ehen »So sollte man sehen!« sagte ich immer wieder, während ich auf meine Hose blickte oder auf die wie mit Edelsteinen besetzten Bücher in den Regalen oder auf die Beine meines Sessels, der so unendlich viel mehr aussagte als der von van Gogh. »Das ist die Art und Weise,wie man sehen sollte und wie die Dinge in Wirklichkeit sind.« Und doch gab es da Vorbehalte. Denn sähe man immer so, würde man nie etwas anderes tun wollen. Nur einfach zu schauen, einfach das göttliche Nicht-Selbst einer Blume, eines Buchs, eines Sessels, eines Stücks Flanell zu sehen, das wäre schon genug.

Aber wie stünde es in diesem Fall mit den Mitmenschen? Mit menschlichen Beziehungen? In den Aufzeichnungen der Gespräche jenes Vormittags finde ich immer wieder die Frage: »Wie ist es mit menschlichen Beziehungen?« Auf welche Weise könnte man diese zeitlose Seligkeit des Sehens, des eigentlichen Sehens, mit den täglichen Pflichten vereinbaren, wie könnte man tun, was man tun sollte fühlen, wie man fühlen sollte? »Man sollte imstande sein«, sagte ich, »diese Hose als unendlich wichtig und Menschen als noch unendlich wichtiger zu sehen.« Man sollte — aber in der Praxis schien es unmöglich zu sein. Dieses Teilhaben an der offenkundigen Herrlichkeit der Dinge ließ sozusagen keinen Raum für die gewöhnlichen, die notwendigen Angelegenheiten menschlichen Daseins, vor allem blieb kein Raum für Menschen. Denn Menschen besitzen ein Selbst, und in einer Hinsicht zumindest war ich nun im Zustand des Nicht-Selbst-Seins und gewahrte dabei, wie den Dingen meiner Umgebung das Selbst fehlte, obwohl ich in der gleichen Lage war wie sie. Diesem neugeborenen Nicht-Selbst erschienen das Verhalten und die Erscheinung des Selbst, das in diesem Augenblick nicht mehr war — ja nicht einmal der Gedanke daran bestand oder die Erinnerung an andere Formen des Selbst, die früher in ihm zu Hause gewesen waren —, nicht etwa abstoßend (Widerwille war nicht die Kategorie, in deren Begriffen ich dachte), sondern ungeheuer belanglos.

Vom Experimentator dazu angehalten, zu berichten und zu analysieren, was ich tat (und wie sehr ich mich danach sehnte, mit der Ewigkeit einer Blume, der Unendlichkeit von vier Sesselbeinen und dem Absoluten in den Falten eines Paars Flanellhosenbeinen alleingelassen zu werden!), merkte ich, daß ich absichtlich die Augen der außer mir im Raum anwesenden Personen vermied, daß ich mich willentlich zurückhielt, um mir ihrer Gegenwart nicht allzu bewußt zu werden. Es waren meine Frau und ein Mann, den ich schätze und sehr gern habe. Aber beide gehörten einer Welt an, aus der mich für den Augenblick das Meskalin befreit hatte — der Welt des Selbst, der Zeit, der moralischen Urteile und der Nützlichkeitserwägungen, der Welt (und es war diese Seite des menschlichen Lebens, die ich vor allem zu vergessen wünschte) der Selbstbehauptung, der Selbstsicherheit, der überbewerteten Wörter und vergötzten Begriffe.  - Aus: Aldous Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung (1954)

