Aber wie stünde es in diesem Fall mit den Mitmenschen? Mit menschlichen Beziehungen? In den Aufzeichnungen der Gespräche jenes Vormittags finde ich immer wieder die Frage: »Wie ist es mit menschlichen Beziehungen?« Auf welche Weise könnte man diese zeitlose Seligkeit des Sehens, des eigentlichen Sehens, mit den täglichen Pflichten vereinbaren, wie könnte man tun, was man tun sollte fühlen, wie man fühlen sollte? »Man sollte imstande sein«, sagte ich, »diese Hose als unendlich wichtig und Menschen als noch unendlich wichtiger zu sehen.« Man sollte — aber in der Praxis schien es unmöglich zu sein. Dieses Teilhaben an der offenkundigen Herrlichkeit der Dinge ließ sozusagen keinen Raum für die gewöhnlichen, die notwendigen Angelegenheiten menschlichen Daseins, vor allem blieb kein Raum für Menschen. Denn Menschen besitzen ein Selbst, und in einer Hinsicht zumindest war ich nun im Zustand des Nicht-Selbst-Seins und gewahrte dabei, wie den Dingen meiner Umgebung das Selbst fehlte, obwohl ich in der gleichen Lage war wie sie. Diesem neugeborenen Nicht-Selbst erschienen das Verhalten und die Erscheinung des Selbst, das in diesem Augenblick nicht mehr war — ja nicht einmal der Gedanke daran bestand oder die Erinnerung an andere Formen des Selbst, die früher in ihm zu Hause gewesen waren —, nicht etwa abstoßend (Widerwille war nicht die Kategorie, in deren Begriffen ich dachte), sondern ungeheuer belanglos.
Vom Experimentator dazu angehalten, zu berichten und zu analysieren,
was ich tat (und wie sehr ich mich danach sehnte, mit der Ewigkeit einer
Blume, der Unendlichkeit von vier Sesselbeinen und dem Absoluten in den
Falten eines Paars Flanellhosenbeinen alleingelassen zu werden!), merkte
ich, daß ich absichtlich die Augen der außer mir im Raum anwesenden Personen
vermied, daß ich mich willentlich zurückhielt, um mir ihrer Gegenwart nicht
allzu bewußt zu werden. Es waren meine Frau und ein Mann, den ich schätze
und sehr gern habe. Aber beide gehörten einer Welt an, aus der mich für
den Augenblick das Meskalin befreit hatte — der Welt des Selbst, der Zeit,
der moralischen Urteile und der Nützlichkeitserwägungen, der Welt
(und es war diese Seite des menschlichen Lebens, die ich vor allem zu vergessen
wünschte) der Selbstbehauptung, der Selbstsicherheit, der überbewerteten
Wörter und vergötzten Begriffe. - Aus: Aldous Huxley, Die Pforten
der Wahrnehmung (1954)
Sehen (2) Die Grenze des für das menschliche Auge
sichtbaren Spektrums wird durch Wellenlängen
des Lichtstrahls bestimmt, die nach einer von dem schwedischen Physiker
Angström geschaffenen und nach ihm benannten Maßeinheit in zehnmillionstel
Millimetern ausgedrückt werden. Jenseits des aus dem Spektrum insgesamt
lediglich abgeteilten sichtbaren Lichts, also unterhalb 4000 und oberhalb
8000 Angström, bildet sich die Chemie der Gegenstände in Spektrallinien
ab, die verschiedenen Stoffen unverwechselbar entsprechen und die man zwar
nicht sehen, wohl aber sichtbar machen und schließlich ebenso photographieren
kann wie die dem menschlichen Auge sich darstellende
Welt. Auf dem engen Raum
der Farbwahrnehmung, der wiederum nichts als und in vieler Hinsicht ein
zufälliger Ausschnitt ist, vermag das menschliche Auge die Wirklichkeit
in einer Ausdehnung zu unterscheiden, der gegenüber das Erkennen von Personen
und Sachen, der Vergleich räumlicher Proportionen und die konventionelle
