uin
Ich wollte über den Sankt Gotthard reiten, in der stillen Hoffnung, einen Sturz
zu tun, der mich übel zurichten und so etwas ablenken
könnte. Obgleich ich ehemaliger Kavallerieoffizier bin und obgleich ich in meinem
Leben oft und oft vom Pferd gefallen bin, graut mir doch vor einem Sturz auf
Geröll, das unter den Tritten des Pferdes nachgibt. Der Führer, der mich begleitete,
hielt mich schließlich an und sagte, es liege ihm zwar wenig an meinem Leben,
aber ich werde seinen Verdienst schmälern, und niemand werde mehr mit ihm kommen,
wenn man erfahre, daß einer seiner Reisenden in einen Abgrund
gekollert sei. - (
ele
)
Ruin (2) Im Grunde war mir nur bewußt, daß ich durch eine Reihe von Wänden über Müll und Papier ging. An einer Stelle mußte ich hinaufklettern und Haufen von glitschigen Aktendeckeln mit den Füßen kneten - es raschelte wie im Gebüsch. Während ich weiterschritt, blickte ich mich zitternd um — so zäh heftete sich in dieser Stille der geringste Laut an mich, als schleiften meine Füße trockene Reisigbündel; ich hörte hin, ob nicht irgendwelche fremde Ohren meine Schritte vernehmen könnten. Anfangs schritt ich über dies Nervengewebe der Bank und zertrat die schwarzen Ziffernkörner mit dem Gefühl, als zerstöre ich die Noten eines Orchesters, das von Alaska bis zum Niagara zu hören war. Ich suchte nicht nach Vergleichen: hervorgerufen von dem unvergeßlichen Schauspiel, tauchten sie auf und verschwanden wieder wie eine Kette nebelhafter Figuren. Es schien mir, als watete ich am Boden eines Aquariums, aus dem das Wasser ausgelassen worden war, oder inmitten von Eis, oder auch noch deutlicher und düsterer, als wanderte ich in vergangenen Jahrhunderten, die sich in die Gegenwart verwandelt hatten. Ich ging durch einen inneren Korridor, so gewunden und lang, daß man auf ihm mit dem Fahrrad hätte fahren können. An seinem Ende befand sich eine Treppe, ich stieg in die nächste Etage hinauf und ging auf einer anderen Treppe wieder herunter, vorbei an einem Saal mittlerer Größe, auf dessen Boden verschiedene Geräte herumlagen. Es gab dort Mattglaskugeln, tulpen- und glockenförmige Lampenschirme, Bronzelüster, schlangenartig gewundene Kabelrollen, haufenweise Fayence und Kupfergeschirr.
Der nächste verwinkelte Korridor brachte mich ins Archiv, wo in der dunklen Enge der Regale, die den Raum parallel durchschnitten und vom Boden bis zur Decke reichten, ein Durchkommen undenkbar war. Ein Durcheinander von Kopierbüchern erreichte Schulterhöhe; nicht einmal umsehen konnte ich mich mit der gebührenden Aufmerksamkeit - so unentwirrbar war alles vermischt.
Ich ging durch eine Seitentür und orientierte mich im Halbdunkel an den weißen
Wänden, bis ich eine große bogenförmige Wölbung erblickte, die die Korridore
mit der Fläche des Hauptsaales verband, in dem sich eine Doppelreihe schwarzer
Säulen erhob. Am oberen Ende der Säulen erstreckte
sich in einem riesigen Viereck die Brüstung einer
Alabastergalerie; die Decke war kaum sichtbar. Ein Mensch, der an Agoraphobie
leidet, würde mit verhülltem Gesicht fliehen, so weit war der Weg bis zum anderen
Ende dieses Säulengetümmels, wo die Türen, klein wie Spielkarten, schwarz schimmerten.
Tausend Menschen hätten hier tanzen können. In der Mitte befand sich ein Springbrunnen,
und seine Masken, die Münder in höhnischer oder tragischer Grimasse aufgerissen,
sahen aus wie eine Ansammlung lebloser Köpfe. An die Säulen grenzte eine massive
Platte, langgestreckt wie die Barriere einer Arena, bedeckt mit Mattglasscheiben,
auf-denen in goldenen Lettern die Aufschriften von Kassen und Buchhaltungen
prangten. Zerbrochene Zwischenwände, eingestürzte Kabinen, an die Wand geschobene
Tische waren wegen der Größe des Saales kaum zu sehen. Nur mit Mühe konnte der
Blick die Gegenstände erfassen, die wie alles andere hier von der leblosen Verwüstung
zeugten. Ich stand reglos da und sah mich um. Ich begann an diesem Schauspiel
Gefallen zu finden, seinen Stil zu erfassen. Wieder vermochte ich die gehobene
Stimmung des Betrachters eines Großbrandes zu verstehen. Der Zauber des Ruins
erklang in poetischen Eingebungen: vor meinen Augen erstreckte sich eine eigenartige
Landschaft, eine Gegend, ja ein ganzes Land. Sein Kolorit war von einer so suggestiven
Natürlichkeit, wie ein originelles Motiv in der Musik. Man konnte sich nur mit
Mühe vorstellen, daß sich hier einst eine Menge mit tausenden Angelegenheiten
in den Aktentaschen und in den Köpfen bewegt hatte. Auf allem lag der Stempel
der Verwesung und der Stille.
Der übermütige, unbändige Luftzug des Elements der Zerstörung
fuhr von Tür zu Tür und zermalmte auf seinem Weg alles mit derselben Leichtigkeit,
wie eine Eierschale unter den Füßen zermalmt wird. Diese Eindrücke riefen ein
eigenartiges Kribbeln unter der Schädeldecke hervor und zwangen mich, über die
Katastrophe mit einer magischen Kraft des Herzens zu denken, die uns dazu drängt,
in einen Abgrund zu blicken. - Alexander Grin, Der
Rattenfänger. In: Phantastische Welten, Hg.
Franz
Rottensteiner. Frankfurt am Main 1984 (Phantastische Bibliothek 137)
Ruin
(3) Fürst Naoshige sagte einmal zu seinem Enkel, Fürst
Motoshige: »Jedes Haus, ob von hohem oder niederem Rang, muß früher oder später
untergehen. In diesem Fall gehst du selbst schändlich unter, wenn du zu ungeduldig
versuchst, dich aus der mißlichen Lage zu befreien. Wenn es Zeit für den Niedergang
ist, laß deinen Haushalt mit Würde in den Ruin gehen.
So vorbereitet, wirst du vielleicht ein, zwei Wege finden, dich von solchem
Ruin irgendwie fernzuhalten.« - (bush)
|
||
|
||