issen
Strickland war Polizeibeamter. Weil
die Leute ihn nicht verstanden, sagten sie, er wäre ein sehr zweifelhafter
Mensch, und gingen ihm aus dem Wege. Daran war Strickland selber schuld.
Er vertrat die sonderbare Theorie, ein Polizeibeamter
in Indien müsse versuchen, so viel über die Eingeborenen
zu erfahren, wie sie selber wissen. Nun gibt es in ganz Oberindien nur
einen Mann, der ganz nach Belieben sich für einen Hindu, Mohammedaner,
Chamar oder Fakir ausgeben kann. Er wird von den Eingeborenen vom Ghor
Kathri bis zum Jamma Musjid gleicherweise gefürchtet und geachtet, und
sie glauben, daß er die Gabe der Unsichtbarkeit und die Gewalt über viele
böse Geister besitzt. Aber welchen Vorteil hat ihm das bei der Regierung
eingetragen? Nicht den geringsten. Ihm ist niemals die Verwaltung von Simla
übertragen worden; und sein Name ist den Engländern
fast ganz unbekannt.
Strickland war so töricht, sich diesen Mann zum Vorbild zu nehmen; er begab sich, dessen absurder Theorie folgend, an ekelhafte Orte, mit denen kein anständiger Mensch sich befassen würde, mitten unter das Eingeborenenpack. Auf diese sonderbare Weise bildete er sich sieben Jahre lang, was aber nicht geschätzt wurde. Beständig beschäftigte er sich mit der Magie der Eingeborenen, an die doch selbstverständlich niemand mit gesundem Menschenverstand glaubt. Einmal, als er Urlaub hatte, wurde er in Allahabad in das Sat Bhai eingeweiht; er kannte den Eidechsengesang der Sansis und den Halli-Hukk-Tanz, das ist ein religiöser Cancan von erstaunlicher Wirkung. Wenn jemand weiß, wer den Halli-Hukk tanzt, und wie, wann, wo, der kann stolz sein; er ist schon recht tief eingedrungen. Aber Strickland war nicht stolz, obgleich er sogar einmal bei der Bemalung des Todesbullen geholfen hatte, den kein Engländer auch nur erblicken darf; obgleich er den Diebsjargon der Changars beherrschte, allein einen Eusufzai-Pferdedieb bei Attock ergriffen hatte und unter dem Mimbar-Brett in einer Grenzmoschee gestanden und wie ein Sunni Mollah den Gottesdienst abgehalten hatte.
Seine Glanzleistung war, daß er einmal elf Tage als Fakir in den Gärten von Baba Atal in Amritsar zugebracht und dort die Fäden der großen Nasiban-Mordaffäre in die Hand bekommen hatte. Aber die Leute sagen - ganz mit Recht:
»Warum in aller Welt kann Strickland nicht in seinem Büro sitzen, seine
Akten und Listen führen und sich ruhig verhalten, anstatt die Unfähigkeit
seiner Vorgesetzten aufzudecken?« So nützte ihm denn auch die große Mordaffäre
beim Bezirksamt nichts; aber nachdem sein erster Zorn darüber verraucht
war, kehrte er zu seiner schnurrigen Gewohnheit, das Leben der Eingeborenen
zu erforschen, zurück. Nebenbei gesagt: wenn erst einmal jemand Geschmack
an diesem eigentümlichen Vergnügen findet, so verliert er ihn nicht wieder.
Es gibt nichts, was einen mehr fasziniert, die Liebe nicht ausgenommen.
Wenn andere sich zehn Tage frei machten, um ins Gebirge zu gehen, nahm
er sich Urlaub für einen, wie er es nannte, Shikar; er legte die
Verkleidung, die ihn gerade lockte, an, tauchte in
der braunen Menge unter und war für eine Zeit
wie vom Erdboden verschwunden. Er war ein
stiller, dunkler junger Bursche, schmächtig, schwarzäugig, und wenn er
mit seinen Gedanken nicht anderswo war, ein sehr interessanter Gesellschafter.
Strickland über die Aufwärtsentwicklung der eingeborenen Bevölkerung, wie
er sie erlebt hatte, sprechen zu hören, das war schon etwas. Die Eingeborenen
haßten Strickland, aber sie fürchteten ihn. Er wußte zuviel. - Rudyard
Kipling, Fräulein Yougals Sais, nach (
ki
)
Wissen
(2)
Welch staunenswerte
Methode ist das briefing, das die Führungskräfte dieser Welt in
Minutenschnelle vom Nicht-Wissen zum Bescheid-Wissen befördert! Zweifellos
bedarf es eher münetischer als analytischer Fertigkeiten, um ein solch
fremdes, genau geordnetes Wissen-Wie-Wann-Warum kurzfristig zu beherrschen
und als eigenes vorzustellen. Darin übt man sich in den Zentralen der Macht
oder eigentlich überall, wo an reibungslosen Abläufen gearbeitet wird.