Sehen (2) Die Grenze des für das menschliche Auge sichtbaren Spektrums wird durch Wellenlängen des Lichtstrahls bestimmt, die nach einer von dem schwedischen Physiker Angström geschaffenen und nach ihm benannten Maßeinheit in zehnmillionstel Millimetern ausgedrückt werden. Jenseits des aus dem Spektrum insgesamt lediglich abgeteilten sichtbaren Lichts, also unterhalb 4000 und oberhalb 8000 Angström, bildet sich die Chemie der Gegenstände in Spektrallinien ab, die verschiedenen Stoffen unverwechselbar entsprechen und die man zwar nicht sehen, wohl aber sichtbar machen und schließlich ebenso photographieren kann wie die dem menschlichen Auge sich darstellende Welt. Auf dem engen Raum der Farbwahrnehmung, der wiederum nichts als und in vieler Hinsicht ein zufälliger Ausschnitt ist, vermag das menschliche Auge die Wirklichkeit in einer Ausdehnung zu unterscheiden, der gegenüber das Erkennen von Personen und Sachen, der Vergleich räumlicher Proportionen und die konventionelle Rekonstruktion von Ereignissen nur einen Punkt, das bisherige industrielle wie kriminalistische Vorstellungsvermögen kaum mehr als einen halben Schritt bilden. Der in der Verknüpfung augenfälliger Tatsachen und im zielstrebigen Umgang mit der Wahrscheinlichkeit trainierte Wirklichkeitssinn dringt mit Hilfe des infraroten wie des ultravioletten Lichts über die Identifizierung von künstlichen wie natürlichen Gebilden hinaus und in die Bestimmung der gegebenen Substanzen vor, deren Herkunft und Alter von Herkunft und Alter der aus ihnen geformten gleichgültigen oder nicht gleichgültigen Gegenstände unabhängig und stets verschieden sind und diesen in Gestalt einer vollends unsichtbaren bedeutungsvollen oder nicht bedeutungsvollen Geschichte eine sofort und direkt auswertbare zweite Identität verleihen. Unter der Wirkung ultravioletter Strahlen entwickeln Zinkweiß ein gelbgrünes, Lithoponweiß ein schwefelgelbes und Bleiweiß ein gelbbraunes Lumineszieren, andere Verbindungen ein anderes Lumineszieren, gelegentlich ein anhaltendes Phosphoreszieren oder auch keine dieser Reaktionen. - Nach (net)

Sehen (3) Jeder hält das Ende seines Gesichtskreises für das der Welt: dies ist im Intellektuellen so unvermeidlich, wie im physischen Sehn der Schein, daß am Horizont der Himmel die Erde berühre. Darauf aber beruht, unter Anderm, auch Dies, daß Jeder uns mit seinem Maaßstabe mißt, der meistens eine bloße Schneiderelle ist, und wir uns Solches gefallen lassen müssen; wie auch, daß Jeder seine Kleinheit uns andichtet, welche Fiktion ein für alle Mal zugestanden ist. - (schop)

Sehen (4)  ist in sich selbst schon eine schöpferische Tat, die eine Anstrengung verlangt. Alles, was wir im täglichen Leben sehen, wird mehr oder weniger durch unsere erworbenen Gewohnheiten entstellt. — Die zur Befreiung von den Bildfabrikaten [durch Photo, Film, Reklame] notwendige Anstrengung verlangt einen gewissen Mut, und dieser Mut ist für den Künstler unentbehrlich, der alles so sehen muß, als ob er es zum erstenmal sähe. Man muß zeitlebens so sehen können, wie man als Kind die Welt ansah, denn der Verlust dieses Sehvermögens bedeutet gleichzeitig den Verlust jeden originalen Ausdrucks. Ich glaube z. B., daß nichts für den Künstler schwieriger ist, als eine Rose zu malen, weil er, um sie zu schaffen, zuerst alle vor ihm gemalten Rosen vergessen muß. - Henri Matisse, nach: Walter Hess (Hg.): dokumente zum verständnis der modernen malerei. Reinbek bei Hamburg 1964 (rde 19)

Sehen (5) Der Russisch-Japanische Krieg, schreibt ein Hirnforscher heute, trug direkt zum Verständnis des menschlichen Sehvermögens bei. Eine brandneue Waffe machte es möglich. In den Jahren 1904 und 1905 untersuchte der junge japanische Militärarzt Tatsuji Inouye Soldaten seiner Armee, die, durch einen Kopfschuß verwundet. Sehverluste erlitten hatten. Die Verletzungen waren so charakteristisch und punktgenau, daß sie ihm wie in einer Versuchsreihe detaillierte Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der Sehrinde erlaubten. Aus dem eingetretenen Sehverlust ließ sich bestimmen, nach welchem Muster die Sektoren des Gesichtsfeldes in der primären Sehrinde, dem visuellen Zentrum des Gehirns, abgebildet sind. Das Instrument, das diese Erkenntnisse ermöglichte, war ein neues russisches Infanteriegewehr, ein Modell, aus dem Geschosse kleineren Kalibers mit hoher Mündungsgeschwindigkeit abgefeuert werden konnten.

