Die Geburtsstunde des ersten Gottes, jener Moment mithin, da erstmals Menschen übersinnliche Eingebungen hatten, ist nur ungenau bekannt. Einige Forscher versuchten gar, die Wurzeln bis ins Tierreich zu verfolgen. So deuteten sie das devote Verhalten eines Hundes seinem Herrchen gegenüber als Verehrung eines gottähnlichen Wesens.
Plausibler klingt eine Beobachtung aus Südafrika: Dort blickt eine bestimmte
Art von Pavianen, gleichgültig was ihre Aufmerksamkeit gerade gefangen hält,
plötzlich zur Sonne auf, sobald diese den Horizont berührt. Ekstatisch bellen
sie den Sonnenball an, bis er völlig verschwunden ist: Äußert sich in diesem
Verhalten eine Art Ehrfurcht vor der übermächtigen Natur? - Spiegel 21/2002
Religion
(2) Der Drang, die Grenzen
ichbewußter Selbstheit zu überschreiten, ist ein Hauptverlangen der Seele.
Wenn es aus irgendeinem Grund Menschen nicht gelingt, durch Andacht, gute Werke
und geistliche Übungen über sich selbst hinauszugelangen, sind sie bereit und
geneigt, auf die chemischen Surrogate für Religion zu verfallen — Alkohol und
Morphium und »Schnee« im heutigen Westen, Alkohol und Opium im Osten, Haschisch
in der mohammedanischen Welt, Alkohol und Marihuana in Mittelamerika, Alkohol
und Coca in den Anden, Alkohol und die Barbiturate in den mehr mit der Zeit
gehenden Gebieten Südamerikas. In Poisons Sacrés, Ivresses Divines hat
Philippe de Félice ausführlich und reich belegt über den seit undenklichen
Zeiten bestehenden Zusammenhang zwischen Religion und den Genuß von Rauschmitteln
geschrieben. Hier, teils zusammengefaßt, teils wörtlich zitiert, seine Schlußfolgerungen:
Die Verwendung toxischer Substanzen für religiöse Zwecke ist »außerordentlich
weit verbreitet ... Die in diesem Buch behandelten Bräuche lassen sich in allen
Teilen der Welt beobachten, bei den Primitiven ebenso wie bei hochzivilisierten
Völkern. Wir befassen uns hier also nicht mit außerordentlichen Tatsachen,
die man berechtigterweise unbeachtet lassen könnte, sondern mit einem allgemeinen
und im weitesten Sinn des Wortes menschlichen Phänomen, der Art von Phänomen,
die niemand unbeachtet lassen kann, der zu entdecken versucht, was Religion
ist und welches die tief empfundenen Bedürfnisse sind, die sie befriedigen muß.« - Aldous Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung.
München 1989 (zuerst 1954)
Religion
(3) Gibt es irgendwelche Vorformen
von Religion bei den nichtmenschlichen Tierarten? Die Antwort lautet nur dann
ja, wenn man von einem Religionsbegriff ausgeht, der weit genug ist, um "abergläubische"
Reaktionen mit zu umfassen. Die Verhaltenspsychologen kennen schon lange das
Phänomen, daß Tiere Reaktionen ausbilden können, die sie irrtümlicherweise mit
einer Belohnungssituation verbinden. So wird zum Beispiel eine Taube in einen
Käfig gesetzt, in den ein automatischer Futterspender in unregelmäßigen Abständen
Nahrungskügelchen wirft. Wenn die Nahrung zufällig gespendet wird, während der
Vogel sich kratzt, fängt er an, sich schneller zu kratzen. Wird die Nahrung
gespendet, während er mit den Flügeln schlägt, fährt der Vogel mit Flügelschlagen
fort, als könne er dadurch den Futterapparat beeinflussen. - (
mensch
)
Religion
(4) Eine Geschichte erzählt uns
von einem legendären sejde (Großvater) in
Schpolle, der den Beinamen eines »Heiligen von Schpolle« trug. Es heißt, er
sei über die Leiden der Juden und die Ungerechtigkeit der Welt so betrübt gewesen,
dass er beschloss, Gott vor Gericht zu stellen. Er bestellte
neun Freunde als Beisitzer und übernahm den Vorsitz im minjen. Dann wurde
Gott in den Zeugenstand gerufen. (Da Gott überall ist, brauchte der sejde
nur die Tür zu schließen.)
Drei Tage und Nächte verhandelte das Gericht. Man verlas die Anklage gegen
den Herrn, brachte Verteidigungsgründe zur Sprache, grübelte lange, betete,
fastete, konsultierte Tora und Talmud. Schließlich verkündeten die Männer das
einstimmige Urteil: Gott war schuldig. Genauer gesagt, Er hatte sich auf zweifache
Weise schuldig gemacht: 1. Er hatte den Geist des Bösen geschaffen, den Er auf
unschuldige und fügsame Leute losließ; 2. Er hatte es offensichtlich versäumt,
die armen Witwen und Waisen mit genügend Nahrung und Unterkunft zu versorgen.
- (
ji
)
Religion
(5) Gründet sich die Religion im Menschen nur auf
ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das
Gefühl seiner Abhängigkeit zu sein, und so wäre der Hund der
beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten in sich und lebt
vornehmlich in diesem Gefühle. - G. W. F.
Hegel
Religion
(6) Ich glaubte manchmal an Gott,
den allmächtigen Vater, Schöpfer
Himmels und der Erden. Während der Messe wartete ich auf die Bewegungsänderungen,
vor dem Evangelium auf das Aufstehen, vor der Predigt auf das Sitzen, vor der
Wandlung auf das Knien. Als der Bischof der Diözese zu Besuch in das Internat
kam, trat er im Studiersaal sofort auf mich zu und erkundigte sich nach meinem
Namen. Weil meine Mutter ein Kind erwartete, gelobte ich vor dem EWIGEN LICHT,
sollte alles gut ausgehen, würde ich wirklich Priester werden. Ich begann gern
zur Beichte zu gehen und erfand Sünden. Der Kardinal
von Ungarn mußte vor den Kommunisten in der amerikanischen Botschaft ZUFLUCHT
suchen. Ich lernte die Namen aller Bücher des Alten Testaments und die Bauart
des Tempels Salomons. Wenn ich die Hostie mit den Zähnen
berührte, erschrak ich. Ein aus China vertriebener Missionar berichtete von
den Leiden der Europäer dort und zeigte Lichtbilder. Martin Luther,
so wurde uns erzählt, lebte mit einer dem Kloster entsprungenen Nonne zusammen.
Ich übersetzte die Passionsgeschichte aus dem Deutschen
ins Lateinische zurück. Allmählich konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie
die Hölle beschaffen war. Im Bett, wenn ich mir Bilder
von nackten Frauen vorstellte, betete ich unablässig das VaterunserderdubistimHimmel,
zu dem mir keine Bilder einfielen. Ich schrieb ein Gedicht auf die Muttergottes.
Als man uns sagte, daß vor Gott alle Menschen gleich seien, Weiße, Neger, Juden,
Chinesen, kam mir der Gedanke, ob dieser Satz nicht
eigentlich erst den Gegensatz dieses Satzes möglich mache. Im Jahr neunzehnhundertsiebenundfünfzig
hatte ich Angst vor dem Samstagnachmittag, an dem wir
in der finsteren Kirche knieten und den Rosenkranz beteten. - Peter Handke,
Ein autobiographischer Essay. In: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt
am Main 1972 (st 56)
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