Rekonstruktion von Ereignissen nur einen Punkt, das bisherige industrielle
wie kriminalistische Vorstellungsvermögen kaum mehr als einen halben Schritt
bilden. Der in der Verknüpfung augenfälliger Tatsachen und im zielstrebigen
Umgang mit der Wahrscheinlichkeit trainierte Wirklichkeitssinn dringt mit
Hilfe des infraroten wie des ultravioletten Lichts über die Identifizierung
von künstlichen wie natürlichen Gebilden hinaus und in die Bestimmung der
gegebenen Substanzen vor, deren Herkunft und Alter von Herkunft und Alter
der aus ihnen geformten gleichgültigen oder nicht gleichgültigen Gegenstände
unabhängig und stets verschieden sind und diesen in Gestalt einer vollends
unsichtbaren bedeutungsvollen oder nicht bedeutungsvollen Geschichte eine
sofort und direkt auswertbare zweite Identität verleihen. Unter der Wirkung
ultravioletter Strahlen entwickeln Zinkweiß ein gelbgrünes, Lithoponweiß
ein schwefelgelbes und Bleiweiß ein gelbbraunes Lumineszieren, andere Verbindungen
ein anderes Lumineszieren, gelegentlich ein anhaltendes Phosphoreszieren
oder auch keine dieser Reaktionen. - Nach (
net
)
Sehen (3) Jeder hält das Ende seines Gesichtskreises
für das der Welt: dies ist im Intellektuellen so unvermeidlich, wie im
physischen Sehn der Schein, daß am Horizont der Himmel die Erde berühre.
Darauf aber beruht, unter Anderm, auch Dies, daß Jeder uns mit seinem Maaßstabe
mißt, der meistens eine bloße Schneiderelle ist, und wir uns Solches gefallen
lassen müssen; wie auch, daß Jeder seine Kleinheit uns andichtet, welche
Fiktion ein für alle Mal zugestanden ist. - (
schop
)
Sehen (4) ist in sich selbst schon eine schöpferische
Tat, die eine Anstrengung verlangt. Alles, was wir im täglichen Leben sehen,
wird mehr oder weniger durch unsere erworbenen Gewohnheiten entstellt.
— Die zur Befreiung von den Bildfabrikaten [durch Photo, Film, Reklame]
notwendige Anstrengung verlangt einen gewissen Mut,
und dieser Mut ist für den Künstler unentbehrlich, der alles so sehen muß,
als ob er es zum erstenmal sähe. Man muß zeitlebens so sehen können, wie
man als Kind die Welt ansah,
denn der Verlust dieses Sehvermögens bedeutet gleichzeitig den Verlust
jeden originalen Ausdrucks. Ich glaube z. B., daß nichts für den Künstler
schwieriger ist, als eine Rose zu malen, weil er, um sie zu schaffen, zuerst
alle vor ihm gemalten Rosen vergessen muß. - Henri Matisse, nach:
Walter Hess (Hg.): dokumente zum verständnis der modernen malerei. Reinbek
bei Hamburg 1964 (rde 19)
Sehen (5) Der Russisch-Japanische Krieg, schreibt ein Hirnforscher heute, trug direkt zum Verständnis des menschlichen Sehvermögens bei. Eine brandneue Waffe machte es möglich. In den Jahren 1904 und 1905 untersuchte der junge japanische Militärarzt Tatsuji Inouye Soldaten seiner Armee, die, durch einen Kopfschuß verwundet. Sehverluste erlitten hatten. Die Verletzungen waren so charakteristisch und punktgenau, daß sie ihm wie in einer Versuchsreihe detaillierte Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der Sehrinde erlaubten. Aus dem eingetretenen Sehverlust ließ sich bestimmen, nach welchem Muster die Sektoren des Gesichtsfeldes in der primären Sehrinde, dem visuellen Zentrum des Gehirns, abgebildet sind. Das Instrument, das diese Erkenntnisse ermöglichte, war ein neues russisches Infanteriegewehr, ein Modell, aus dem Geschosse kleineren Kalibers mit hoher Mündungsgeschwindigkeit abgefeuert werden konnten.