Viele der angeschossenen Soldaten überlebten die Verwundungen, weil das Geschoß den Schädel geradlinig durchdrang, ohne die Knochenschale großflächig zu zertrümmern. Es heißt, die Verwundeten hätten sich nach kurzer Bewußtlosigkeit bald erholt und an Inouyes Studien bereitwillig mitgearbeitet — ganz so wie der Verurteilte in Kafkas Strafkolonie, von dem der Bericht vermerkt, er hätte so hündisch ergeben ausgesehen, »daß es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme«. Nach fünf Jahren Forschung legte Inouye die Ergebnisse seiner Arbeit in einer Monographie vor, die er merkwürdigerweise in Deutsch verfaßt hatte. Die Sehstörung bei Schußverletzungen der Cortikalen Sehsphäre nach Beobachtung an Verwundeten der letzten japanischen Kriege. Innerhalb der Gemeinde der Neurowissenschaftler geriet sie jedoch bald in Vergessenheit.  - (gr)

Sehen (6) Seit ich operiert worden bin, sehe ich die Menschen mit anderen Augen. Schon aus der Ferne erkenne ich, wer die Hand auf die Galle preßt, schon von weitem sehe ich, wie der Diabetiker taumelt, ich sehe sein geschundenes Auge, diese holde Krankheit, der man mit der Uhr und der Waage in der Hand zu Leibe rücken muß, an den aschfahlen Gesichtern erkenne ich alle maroden Lebern, ich erkenne, wer binnen eines halben Jahres vermutlich abkratzen wird, diese Augen, die sich unentwegt von allem verabschieden, blicken bereits auf die andere Seite der Türklinke. Ich sehe, daß die meisten Menschen humpeln und torkeln, sehe diese Tics in den schlaflosen Augen, erkenne die Hände, die die Schilddrüse halten, ich sehe die Falten als Folge gezogener Stockzähne und bei künstlichen Gebissen und Parodontose die Vorsicht beim Kauen, ich sehe qualvoll auftretende Fersen mit Splittern, die zitternden Finger der notorischen Säufer, ich sehe Frauen, die mit verweinten Augen ein Krankenhaus verlassen, weil sie dort ihre Männer zurückgelassen haben, und Männer, die aus dem Gemeindehaus treten, wo sie die Begräbnisse ihrer Frauen in die Wege geleitet haben, ich sehe nur wenige Gesunde, junge Menschen, die glücklich sind, daß sie an den Trieben und der Liebe kranken. Wie kommt es, daß ich das früher nicht bemerkt habe? Habe ich schlecht gesehen? Es gibt deshalb so wenig Selbstmorde, weil der Mensch, wenn er auf dem letzten Loch pfeift, Hoffnung schöpft und den Glauben hat, daß das Krebsgeschwür verschwindet, die krebszerfressene Lunge dank der Bestrahlung die Krankheit versengt, daß ein Wunder geschieht ... deshalb diese schönen, Abschied nehmenden Augen, die ständig Abbitte leisten ... - (hra2)

Sehen (7) Ein wahrer Philosoph sieht die Dinge nie durch fremde Augen, sondern ergibt sich nur der Überzeugung, die der Evidenz entspringt. Es ist schwer zu verstehen, wie es möglich ist, daß Menschen, die Geist besitzen, bei der Suche nach der Wahrheit lieber den Geist anderer benutzen als den Geist, den ihnen Gott verliehen hat. Zweifellos ist es doch viel erfreulicher und ehrenhafter, wenn man sich von seinen eigenen Augen statt von fremden leiten läßt, und ein Mensch, der gute Augen hat, sollte nie auf den Einfall kommen, sie zu schließen oder sie sich auszureißen in der Hoffnung auf einen guten Führer; dies ist jedoch ein sehr weit verbreiteter Brauch.  - (enz)

