tadt
Was die Stadt Homs angeht, so stinkt sie, wie Emesa einst stank, denn da liebt,
schlachtet und scheißt man im Freien. Und die Konditoreien neben den Latrinen
wie die ritueller Schlachthäuser neben den anderen Schlächtereien. All das schreit,
entleert sich, liebt, verspritzt Gift und Sperma wie unsereins ausspuckt. -
Antonin Artaud, Heliogabal oder Der
Anarchist
auf dem
Thron
. München, Frankfurt
am Main 1980 (zuerst 1967)
Stadt (2) Ich bin jetzt die Stadt: ein weiter,
aus Gliedern konstruierter horizontaler Raum; eine alte,
vergammelte, ausgediente Stadt: zerfallene Hallen, gestürzte Gerüste, demolierte
Domizile, verhexte Sexgäßchen. Schartige Straßen führen von einem gelichteten
Friedhof zu den hohen dunklen Mauern eines Richtplatzes, wo sich Galgen, Ketten,
Peitschen, Pranger und Richtblöcke aneinanderreihen. Halbverfallene Gefängnisse
halten Bluttäter, Lügner, Betrüger und Diebe in Gewahrsam. In schwarze Priestermäntel
gehüllte Männer flüstern von zu brechenden, gebrochenen und verletzten Gesetzen,
verbrechenbewährte Männer verstellen ihre Stimme
und geben sich als spitzfindige Erläuterer zweideutiger Gesetze aus; und ich
erkenne meine Stimme in diesen und jenen. Aufgeworfene Pflastersteine bringen
bescheidene und kühne Kuppler zu Fall - wachsame Sachverständige für Lüsternheit,
Leichtfertigkeit und gelehrte Liebestollheit; sie verführen vortreffliche Väter
verkümmerter Kinder - Symbole einer aussterbenden Rasse; sie verleiten geistvolle
Theologen, Meister im Erkennen der Eigenschaften des
Nichts, strenge Gesetzgeber für die okkulten Ausscheidungs- und Lustorgane;
sie locken langgliedrige, blaßhäutige, magere, halb keusche halb lasterhafte
Knaben an. Ein paar von diesen Kupplern mit irgendeiner wenn auch schludrigen
Doktrin geben sich als Theologen des Teufels aus. Sie
erläutern die unterweltlichen Abenteuer der im Laster verblaßten Seelen, sie
unterstützen die Wahl der Qualen für die in vergeblichen Verhandlungen mit dem
anspruchsvollen Samen verstrickten Männer, die verlogenen
Gefolgsleute aus Liebe zur mentula, die aus dem cunnus casa und ecclesia und
aus dem Loch der Verkündigung eine keusche Katakombe
gemacht haben. In schönen Sätzen beschreiben sie, wie man die
Liebhaber der Liebesmädchen ausnimmt, und die Lüsternen lauschen und wählen
sich lüstern die Lage, die ihrer Phantasie von der
ewigen Qual am besten entspricht. Jeder für sich stellt sich den feurigen Schacht
und die Nacht vor, wo er ewig und ohne zu sterben dahinstirbt. Die philosophischen
und redegewandten Kuppler sind nüchterne Verwalter von Huren, Hetären
und Vulvenhändlerinnen - allesamt fromme Töchter
der Verdammnis und zugleich demütige Dienerinnen des gesichts- und gliedlosen
Höchsten - pedantische Priesterinnen der Sünde, aber sonst völlig ohne Arg,
das sie ganz und gar den Kupplern überlassen, unter denen sich nicht selten
Priester und angesehene Antithetiker finden. In ihren Körpern ist eine Süße
- die Süße des befleckten Leichnams, auf den sich die Seele
stützt, wenn sie die Riten der Schuld rezitiert. Die warmen schmeichelnden Stimmen
der Kuppler vermischen sich mit den heisernen Wachträumereien der in Gedanken
an die versiegelte Keuschheit des Skeletts versunkenen
Frauen. Hier gibt es keine Leidenschaften. Aber anderswo bedrängen vom Warten
verzehrte Männer wollüstige vom Wollen zermürbte Frauen - beide gealtert durch
verharschtes Verliebtsein und die Angst vor dem Tod, die der Hoffnung auf eine
gemeinsame Hölle in liebevollem Feuer vorausgeht. Die
Fremdenführer zeigen den Touristen rostrote Streifen vergänglicher Flammen auf
glatten und bröckeligen Mauern - todsichere Zeichen für große und verhinderte
Lieben. Zu Tode erschöpfte, von zärtlichem und vergeblichem
Verlangen zermürbte Liebende werfen zitternd und zagend ihre Seelen fort - kurzlebige
Körperchen, die das ›Für immer‹ flüstern - und haben nur noch den einen Wunsch,
der Nacht ihr unkeusches Geflüster zu entziehen. - (
hoelle
)
Stadt (3) Urbanität ist eine Form der Gesittung,
die gar nicht natürlich sein oder werden kann, weil das Städtische und das Natürliche
einander ausschließen. Über die Qualität ist damit nichts gesagt, obwohl viele
