ünde Aus der Innentasche seiner Soutane zog der Prediger eine Uhr ohne Kette, sah kurze Zeit schweigend auf ihr Zifferblatt, legte sie dann leise vor sich auf den Tisch.

Ganz ruhig begann er zu sprechen:

»Adam und Eva, meine lieben Knaben, waren, wie ihr wißt, unsere Stammeltern, und ihr wißt auch, daß sie von Gott geschaffen wurden, damit sie die Sitze im Himmel, die nach dem Sturz des Luzifer und seiner aufrührerischen Engel frei geworden waren, einnähmen. Luzifer, so wird berichtet, war ein Sohn des Morgens, ein strahlender und mächtiger Engel; aber er fiel; er fiel, und mit ihm fiel ein Drittel der himmlischen Heerscharen; er fiel und wurde mit seinen aufrührerischen Engeln in die Hölle gestoßen. Welches seine Sünde war, können wir nicht sagen. Die Gottesgelehrten meinen, es sei die Sünde des Stolzes, der sündige Gedanke, der in einem Augenblick empfangen wurde: non serviam. Ich werde nicht dienen. Dieser Augenblick war sein Untergang. Er beleidigte die Majestät Gottes durch den sündigen Gedanken eines Augenblicks, und Gott stürzte ihn für alle Ewigkeit aus dem Himmel in die Hölle- James Joyce, Jugendbildnis des Dichters. Frankfurt am Main 1967 (zuerst 1916)

Sünde (2)  Meine Mutter erzählte gern, daß die Lehrerin, als sie die Grundschule besuchte, in der ersten Klasse gefragt hatte, welche Berufe die Väter ihrer Schülerinnen hätten. Alle Mädelchen berichteten getreulich, und eins von ihnen sagte brav: Mein Papa ist Kackeräumer. Und das war Herr Ruzicka auch, sein ganzes Leben lang leerte er kübelweise die Aborte der Leute und nahm deshalb jedes Haus in Nymburk, aus dem er die Fäkalien in zwei Kübeln heraustrug, um sie in eine Tonne zu kippen, jedes dieser Häuser nahm Herr Ruzicka nur nach der Zahl der Fäkalienkübel wahr. Und so sah er schließlich auch den Einwohnern an, ob sie in ihren Gedärmen einen halben Kübel oder einen ganzen Kübel Kacke hatten. Die Eimer brachten Herrn Ruzicka zum Trinken, und so machte ihn das Kübelschleppen zum Säufer. Erst mit der Zeit wurde mir klar, daß Herr Ruzicka im Grunde eine Art Priester war, nicht anders als jener, der den Gläubigen und mir die Beichte abnahm, und ging ich zur Beichte und zählte meine Sünden auf, die ich mir aufschreiben mußte, wie auch meine Mama sich immer vor dem Einkaufen alles aufschreiben mußte, um nichts zu vergessen, und las ich dann meine Sünden dem lauschenden Ohr des Katecheten Niki vor, der in einer lattenvergitterten kleinen Laube saß, trat mir jedesmal Herr Ruzicka vor Augen, der die Fäkalienkübel aus den Häusern trug, und so kam mir wiederum der Herr Dekan Niki, dem ich meine kindlichen Sünden nannte, wie Herr Ruzicka vor... Und so war Herr Ruzicka von seiner gottgefälligen und notwendigen Arbeit betrunken, ja, manchmal trank er schon vor der Arbeit, und nicht selten passierte es ihm, daß er im vollen Wirken, wenn er die tyrannischen Kübel aus dem Höfchen trug, im Hausflur ausrutschte und hinfiel; er spreizte sich in dem beschmadderten Flur und lag auf dem Bauch, die Hände in der verplemperten Scheiße, und philosophierte dabei auch noch, so wie es ihm die Vorstellung von seinem fast priesterlichen Geschick eingab. So habe ich ihn vor der Kneipe Zum Jeseniky-Schulzen gesehen, Herr Ruzicka, der sich eben erst im Flur, in dem er hingefallen war, erhoben hatte, stand da und zeigte den Leuten seine Hände und Kleider und Knie und grübelte laut: Die Leute scheißen, und wer hat's für sie wegzuschaffen - ich... Diese Erkenntnis blendete ihn, doch die Leute begriffen nicht, was er sagte, und rissen vor ihm aus, weil er so mörderisch stank... Als Junge hatte ich immer das Gefühl, wenn ich in der Pfarrei war und wenn ich dem Herrn Dekan begegnete und wenn ich zum katholischen Religionsunterricht in die Schule ging, daß auch der Herr Dekan von all den Beichten nach Scheiße roch, denn ich sah die menschlichen Sünden als Scheiße an und machte mir vor der Beichte manchmal aus Angst in die Hosen.  - Bohumil Hrabal, Gotteskinder. In: Ders., Leben ohne Smoking. Frankfurt am Main 1993 (BS 1124, zuerst 1986)

