heorie   Allison setzte sich, schlug die Beine übereinander und strich ihren Rock glatt. Sie lehnte sich zurück und seufzte. »Ist es nicht schön hier? Das Feuer und alles? Genau das, was ich mir immer vorgestellt habe.« Sie schloß verträumt die Augen.

Larry nahm seine Zigaretten heraus und zündete sich nachdenklich eine an. »Jetzt hören Sie mal zu, Miss Holmes -«

»Allison. Schließlich werden wir heiraten.«

»Allison, meinetwegen. Hör zu, Allison, diese ganze Sache ist absurd. Während ich an der Bar saß, habe ich darüber nachgedacht. Sie stimmt nicht, deine verrückte Theorie.«

»Warum nicht?« Ihre Stimme klang schläfrig, abwesend.

Larry machte eine wütende Handbewegung. »Ich werde dir sagen, warum nicht. Du behauptest, ich sei nur teilweise echt. Richtig? Du bist die einzige, die ganz echt ist.«

Allison nickte. »Richtig.«

»Aber sieh mal! Ich weiß nicht, was mit all den anderen Menschen ist -« Larry deutete mißbilligend auf sie. »Vielleicht hast du recht, was sie betrifft. Vielleicht sind sie wirklich nur Phantome. Aber ich nicht! Du kannst nicht behaupten, daß ich nur ein Phantom bin.« Er schlug mit der Faust gegen die Sessellehne. »Siehst du? Nennst du das nur teilweise echt?«

»Auch der Sessel ist nur teilweise echt.«

Larry stöhnte. »Verdammt noch mal, ich bin seit fünfundzwanzig Jahren in dieser Welt, und ich habe dich erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Soll ich glauben, ich sei nicht wirklich lebendig? Nicht wirklich - nicht wirklich ich? Daß ich nur eine Art - ein Stück Kulisse in deiner Welt bin? Ein Teil der Einrichtung?«

»Larry, Liebling. Du hast deine eigene Welt. Jeder von uns hat seine eigene Welt. Aber diese hier ist zufällig meine, und du bist meinetwegen hier.« Allison öffnete ihre großen blauen Augen. »In deiner echten Welt existiere ich vielleicht auch ein wenig für dich. Alle unsere Welten überschneiden sich; verstehst du das nicht? Du existierst für mich in meiner Welt. Wahrscheinlich existiere ich für dich in deiner.« Sie lächelte. »Der Große Schöpfer muß ökonomisch arbeiten - wie alle guten Künstler. Viele der Welten sind ähnlich, fast identisch. Aber jede von ihnen gehört nur einem einzigen Menschen.«

»Und diese hier gehört dir.« Larry seufzte.  - Philip K. Dick, Die Welt, die sie wollte. In: P. K. D., Variante zwei. Sämtliche Erzählungen Band 3. Zürich 1995 (zuerst 1987)

Theorie (2) In einer vornehmen Gesellschaft in Reims habe ich später einmal gehört, wie jemand zum Spaß die Frage stellte: ›Würden Sie unter diesen oder jenen Umständen fähig sein, einen Menschen zu töten?‹ Und eine andere Frage kennen Sie vielleicht: ›Wenn es genügen würde, auf einen elektrischen Schaltknopf zu drücken, um einen sehr reichen Mandarin im hintersten China zu töten und ihn zu beerben, würden Sie es tun?‹

Hier, wo die ausgefallensten Gegenstände zum Vorwand dienten, um nächtelange Debatten zu führen, mußte das Rätsel des Lebens und des Todes auch zur Sprache kommen. Es war kurz vor Weihnachten. Es hatte geschneit. Eine Zeitungsnotiz gab den Anlaß zu einer Diskussion, und natürlich stimmten unsere Ideen mit den allgemein gültigen Auffassungen nicht überein. Wir verbissen uns in das Thema: Der Mensch ist nur ein Schimmelpilz auf der Erdrinde. Was liegt schon an seinem Leben oder seinem Tod. Das Mitleid ist nur eine Krankheit. Die großen Tiere fressen die kleinen, und wir fressen die großen Tiere.