mit der Bibel geneigt sind, in der Stadt die Wurzel allen Übels zu sehen - oder
auch: die Stadt aus der Wurzel aller Übel, der Seßhaftigkeit von kainitischer
Art, hervorgehen zu lassen. Der Brudermord steht am Anfang
der Vorgeschichte der Stadt - aber wohl doch auch der Vatermord
am Anfang der Vorgeschichte horden- und nomadenhafter
Naturtriebhaftigkeit? - (
blum
)
Stadt (4) Einst war im Lande der Romäer
eine Königsstadt, die Lebta genannt wurde; und in ihr war eine Burg, die immer
verschlossen gehalten wurde. Jedesmal, wenn ein König starb und ein anderer
romäischer König ihm auf dem Throne folgte, so legte er ein neues, festes Schloß
davor, bis vierundzwanzig Schlösser vor dem Tore lagen, von jedem König ein
Schloß. Nach dieser Zeit aber bemächtigte sich der Herrschaft ein Mann, der
nicht aus dem Königshause stammte; der wollte jene Schlösser öffnen, um zu sehen,
was in der Burg wäre. Die Großen des Reiches suchten ihn daran zu hindern, sie
rieten ihm davon ab und hielten ihn zurück, aber dennoch weigerte er sich und
sprach: .Diese Burg muß geöffnet werden.' Nun boten sie ihm alles, was sie an
Geld und an kostbaren Schätzen besaßen, damit er die Burg nicht öffne; aber
er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. - -« Da bemerkte Schehrezâd,
daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die
Zweihundertunddreiundsiebenzigste Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist
mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Großen des Reiches jenem
König alles boten, was sie an Geld und Schätzen besaßen, damit er die Burg nicht
öffne; aber er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, sondern er riß
die Schlösser herunter, öffnete das Tor und fand in der Burg Bildnisse von Arabern:
die waren beritten auf Rossen und Kamelen, trugen Turbanbinden, die lang herabhingen,
waren mit Schwertern gegürtet und hielten die langen Lanzen in der Hand. Auch
fand er dort ein Schriftstück; das nahm er und las es, und er sah, daß in ihm
geschrieben stand: ,Wenn dies Tor geöffnet wird, so wird eine Araberschar dies
Land erobern, die so aussieht wie in diesem Bildnisse;
drum hütet euch, und noch einmal hütet euch, das Tor zu öffnen!' Nun lag jene
Stadt in Andalusien, und in eben jenem Jahre, unter dem Kalifen el-Walîd ibn
'Abd el-Malik aus dem Stamme der Omaijaden, fiel sie in die Hände des Târik
ibn Zijâd. Der bereitete jenem König einen schmählichen Untergang, plünderte
sein Land, nahm die Frauen und Kinder dort gefangen und machte große Beute an
Geld und Gut. Denn er fand dort unermeßliche Schätze, mehr als hundertundsiebenzig
Kronen aus Perlen, Hyazinthen und anderen Edelsteinen. Auch fand er dort einen
Saal, in dem Reitersleute mit Speeren werfen konnten und der voll war von goldenen
und silbernen Geräten, wie sie keine Schilderung beschreiben kann. Ferner fand
er den Speisetisch des Gottespropheten Salomo, des Sohnes Davids - über beiden
sei Heil! -, der, wie erzählt wird, aus grünem Smaragd ist und noch jetzt in
der Stadt Rom vorhanden sein soll; auf ihm standen Gefäße aus Gold und Schüsseln
aus Chrysolith. Und ebenso fand er ein Buch der Psalmen, das in griechischer
Schrift auf goldene Blätter geschrieben und mit Edelsteinen besetzt war; ferner
ein Buch mit einer Beschreibung der nützlichen Eigenschaften von Steinen und
Pflanzen und Mineralien und der Talismane und der alchimistischen Wissenschaft
von Gold und Silber; dazu ein Buch, in dem die Kunst, Hyazinthe und andere Edelsteine
in Formen zu schmelzen, und die Bereitung von Giften und Gegengiften beschrieben
war; endlich auch eine Karte von der Erde, den Meeren, den Ländern, Städten
und Dörfern. Ferner fand er einen großen Saal voll von Elixier, von dem ein
Dirhem tausend Dirhem Silber in reines Gold verwandeln kann; dazu einen großen,
runden, wunderbaren Spiegel aus gemischten Metallen,der
für Salomo, den Sohn Davids - über beiden sei Heil! - gemacht worden war, und
in dem jeder beim Hineinschauen die sieben Klimate der Welt mit eigenen Augen
sehen konnte; und schließlich fand er noch einen Saal, in dem so viele Karfunkelsteine
waren, daß niemand sie beschreiben und keine Kamelslast sie umfassen konnte.