Sünde (3)  »Du hättest dich nicht als Mrs. Hawk ausgeben dürfen«, sagte der rechtmäßige Träger dieses Namens, »du bist als Miss Turner aus Canton, Ohio, angemeldet.«

»Sollen sie vielleicht glauben, ich lebe mit dir in Sünde?« fragte Meg empört.

»Ist es etwa nicht so?« erwiderte Hunter.

»Was ist Sünde?« erkundigte sich Venus.

»Beinahe alles, was sich lohnt zu tun«, erwiderte Mr. Hawk und ließ sich in einen tiefen Sessel sinken, »das Wort Sünde bedeutet Ihnen natürlich nichts. Meg auch nicht, aber sie tut gerne so, als sei es anders.«

»Sünde«, meldete sich überraschenderweise Betts zu Wort, »ist, wenn man vergißt, die Vorhänge zuzuziehen.« »Ah«, rief Merkur, »ich verstehe. Es ist so ähnlich, als ob man die Tür nicht abschließt.«

»Oder die falschen Sandalen greift, wenn man durch das Schlafzimmerfenster springt«, fügte Apollo verträumt hinzu. »Ach das ist es!« sagte Venus, und ihr Gesicht hellte sich auf, »wenn Sie mich fragen, ich finde Sünde schön. Ich würde gern in Sünde leben.«

»Du hast nie etwas anderes getan«, erklärte Diana schnippisch. »Warum müssen wir die Vergangenheit aufwärmen ?« fragte Venus lustlos, »kann ein Mädchen keinen Ton sagen, ohne daß jemand persönlich wird?«

»Welches Mädchen?« erkundigte sich Apollo. »Alle«, erwiderte Venus, »aber es ist eigentlich nicht wichtig. Wechseln wir das Thema.«  - (goetter)

Sünde (4) Bellamys Frau heißt Odette, und ihr Mädchenname ist Godreau. Ihre Mutter kommt aus ziemlich guter Familie, Tochter eines Marineoffiziers, glaube ich. Sie war und ist noch eine sehr schöne Frau. Zwanzig Jahre lang war sie für Les Sables die Sünde schlechthin. Ich weiß nicht, ob Sie jemals in der Provinz gelebt haben und mich verstehen können. Sie war nicht verheiratet. Sie ließ sich aushalten. Nacheinander von zwei oder drei reichen Herren, unter anderem von Monsieur Lourceau, den Sie im Café gesehen haben. Wenn sie vorüberging, bewegten sich die Vorhänge. Gerührte Gymnasiasten und verheiratete Männer blickten sich nach ihr um. Wenn sie ein Geschäft betrat, verstummten die Gespräche und die Damen nahmen eine steife Haltung an. - Georges Simenon, Maigret nimmt Urlaub. München 1973 (Heyne Simenon-Kriminalromane 17, zuerst 1947)

Sünde (5)

Die Sünde nach Franz von Stuck

- Franz von Stuck

Sünde (6)  »Dann sind Sie also der Meinung, daß es sich bei der Sünde um eine gleichsam esoterische, okkulte Veranstaltung handelt?«

»Ja, sie ist ein Wunder der Hölle, so wie die Heiligkeit ein Wunder des Himmels ist. Dann und wann erhebt sie sich zu solchen Höhen, daß wir nicht einmal ihre Existenz bemerken - sie ist dann, wie der Ton der größten Orgelpfeifen, so tief, daß wir ihn nicht mehr wahrnehmen können. In anderen Fällen mag sie in die Irrenanstalt führen oder an noch weit seltsamere Orte.« - Arthur Machen, Die weißen Gestalten, in: A.M., Die leuchtende Pyramide. Frankfurt am Main 1982

Sünde (7)  Im Alter von sechs Jahren wollte ich Koch werden. Mit sieben wollte ich Napoleon sein. Und mein Ehrgeiz ist seither stetig gewachsen.