Sehen (8) Eine Auseinandersetzung mit dem Ungestalten lehrt einen unter anderm auch unterscheiden zwischen dem, was man zu sehen glaubt, und dem, was man wirklich sieht. An unserem Sehen ist irgendein konstruktives Element beteiligt, das uns die Macht der Gewohnheit entbehrlich gemacht hat. Wir erraten oder erahnen in der Regel mehr, als wir sehen, und die vom Auge empfangenen Eindrücke sind für uns bloße Zeichen, und nicht einmalig-gegenwärtige Ereignisse, vorgängig allen jenen Vereinbarungen, Zusammenfassungen, Abkürzungen und unwillkürlichen Unterstellungen, an die eine erste Erziehung uns gewöhnt hat.   - (deg)

Sehen (9)  Daß die von der Sucht des Nachtwandelns Befallenen fest schlafen, und daß sie mit den Augen schlechterdings nicht sehn können, ist völlig gewiß: dennoch nehmen sie in ihrer nächsten Umgebung Alles wahr, vermeiden jedes Hinderniß, gehn weite Wege, klettern an den gefährlichsten Abgründen hin, auf den schmälsten Stegen, vollführen weite Sprünge, ohne ihr Ziel zu verfehlen: auch verrichten Einige unter ihnen ihre täglichen, häuslichen Geschäfte, im Schlaf, genau und richtig, Andere koncipiren und schreiben ohne Fehler. Auf die selbe Weise nehmen auch die künstlich in magnetischen Schlaf versetzten Somnambulen ihre Umgebung wahr und, wenn sie hellsehend werden, selbst das Entfernteste. Ferner ist auch die Wahrnehmung, welche gewisse Scheintodte von Allem, was um sie vorgeht haben, während sie starr und unfähig ein Glied zu rühren daliegen, ohne Zweifel, eben dieser Art: auch sie träumen ihre gegenwärtige Umgebung, bringen also dieselbe, auf einem andern Wege, als dem der Sinne, sich zum Bewußtseyn.   - (schop)

Sehen (10)  Weil wir  im Traume wirklich sehn, so ist überaus treffend und fein, ja, tief gedacht, was Apulejus die Charite sagen läßt, als sie im Begriff ist, dem schlafenden Thrasyllus beide Augen auszustechen: vivo tibi morientur oculi, nec quidquam videbis, nisi dormiens [Für das Leben werden deine Augen sterben, und du wirst nichts mehr sehen außer im Schlafe]. (Metam. VIII, p. 172, ed. Bip.)    - (schop)

Sehen (11)   Unser Sehen ist eine Folge des Eindringens von Bildern. - Demokrit, nach (diol)

Sehen (12)

Sehen (13)

Sehen (14)  Es blieb nichts übrig, als zu sehen, was er sehen wollte. Jeder x-beliebige Idiot kann ein Auge zudrücken, aber wer weiß, was der Strauß im Sand sieht?  - (mur)

Sehen (15)  Eine  Auseinandersetzung mit dem Ungestalten lehrt einen unter anderm auch unterscheiden zwischen dem, was man zu sehen glaubt, und dem, was man wirklich sieht. An unserem Sehen ist irgendein konstruktives Element beteiligt, das uns die Macht der Gewohnheit entbehrlich gemacht hat. Wir erraten oder erahnen in der Regel mehr, als wir sehen, und die vom Auge empfangenen Eindrücke sind für uns bloße Zeichen, und nicht einmalig-gegenwärtige Ereignisse, vorgängig allen jenen Vereinbarungen, Zusammenfassungen, Abkürzungen und unwillkürlichen Unterstellungen, an die eine erste Erziehung uns gewöhnt hat.  - (deg)

Sehen (16)  Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. - 1. Kor. 13, 12.


Wahrnehmung, sinnliche

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