eimat  »Glaube, wer es geprüft! nämlich zu Haus ist der Geist / Nicht am Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat, / Kolonie liebt und tapfer Vergessen der Geist- Friedrich Hölderlin

Heimat (2) Im November 1727 verwüstete ein Erdbeben von unvorstellbarer Stärke weite Regionen Zentralasiens. Ganze Städte wurden in einem einzigen Augenblick hinweggefegt, und es gab Millionen von Toten (dreihunderttausend allein in der Region Kalkutta). Diese Naturkatastrophe löste vermutlich den Beginn der Diaspora von Rattus norvegicus aus. Es gibt viele Motive, die die Tiere dazu gebracht haben könnten, ihre unterirdischen Städte mit den endlosen labyrinthischen Gängen zu verlassen, in denen sie seit undenklichen Zeiten gelebt hatten. Der Einbruch dieser Tunnel und das reichliche Vorhandensein von Nahrung in Form der vielen Kadaver, die in der Folge des Erdbebens wahrscheinlich überall verstreut lagen, sind zwei der möglichen Gründe. Das Verlassen der unterirdischen Städte kann jedoch schon vor dem Beben stattgefunden haben, denn Mäuse und Ratten haben die Fähigkeit, das Herannahen von Erdbeben und anderen Katastrophen zu »spüren«.

Was immer die ursprünglichen Gründe waren — einmal an die Oberfläche gekommen, vermehrten sich die Ratten jedenfalls in maßloser Weise, bildeten riesige Migrationsverbände und machten sich auf den Marsch nach Europa. Im Sommer 1727 passierten sie die Gebiete nördlich des Kaspischen Meeres, erreichten die Wolga und überquerten sie schwimmend auf der Höhe von Astrachan, wobei sie enorme Verluste erlitten.

Alexis Turgai, ein russischer Chronist aus dieser Epoche, schreibt: »Vor mir tauchte plötzlich ein riesiges Feld in Bewegung auf, ein Feld aus Rattenkadavern, das der Strom nach Süden führte.« Doch das Heer der Ratten gab nicht auf: Nach der Überquerung der Wolga fiel es in der Ukraine ein und durchschwamm den Dnjepr, dabei eine weitere Dezimierung erleidend, Als die übriggebliebenen Ratten ihr unaufhaltsames Vorrücken fortsetzten, war es Winter, und die Wasser des Bug und des Dnjestr hatten sich in weite Eisflächen verwandelt und stellten keine tödlichen Fallen mehr dar.

Im Jahr 1740 hatten die Ratten schon ganz Rußland eingenommen; 1753 erreichten sie Paris; 1803 fielen sie auch in die Schweiz ein. Um 1850 ist ganz Europa besetzt, und es gibt viele und beeindruckende Beschreibungen von Zeitzeugen über diese hungrigen Horden, die in jeden Winkel strömen: »In Byorstargraad (einem Dorf in der Nähe von Tirana, im Jahr 1839) kam der schwarze Fluß bei Sonnenuntergang an. ... Nichts konnte ihn aufhalten ... , weder die tosenden Sturzbäche, noch die schweren Pforten des Klosters. ... Wer nicht mit den anderen auf den Berg steigen wollte und glaubte, dem Tod zu entgehen, indem er sich hinter seiner Haustür verbarrikadierte, wurde am nächsten Tag als Skelett aufgefunden ... so war es auch in der Garnison von Syofock-Bargreb.... Ich hätte keinen Moment an diese Verheerungen geglaubt, wenn ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.« Der Naturforscher Helms bestätigt: »Mein Schwager traf einmal in der Umgebung von Fordon, an einem schönen Herbstmorgen, auf eine Schar dieser umherziehenden Ratten, die ohne Zweifel aus mehreren tausend Tieren bestand.« Und der Naturforscher Buffon fügt betrübt hinzu: »Es sind jetzt schon fast neun oder zehn Jahre, daß diese Art sich in der Gegend von Paris ausbreitet. Man weiß nicht genau, wo diese Tiere hergekommen sind, aber sicher ist, daß sie sich in unglaublicher Weise vermehrt haben.«

Die großen Städte bildeten schließlich das Ziel der Wanderratten (Rattus norvegicus), genauer gesagt die städtischen Abwasserkanäle, in denen die Tiere vielleicht die unterirdischen, feuchten Gänge wiederzufinden glaubten, die ihre Vorfahren vor langer Zeit im fernen Asien verlassen hatten. - Aus: Francesco Santoianni, Von Mäusen und Menschen. München 1998 (Serie Piper 2594, zuerst 1993)

Heimat (3)  Das Wiedersehen mit den Tropen hat einen archaischen Zug, nicht in welt-, sondern in erdgeschichtlichem Sinn: halb wehmütig, halb träumend, als hätte so einmal die Heimat ausgesehen. Wo der Kakaobaum sich wohlfühlt, ist das vegetative Behagen groß. Das Blatt der Banane, mächtig und doch noch fast gelb, muß über Nacht emporgeschossen sein. Musa paradisiaca. Der Hibiskus, größer, als ich ihn jemals gesehen hatte; die roten Blätter falteten sich zu Schüsseln aus. Ähnliches galt für die Königspalme, den Bambus, das Indische Blumenrohr. An den Hängen zogen sich in der gärenden Erde dicht an dicht die Bananen empor. Vor den Villen ihre beiden Verwandten: die papageienköpfige Strelitzia und mit seinem Riesenfächer der Baum der Reisenden. Bei diesem »Es werde!« muß Jehova in bester Laune gewesen sein. - Ernst Jünger, Siebzig verweht I. Stuttgart 1980 (22. Oktober 1966)

Heimat (4)  In Brüssel in der Rue haute gab es die schmutzigste Penne der Welt. Sie hieß "Herberge zur Heimat". Die Eigentümerin war eine ausgediente deutsche Prostituierte. Sie war schrecklich lumpig gekleidet und hatte auffallend viele Goldzähne. In den kleinen Zimmerchen hausten die Menschen auf der Erde auf Strohsäcken. Der berühmteste Typus war ein 82jähriger blinder Bettler, der einst Börsianer gewesen sein soll, und der ungeheuer viel pikante Witze erzählen konnte. Von ihm konnte man am besten erfahren, wie man im schwarzen Topf dalfen muß. Er lebte mit einer hinkenden Tippelschickse, die einst Artistin gewesen war, zusammen. In dieser Brüsseler Penne schliefen oft zwei Menschen auf einem einzigen Strohsack. Der Sack hatte einen unheimlich faulenden Geruch. - (szi)

Heimat (5)    Die Heimat, das bedeutet: von Zeit zu Zeit eine Minute Rührung, aber doch nicht dauernd. - Jules Renard
 

 

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Unterbegriffe

Mulm {?}

VB
MutterspracheKindheitWehmut

Synonyme