Stendhal zitiert irgendwo die Äußerung einer italienischen Prinzessin, die an einem heißen Abend mit größtem Behagen Eis aß. »Zu schade, daß das keine Sünde ist«, rief sie. Als ich sechs war, war es für mich Sünde, Speise jeder Art in der Küche zu essen. In diesen Teil des Hauses zu gehen, war eines der wenigen Dinge, die meine Eltern mir kategorisch verboten hatten. Stundenlang stand ich mit wäßrigem Mund herum, bis ich die Gelegenheit erblickte, in den Ort des Entzückens vorzuschleichen; und während die Mädchen zusahen und vor Vergnügen schrien, schnappte ich mir ein Stück rohes Fleisch oder einen gegrillten Champignon, woran ich fast erstickte, was aber für mich den berauschenden Geschmack des Wunderbaren hatte, den nur Furcht und Schuld zu gewähren vermögen.   - (dali)

Sünde (8)  In Bombay steht nahe beim TOR INDIENS eine Statue Vivikanandas, dieses dickleibigen und anständigen Propheten und auf dem Sockel ein Zitat: »Ihr Gottheiten dieser Erde! Sünder! Sünde ist es, den Menschen so zu nennen; eine Verleumdung des Menschengeschlechts. Erhebt euch, ihr Löwen, schüttelt ab die Täuschung. Keine Schafe seid ihr; sondern unsterbliche Seelen, ewige und heilige Geister; keine Materie, keine Körper; die Materie ist eure Dienerin, nicht ihr die Diener der Materie.«

Schön, oder? Entbehrt nicht der Feinheiten; aber wie soll ich sagen, ein bißchen zuviele Ausrufesätze.   - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)

Sünde (9)  

Sünde (10), so wie sie jetzt überall empfunden wird, wo das Christentum herrscht oder einmal geherrscht hat: "Sünde" ist ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum darauf aus, die ganze Welt zu "verjüdeln". Bis zu welchem Grade ihm dies in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem Grade von Fremdheit, den das griechische Altertum - eine Welt ohne Sündengefühle - immer noch für unsere Empfindung hat, trotz allem guten Willen zur Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete einzelne nicht haben fehlen lassen. "Nur wenn du bereuest, ist Gott dir gnädig" - das ist einem Griechen ein Gelächter und ein Ärgernis: er. würde sagen "so mögen Sklaven empfinden". Hier ist ein Mächtiger, Übermächtiger und doch Rachelustiger vorausgesetzt: seine Macht ist so groß, daß ihm ein Schaden überhaupt nicht zugefügt werden kann außer in dem Punkte der Ehre. Jede Sünde ist eine Respekts-Verletzung, ein crimen laesae majestatis divinae - und nichts weiter! Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen - das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft: Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes, wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das einen Menschen nach dem anderen wie eine Krankheit faßt und würgt, - das läßt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert: Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit! - wem er seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde. Gott und Menschheit sind hier so getrennt, so entgegengesetzt gedacht, daß im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt werden kann, - jede Tat soll nur auf ihre übernatürlichen Folgen hin angesehen werden, nicht auf ihre natürlichen: so will es das jüdische Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist. Den Griechen dagegen lag der Gedanke näher, daß auch der Frevel Würde haben könne - selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Abschlachtung von Vieh als Äußerung eines wahnsinnigen Neides, wie bei Ajax: sie haben in ihrem Bedürfnis, dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben, die Tragödie erfunden - eine Kunst und eine Lust, die dem Juden trotz aller seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabenen im tiefsten Wesen fremd geblieben ist.  - Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Verbot
Synonyme