Unvermeidlich ist dabei die fast nur schablonenhafte Wahrnehmung ebenfalls
reibungslos funktionierender Menschen. Unsereins ist verwirrt, mindestens
einen ganzen Arbeitstag lang mit der Bewältigung einer zufälligen Begegnung
beschäftigt. Zum Beispiel mit der Nachwirkung einer bildschönen Frau, die
einen im Regionalexpress anspricht und in ihre Urlaubspläne einweiht. Man
kommt von ihr lange nicht wieder los. In den Fluren des Funktionierens
übergeht man vergleichbare Wunderlichkeiten, obwohl sie dort wie in allen
anderen Lebensbereichen ebenso häufig geschehen. Aber man ist darauf abgerichtet,
von Mensch und Ding nichts als sein gröbstes Profil zu bemerken, man muss
und will aus allem und jedem den aktiven Nutzen ziehen. Beeindruckbarkeit
aber ist die intelligenteste Form der Trägheit, der Passivität. -
Botho Strauß, Der Untenstehende auf Zehenspitzen. München 2004. Nach: Der
Spiegel 9 / 2004
Wissen
(3)
Wissen
(4)
Unser
Volk weiß nicht, welcher Kaiser regiert, und selbst über den Namen
der Dynastie bestehen Zweifel. In der Schule wird vieles dergleichen der
Reihe nach gelernt, aber die allgemeine Unsicherheit in dieser Hinsicht
ist so groß, daß auch der beste Schüler mit in sie gezogen wird. Längst
verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Thron gesetzt, und
der nur noch im Liede lebt, hat vor kurzem eine Bekanntmachung erlassen,
die der Priester vor dem Altare verliest. Schlachten unserer ältesten Geschichte
werden letzt erst geschlagen und mit glühendem Gesicht fällt der Nachbar
mit der Nachricht dir ins Haus. Die kaiserlichen Frauen, überfüttert
in den seidenen Kissen, von schlauen Höflingen der edlen Sitte entfremdet,
anschwellend in Herrschsucht, auffahrend in Gier, ausgebreitet in Wollust,
verüben ihre Untaten immer wieder von neuem. Je mehr Zeit schon vergangen
ist, desto schrecklicher leuchten alle Farben, und mit lautem Wehgeschrei
erfährt einmal das Dorf, wie eine Kaiserin vor Jahrtausenden in langen
Zügen ihres Mannes Blut trank. - (
kaf
)
Wissen
(4)
Endlich wer meint, man wisse doch nichts, der
weiß ja auch dies nicht, |
- (
luk
)
Wissen
(5)
Berichte über
Ereignisse, die nicht eingetreten sind, interessieren mich immer. Wie wir wissen,
gibt es bekanntes Wissen und Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen.
Wie wir auch wissen, gibt es bekanntes Unwissen. Soll heißen: Wir wissen, es
gibt Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch Unwissen, von dem wir nichts
wissen. Die Dinge, die wir nicht wissen - wir wissen sie nicht. - Donald
Rumsfeld
Wissen
(6)
In meiner Jugend
stand in der Physik, das Nordlicht sei ein magnetisches Phänomen. Ohne Hintergedanken
nahm ich die Erklärung an. Als ich aber älter wurde, erfuhr ich, nur Spiritisten
könnten Licht von einem Magneten ausgehen sehen.
Jetzt ist das Nordlicht elektrisch geworden, und Lem-ström kann Nordlicht
mit einer Art Telegraphenstangen machen; einig aber sind die Gelehrten nicht.
Ich habe oft Nordlicht gesehen und dabei den Kompaß auf dem Tisch gehabt; der
hat aber nie eine Flosse gerührt. Einige Gelehrte haben die Kompaßnadel sich
bei Nordlicht bewegen sehen, andere haben gesehen, daß sie sich nicht bewegt.
„Das ist dann wohl von Fall zu Fall verschieden", mithin damit so, wie
mit allem andern! - (
blau
)
Wissen
(7) »Ich weiß nichts,« sagte
das Knäblein in der Badewanne.
»Das ist auch gar nicht nötig!« bemerkte die weise Mama.
»Ich will doch aber,« rief das Knäblein, »ein großer Mann werden.«
»Dann brauchst Du,« schrie krächzend das weise Weltweib, »erst recht nichts zu wissen.«
»Dolle Welt!« murmelte das Knäblein. -
Paul Scheerbart, Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferderoman mit 83 merkwürdigen
Geschichten. Frankfurt am Main 1990 (zuerst 1902)
Wissen
(7)
Es ist eine
falsche Idee, daß man Langeweile haben würde, wenn
man alles wüßte. Jede überwundne Last befördert die Leichtigkeit
der Lebensfunctionen - und läßt eine Kraft übrig - die
nachher zu etwas andern übrig bleibt. Es ist mit dem Wissen, wie mit dem Sehn,
— je mehr man sieht desto besser und angenehmer ist es - Ist man übler
dran, weil man sieht? Unwissenheit und Blindheit sind analog. - Novalis
Wissen
(8)
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