Viele der angeschossenen Soldaten überlebten die Verwundungen, weil
das Geschoß den Schädel geradlinig durchdrang, ohne die Knochenschale großflächig
zu zertrümmern. Es heißt, die Verwundeten hätten sich nach kurzer Bewußtlosigkeit
bald erholt und an Inouyes Studien bereitwillig mitgearbeitet —
ganz so wie der Verurteilte in Kafkas Strafkolonie,
von dem der Bericht vermerkt, er hätte so hündisch ergeben ausgesehen,
»daß es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen
lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme«.
Nach fünf Jahren Forschung legte Inouye die Ergebnisse seiner Arbeit
in einer Monographie vor, die er merkwürdigerweise in Deutsch verfaßt hatte.
Die Sehstörung bei Schußverletzungen der Cortikalen Sehsphäre nach Beobachtung
an Verwundeten der letzten japanischen Kriege. Innerhalb der Gemeinde
der Neurowissenschaftler geriet sie jedoch bald in Vergessenheit. -
(
gr
)
Sehen (6) Seit ich operiert worden bin, sehe ich
die Menschen mit anderen Augen. Schon aus der Ferne erkenne ich, wer die
Hand auf die Galle preßt, schon von weitem sehe ich, wie der Diabetiker
taumelt, ich sehe sein geschundenes Auge, diese holde Krankheit, der man
mit der Uhr und der Waage in der Hand zu Leibe rücken muß, an den aschfahlen
Gesichtern erkenne ich alle maroden Lebern, ich erkenne, wer binnen eines
halben Jahres vermutlich abkratzen wird, diese Augen, die sich unentwegt
von allem verabschieden, blicken bereits auf die andere Seite der Türklinke.
Ich sehe, daß die meisten Menschen humpeln und torkeln, sehe diese Tics
in den schlaflosen Augen, erkenne die Hände, die die Schilddrüse halten,
ich sehe die Falten als Folge gezogener Stockzähne und bei künstlichen
Gebissen und Parodontose die Vorsicht beim Kauen, ich sehe qualvoll auftretende
Fersen mit Splittern, die zitternden Finger der notorischen Säufer, ich
sehe Frauen, die mit verweinten Augen ein Krankenhaus verlassen, weil sie
dort ihre Männer zurückgelassen haben, und Männer, die aus dem Gemeindehaus
treten, wo sie die Begräbnisse ihrer Frauen in die Wege geleitet haben,
ich sehe nur wenige Gesunde, junge Menschen, die glücklich sind, daß sie
an den Trieben und der Liebe kranken. Wie kommt
es, daß ich das früher nicht bemerkt habe? Habe ich schlecht gesehen? Es
gibt deshalb so wenig Selbstmorde, weil der Mensch, wenn er auf dem letzten
Loch pfeift, Hoffnung schöpft und den Glauben hat, daß das Krebsgeschwür
verschwindet, die krebszerfressene Lunge dank der Bestrahlung die Krankheit
versengt, daß ein Wunder geschieht ... deshalb diese schönen, Abschied
nehmenden Augen, die ständig Abbitte leisten ... - (
hra2
)
Sehen (7) Ein wahrer Philosoph
sieht die Dinge nie durch fremde Augen, sondern ergibt sich nur der Überzeugung,
die der Evidenz entspringt. Es ist schwer zu verstehen, wie es möglich
ist, daß Menschen, die Geist besitzen, bei der Suche nach der Wahrheit
lieber den Geist anderer benutzen als den Geist, den ihnen Gott verliehen
hat. Zweifellos ist es doch viel erfreulicher und ehrenhafter, wenn man
sich von seinen eigenen Augen statt von fremden leiten läßt, und ein Mensch,
der gute Augen hat, sollte nie auf den Einfall kommen, sie zu schließen