Lombard hat Ihnen die Geschichte von dem Taschenmesser erzählt, mit dem er sich in den Arm stach, um zu zeigen, daß der Schmerz eine Täuschung ist. Nun, in dieser Nacht, als schon drei oder vier leere Flaschen auf der Erde lagen, unterhielten wir uns ernsthaft darüber, jemanden zu töten. Bewegten wir uns nicht auf einem rein theoretischen Gebiet, wo alles erlaubt ist? Einer fragte den anderen: ›Und du, würdest du den Mut haben?‹ Die Augen glänzten. Wollüstige Schauer überliefen uns. ›Warum denn nicht? Wenn das Leben ein Nichts ist, ein Zufall, eine Hautkrankheit der Erde! Einen Unbekannten, dem man auf der Straße begegnet?‹

Und Klein, der völlig betrunken war, totenblaß, mit tiefen Schatten unter den Augen, erwiderte: ›Ja!‹

Man hatte das Gefühl, am Rande eines Abgrundes zu stehen. Man hatte Angst, noch weiter zu gehen. Aber man spielte mit der Gefahr oder scherzte mit dem Tod, den man beschworen hatte und der jetzt unter uns herumzuschleichen schien. Einer von uns - ich glaube van Damme, der Chorknabe gewesen war - sang das Libero nos, das die Priester vor den Särgen anstimmen. Wir wiederholten es im Chor. Wir berauschten uns an makabren Vorstellungen. Aber in dieser Nacht wurde niemand getötet. Um vier Uhr morgens ging ich nach Hause, kletterte über die Gartenmauer und legte mich ins Bett. Um acht Uhr trank ich im Kreise meiner Familie Kaffee. - Georges Simenon, Maigret unter den Anarchisten. München 1972 (Heyne Simenon-Kriminalromane 92, zuerst 1931)

Theorie (3)  Es sind etliche Theorien aufgestellt worden. Dies sind die drei üblichsten:

1. Die » Ubergeschnappter-Doktor«-Theorie: Er arbeitete an einem Londoner Krankenhaus, entwickelte eine religiöse Besessenheit und machte sich zur Aufgabe, das Böse zu beseitigen. Er endete im Selbstmord.

2. Die »Verrücktheit-in-böcbsten-Kreisen«-Theorie: Er kam aus einer bekannten und einflußreichen Familie. Es gelang ihm, seine entsetzlichen Neigungen zu verbergen, bis er sich, durch den letzten Mord völlig durcheinandergebracht, verriet. Dann wurde er diskret in eine Privatklinik geschafft. Dort starb er später in geistiger Umnachtung.

3.  Die »Rächer«-Theorie: Er war ein berühmter Arzt, der sich vorgenommen hatte, die Prostituierte Marie Kelly, die seinen geliebten, einzigen Sohn mit Syphilis angesteckt hatte, zu finden und umzubringen. Die anderen fünf Morde wurden auf der Suche nach ihr begangen, da es Zeugen dafür, daß er sich nach nach der Kelly erkundigt hatte, nicht geben durfte; die Verstümmelungen sollten die Morde als das Werk eines Geistesgestörten erscheinen lassen. Er entfernte die inneren Organe für seine private Sammlung pathologischer Demonstrationsobjekte. Diese kuriose Theorie gründet auf einem »Geständnis«, das der Arzt auf seinem Sterbelager in Südamerika gemacht haben soll.

Die meisten anderen Theorien sind von ähnlichem Kaliber. Das kniffligste Problem für die Theoretiker war ja der Umstand, daß die Mordserie plötzlich aufhörte, während dies aus der Sicht der modernen klinischen Psychologie wohl der unkomplizierteste Aspekt des Falles ist. In den letzten fünfzig Jahren hat man in der Erforschung der Schizophrenie große Fortschritte erzielt, und die Ripper-Morde würden heute vermutlich als ein Fall von Fugue diagnostiziert werden. Es ist sogar denkbar, daß nach der Ermordung Marie Kellys dem Täter diese Lebensphase nie mehr zu Bewußtsein gekommen ist. Dieses unglaublich präzise Zurechtlegen der Körperteile hatte etwas von einem Höhepunkt, etwas Endgültiges. - (beg)

Einbildungskraft
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Synonyme