mir nichts, dir nichts verschlingen und mit Freuden für die anschließende Übelkeit geradestehen, die seine Gegenwart in meinem Magen hervorrufen würde. Was würdest du sagen, kämest du als der abgehalfterte Vamp, der du bist, in mein Zimmer getänzelt, und alles, was von Mr. Gray übrig wäre, wären ein paar Hühneraugen, die zwischen meinen Kinnladen hingen? Ein hübscher Anblick? Aber ein möglicher, und du allein wärst verantwortlich für den Tod eines der schlechtesten Schauspieler der Woodbine Players, so wahr ich hier stehe.«
Die Vorstellung, Leonard Grays Hühneraugen zwischen den bluttriefenden Kauwerkzeugen
eines Krokodils hängen zu sehen, war denn doch zuviel für Mrs. Lamb. Sie wandte
ihrem entsetzlichen Ehemann den Rücken zu und verbarg das Gesicht in ihren Händen.
Ein plötzliches Platschen ließ sie zusammenfahren
und ihre Position urnkehren. Mr. Lamb war nicht mehr da. - (
lam
)
Überdruß (3)
- Bosc, Alles, bloß das nicht. Ausgewählte Cartoons. Zürich 1982
(detebe 21890, zuerst 1974)
Überdruß (4) Niemand hat bisher den Überdruß in einer, für jene, die ihn nicht kennen, verständlichen Sprache beschrieben. Für die einen ist Überdruß nichts anderes als Langeweile, für die anderen schlichtes Unbehagen, und wieder andere betrachten ihn als ein Müde-Sein. Doch auch wenn Überdruß mit Ermüdung, Unbehagen und Langeweile zu tun hat, hat er mit ihnen nur so viel zu tun wie Wasser mit Wasser- und Sauerstoff, aus denen es sich zusammensetzt. Es schließt sie ein, und bleibt doch es selbst.
Während einige eine beschränkte und unvollständige Vorstellung vom Überdruß haben, messen ihm andere wiederum eine Bedeutung bei, die in gewisser Weise über ihn hinausgeht — so als bezeichne man die tiefinnere und geistige Abneigung gegen die Vielfalt und Ungewißheit der Welt als Überdruß. Was uns gähnen macht, ist Langeweile; was uns zappelig werden läßt, ist Unbehagen; was uns den Elan nimmt, ist Ermüdung - nichts von alledem ist Überdruß; aber er ist auch nicht das tiefe Empfinden von der Leere der Dinge, durch das sich das gescheiterte Bestreben befreit, das enttäuschte Begehren erhebt und in der Seele der Samen keimt, aus dem der Mystiker oder der Heilige erwächst.
Überdruß ist zweifellos die Langeweile an der Welt, das Unbehagen am Leben,
das Des-Lebens-müde-Sein; Überdruß ist in der Tat die fleischliche Wahrnehmung
der übergroßen Leere der Dinge. Doch mehr noch als all
dies ist Überdruß auch eine Langeweile an anderen Welten, gleich, ob sie existieren
oder nicht; ein Unbehagen, leben zu müssen, wenn auch als Anderer, auf andere
Weise und in einer anderen Welt; ein Müde-Sein nicht nur des Gestern und des
Heute, sondern auch des Morgen und der Ewigkeit, sofern es sie denn gibt, und
des Nichts, sofern es denn die Ewigkeit ist. Nicht allein die Leere der Dinge
und Lebewesen schmerzt die überdrüssige Seele, sondern auch die Leere von etwas
anderem, etwas nicht Ding- und Wesenhaftem, die Leere der Seele selbst empfindet
diese Leere, fühlt sich leer und ist in dieser Leere von sich selbst angewidert
und abgestoßen. - Fernando Pessoa, Das Buch
der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich 2003 (22. 8. 1931)
Überdruß (5)
Umstritten ist die nur von wenigen, aber durchaus zuverlässigen
Forschern berichtete Sitte der Bataks, ihre eigenen Alten zu verzehren. So hörte
Raffles 1820 aus ihrem eigenen Munde, daß es bei ihnen früher üblich
gewesen sei, die Eltern, wenn sie zu alt zum Arbeiten geworden waren, zu essen.
Sie taten das nicht so sehr aus Genußsucht
als der ehrwürdigen Zeremonie willen. Daher lädt ein
Mann, wenn er der Welt überdrüssig geworden ist, seine eigenen Kinder ein, ihn
zur Zeit, wenn Salz und Limonen billig geworden sind, zu essen. - Eduard Volhard,
nach: Ernst Jünger,
Zwei Mal Halley. Stuttgart 1987
Überdruß (6)
Ich habe in mir, in meinem Innersten einen radikalen, bitteren, unaufhörlichen
Überdruß, der mich hindert, irgend etwas zu genießen, und der mein Herz bis
zum Zerplatzen füllt. Er taucht bei jedem Anlaß auf, wie die aufgeblähten Kadaver
der Hunde, die trotz den Steinen, die man ihnen um den Hals gebunden hat, um
sie zu ertränken, an die Wasseroberfläche kommen. - Flaubert an Louise
Colet, 20. Dezember 1846, nach (
flb
)
Überdruß (7)
Und immer das gleiche Schauspiel, der gleiche Kurs, die gleiche Bahn, und mag
sie noch so weit sein, die gleichen spärlichen Ereignisse am Himmel — sinnlos,
endlos. Die Wunder des Himmels! Die Wunder des Himmels: diese unergründliche
Finsternis und darin die wenigen, in der unendlichen Leere winzigen Welten,
weiter voneinander entfernt als die Inseln im Pazifik. Wunder der Welten, wenn
man schon meint, von Wundern sprechen zu müssen. Nur auf den Welten gerinnt
das Leben, nur auf ihnen schlägt es sich nieder, und kaum eine Spanne von ihnen
entfernt herrschen Tod und Düsternis. Eingebettet in das Dunkel, die große gelbe
Sonne, die unbeweglichen gelben Sterne; die Phasen des Mondes und der Erde,
Neumond, Neuerde, Vollmond, Vollerde ... Und sonst? Hier geschieht nie etwas.