Alle diese Dinge sandte er an el-Walîd ibn 'Abd el-Malîk. Und die Araber breiteten
sich in den Städten Andalusiens aus, das eines der herrlichsten Länder ist.
Dies ist der Schluß der Geschichte von der Stadt Lebta. - (
1001
)
Stadt (5) Tatsächlich, dort, unter meinen Augen, erschien eine verwüstete, untergegangene Stadt, mit eingestürzten Dächern, zerstörten Tempeln, eingefallenen Toren, gebrochenen Säulen, aus denen man noch die gediegenen Proportionen einer Art toskanischer Architektur erahnte; etwas weiter entfernt die Reste eines gigantischen Aquädukts; hier die verschlammte Erhebung einer Akropolis mit den meßenden Formen eines Parthenon, dort Spuren einer Mole, als hätte ein antiker Hafen an den Gestaden eines verschwundenen Ozeans den Kauffahrteischiffen und Kriegstriremen ehemals Schutz geboten; noch weiter hinten zeichneten sich die langen Linien eingefallener Mauern und breiter, verlassener Straßen ab - ein ganzes versunkenes Pompeji, das Kapitän Nemo vor meinen Augen aufsteigen ließ!
Wo war ich? Wo war ich nur? Ich wollte es um jeden Preis wissen, ich wollte reden, ich wollte die Kupferkugel abreißen, die meinen Kopf umschloß.
Aber Kapitän Nemo trat auf mich zu und gebot mir mit einer Gebärde Einhalt. Dann bückte er sich, hob ein Stück Kreidestein auf, ging auf einen schwarzen Basaltfelsen zu und schrieb dieses einzige Wort:
Wie ein Blitz durchruhr mich die Erkenntnis! Atlantis, die alte Hauptstadt
von König Theopompes, das Atlantis Platos, dieser Kontinent, der geleugnet wird
von Origenes, Porphyrios, Iamblichos, d'Anville, Malte-Brun, Humboldt, die
seinen Untergang ins Reich der Sagen wiesen; Atlantis, an das Possidonius, Plinius,
Tertullian, Ammianus Marcellinus, Engel, Sherer, Tournefort, Buffon, d'Avezac
glaubten - dieses Atlantis hatte ich vor Augen, und es trug noch die unwiderleglichen
Spuren seiner Katastrophe! In dieser versunkenen Landschaft außerhalb Europas,
Asiens, Libyens, jenseits der Säulen des Herkules, hatte das mächtige Volk der
Atlantiden gelebt, gegen das das alte Griechenland seine ersten Kriege geführt
hatte.
- Jules Verne, Zwanzigtausen Meilen unter Meer. Zürich 1976 (zuerst 1870)
Stadt (6) Die eigenartige Schönheit dieser Stadt hat es mir angetan. Gestern war herrlichstes Wetter, und die Stelle, von der aus ich das Meer entdeckte, die Bastionen, die Berge, die Stadt, bietet einen erstaunlichen Anblick. Aber vor allem bin ich von Frau von Montfuron entzückt. Sie ist liebenswürdig, und man schließt sie sofort ins Herz. Gestern kamen eine Menge Kavaliere, um Herrn von Grignan bei seiner Ankunft zu begrüßen, darunter bekannte Namen, wie Saint-Herem; dann aber auch Abenteurer mit Degen und schwungvollen Hüten, Leute wie auf Bildern von Krieg, oder aus Romanen, geschaffen, sich einzuschiffen auf Abenteuer mit Eisen, Ketten, Sklaven, Geknechteten, Gefangenen. Mich, die ich Romane liebe, hat das alles begeistert.