oder sie sich auszureißen in der Hoffnung auf einen guten Führer; dies
ist jedoch ein sehr weit verbreiteter Brauch. - (
enz
)
Sehen (8) Eine Auseinandersetzung mit dem Ungestalten
lehrt einen unter anderm auch unterscheiden zwischen dem, was man zu sehen
glaubt, und dem, was man wirklich sieht. An unserem Sehen ist irgendein
konstruktives Element beteiligt, das uns die Macht der Gewohnheit entbehrlich
gemacht hat. Wir erraten oder erahnen in der Regel mehr, als wir sehen,
und die vom Auge empfangenen Eindrücke sind für uns bloße Zeichen, und
nicht einmalig-gegenwärtige Ereignisse, vorgängig allen jenen Vereinbarungen,
Zusammenfassungen, Abkürzungen und unwillkürlichen Unterstellungen, an
die eine erste Erziehung uns gewöhnt hat. - (
deg
)
Sehen (9) Daß die von der Sucht des Nachtwandelns
Befallenen fest schlafen, und daß sie mit den
Augen schlechterdings nicht sehn können, ist völlig
gewiß: dennoch nehmen sie in ihrer nächsten Umgebung Alles wahr, vermeiden
jedes Hinderniß, gehn weite Wege, klettern an den gefährlichsten Abgründen
hin, auf den schmälsten Stegen, vollführen weite Sprünge, ohne ihr Ziel
zu verfehlen: auch verrichten Einige unter ihnen ihre täglichen, häuslichen
Geschäfte, im Schlaf, genau und richtig, Andere koncipiren und schreiben
ohne Fehler. Auf die selbe Weise nehmen auch die
künstlich in magnetischen Schlaf versetzten Somnambulen ihre Umgebung wahr
und, wenn sie hellsehend werden, selbst das Entfernteste. Ferner ist auch
die Wahrnehmung, welche gewisse Scheintodte von Allem, was um sie vorgeht
haben, während sie starr und unfähig ein Glied zu rühren daliegen, ohne
Zweifel, eben dieser Art: auch sie träumen ihre gegenwärtige Umgebung,
bringen also dieselbe, auf einem andern Wege, als dem der Sinne, sich zum
Bewußtseyn. - (
schop
)
Sehen (10) Weil wir im Traume wirklich
sehn, so ist überaus treffend und fein, ja, tief gedacht, was Apulejus
die Charite sagen läßt, als sie im Begriff ist, dem schlafenden Thrasyllus
beide Augen auszustechen: vivo tibi morientur
oculi, nec quidquam videbis, nisi dormiens [Für das Leben werden deine
Augen sterben, und du wirst nichts mehr sehen außer im Schlafe].
(Metam. VIII, p. 172, ed. Bip.) - (
schop
)
Sehen (11) Unser Sehen ist eine Folge des
Eindringens von Bildern. -
Demokrit, nach (
diol
)
Sehen (12)
Sehen (13)
Sehen (14) Es blieb nichts übrig, als zu sehen,
was er sehen wollte. Jeder x-beliebige Idiot kann ein Auge zudrücken, aber wer
weiß, was der Strauß im Sand sieht? -
(mur)
Sehen (15) Eine Auseinandersetzung mit dem
Ungestalten lehrt einen unter anderm auch unterscheiden
zwischen dem, was man zu sehen glaubt, und dem, was man wirklich sieht. An unserem
Sehen ist irgendein konstruktives Element beteiligt, das uns die Macht der Gewohnheit
entbehrlich gemacht hat. Wir erraten oder erahnen
in der Regel mehr, als wir sehen, und die vom Auge empfangenen Eindrücke sind
für uns bloße Zeichen, und nicht einmalig-gegenwärtige
Ereignisse, vorgängig allen jenen Vereinbarungen, Zusammenfassungen, Abkürzungen
und unwillkürlichen Unterstellungen, an die eine erste Erziehung uns gewöhnt
hat. - (deg)
Sehen (16) Wir sehen jetzt durch einen Spiegel
in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. - 1. Kor.
13, 12.