Und ihr da unten sagt, daß ihr wißt, was das ist: Angst, Einsamkeit, ÜBERDRUSS?
-
Tommaso Landolfi, Cancroregina. Die Krebskönigin oder Eine seltsame Reise zum
Mond. Zürich 1997
Überdruß (8)
Es regnet den ganzen Tag — es wird die ganze Nacht regnen.
Ich bin so lustlos, ängstlich vor jeder Bewegung, so ohne inneren Spass, dass
ich mir selbst zuwider geworden bin. So ein Überdruss — Überdruss von schrecklichem
Ausmass — und er wächst immer weiter. Ich bin unhöflich, unliebenswürdig — mein
Körper ist grauer Brei. Ich welke — ich bin schon verwelkt — ich faule und rieche
übel — so übel ist alles. Ich vergesse, dass ich Beine habe. Ich kann nicht
mehr bis in meine Füsse hinunterdenken. - Unica Zürn, Notizen
einer Blutarmen. In: U. Z., Das Weiße mit dem roten Punkt. Texte und Zeichnungen. Frankfurt am Main - Berlin
1988
Überdruß (9)
Dem Überdruß sei glücklicherweise nirgendwo zu entkommen. Überdruß mache sich
von Geburt an im Menschen breit, werde aber nur von den wenigsten als Geschenk
des Himmels anerkannt und angenommen.
Allgemein wehre man sich gegen jegliche Form des Überdrusses und lasse bei ersten
Anzeichen von Überdruß umgehend die eigene Triebstruktur durchleuchten und sich
mit entsprechender Medikation zu weiteren Höchstleistungen hochpeitschen. Anschließend
wundere man sich über unvermittelt auftretende Krankheiten. Krebs zum Beispiel
entstehe nur aus mangelndem Überdruß. Menschen, die einfach nicht überdrüssig
werden wollten, bekämen Krebs, damit sie auf diese, zugegebenermaßen nicht gerade
sanfte Art und Weise die hohe Kunst des Überdrusses erlernten. Wer sich jedoch
selbst und aus freien Stücken dem Überdruß ausliefere, der habe das Leben durchschaut
und erkannt und aus dieser Erkenntnis die nötige Konsequenz gezogen. Wer aber
versuche, sich mit allen möglichen Tricks dem Überdruß zu entziehen, der züchte
damit entsprechende Krankheiten und werde solange von Krankenhausbesuchen und
Operationen gebeutelt, bis auch er endlich des Lebens überdrüssig sei. -
(rev)
Überdruß (10)
Hätte sich die angetrunkene Mrs. Morgan für jenen feinen Ncr-venbereich
des menschlichen Gehirns interessiert, wo die Grenzen zwischen Philologie und
Psychologie verschwimmen, wäre es für sie faszinierend gewesen, die winzigen
Abweichungen zu bemerken, mit denen sich das bürgerliche Nordlondoner Cockney
von Young Tewsy, der in der Hauptstadt aufgewachsen war, vom proletarischen
Ostlondoner Cockney Red Robinsons unterschied; doch statt irgendwelcher derartigen
Beobachtungen überrollte einzig und allein eine Welle unendlichen, unaussprechlichen
Lebensüberdrusses diese traurige, alt-junge, dreißigjährige Frau, als sie in
jenem düsteren und schäbigen Flur auf das lange
Flüstern lauschte, das jetzt zwischen diesen beiden Männern anhob. Morgan Nellys
Mutter verspürte, während ihre dunklen Augen von der Peel-Büste zu der geflickten
Hose von Young Tewsy glitten, tatsächlich gerade da ein sehr klares und sehr
bestimmtes Verlangen, tot zu sein. Wenn eine Frau einmal zuverlässig tot war,
brauchte es keine Verhandlungen um ein Zimmer, in dem sie legal und ungestört
unsittlichen Handlungen ausgesetzt sein würde. -
(cowp)
Überdruß (11) Das mit lautem Geräusch zugeschlagene Gitter des Fahrstuhls weckte ihn auf.
Er legte eine Hand auf sein Herz.
«Das Herz, die Lungen, das Blut... Ich bin es leid, zu wissen, daß mein Körper
ein Laboratorium ist, dazu bestimmt, mein Protoplasma zu erneuern und zu ernähren.
Ich bin nichts weiter als Phosphor, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und
Kohlenstoff. Ich habe es satt, mich in acht zu nehmen, mich von oben anzusehen,
als ob ich meine Augen außerhalb von mir hätte. Ich habe es satt zu lieben,
das heißt meinen Phosphor, meinen Stickstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff
aufzuzehren.» - Pitigrilli, Kokain. Reinbek bei Hamburg
1988 (rororo 12225, zuerst 1922)
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