Der Bischof von Marseille kam gestern abend, wir essen heute bei ihm. Wirklich, wir sind wie zwei Finger einer Hand!
Heute ist Teufelswetter, zu traurig. Wir werden weder das Meer, noch Galeeren,
noch den Hafen sehen. Ich bitte Aix um Entschuldigung, aber Marseille gefällt
mir besser. Es ist im Verhältnis bevölkerter als Paris. Hunderttausend Seelen
wohnen in dieser Stadt. Wie viele davon schöne Seelen sind, das zu zählen hatte
ich keine Zeit. Die Atmosphäre im allgemeinen ist ein wenig schurkisch. - (
sev
)
Stadt (7) Die Stadt bietet sich dar
als symbolischer, magischer Ort, als eine Buchseite, die nach Deutung heischt,
als Gewebe von Bedeutungen, Anspielungen, Phantasien; eine Stadt ist ein geheimer
Ort, wo eine vom Schimmel zerfressene Mauer, ein hinfälliger Bau, ein endloser
ungepflasterter Platz, den Pfützen und starre Grasbüschel durchlöchern, eine
verborgene Geschichte erzählen: ein Märchen, in dem Schrecken und Glanz beharrlich
beieinander wohnen. -
Manganelli furioso. Handbuch für unnütze Leidenschaften. Berlin 1985
Stadt (8) Die Stadt nährt eine
Brut von Arschlöchern, die Stadt züchtet Arschlöcher, die von sich selbst überzeugten
Arschlöcher der ganzen Welt konzentrieren sich in den Städten. Die Städte wachsen
und wachsen, so wie eine Mistkugel, die ein Mistkäfer vor sich hinwälzt, größer
und größer wird. Erst überschreitet sie eine Bevölkerung von einer Million,
dann von zehn Millionen, dann hat sie eine Million Jahre erreicht, dann zehn
Millionen. So hat man schließlich den Anschluss erreicht, Stück für Stück und
Abschnitt für Abschnitt verbinden sich Arschlöcher mit Arschlöchern, bis die
ganze Welt ein Riesenarschloch ist. - Xu Xing,
Süddeutsche
Zeitung
vom 5. Januar 2007
Stadt (9)
Die Stadt Ein weißer Vogel ist der große Himmel. Griesgrämig glotzt ein dünner Droschkenschimmel. In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du,
ach, du – Drei kleine Menschen spielen Blindekuh – |
Stadt (10) Die Küchendünste sämtlicher Länder hängen über der City und mischen sich mit dem würzigen Geruch von Opium und Haschisch, dem harzigen roten Rauch der Feuerstellen von Dschungelbewohnern, salzigem Fischgeruch und dem Gestank von fauligem Flußwasser, eingetrocknetem Kot und Schweiß und Genitalien. Die heiseren Klänge von Bambusflöten aus den hohen Bergen, Jazz und Bebop und einsaitige mongolische Instrumente und Zigeuner-Cymbals und arabische Sackpfeifen.
Die City wird immer wieder überrollt von Epidemien der Gewalt, und die Toten bleiben auf den Straßen liegen und werden von Aasgeiern gefressen. Friedhöfe und Beerdigungen werden nicht zugelassen. Albinos blinzeln in der Sonne, Jungs hocken träge onanierend in den Bäumen, halb zerfressene Aussätzige spucken Passanten an und beißen sie und werfen mit Eiter und Schorf und diversen Vektoren um sich (Ungeziefer, das Krankheiten überträgt), in der Hoffnung, jemanden anstecken zu können.
So oft du nach einem fürchterlichen Besäufnis aus deiner Bewußtlosigkeit erwachst, hockt an deinem Bett unweigerlich so ein aussätziger Bürger ohne Gesicht, der die ganze Nacht seine Phantasie strapaziert hat, wie er dich am besten anstecken kann. Doch keiner weiß, wie diese Krankheiten übertragen werden, oder ob sie überhaupt ansteckend sind. Die zerlumpten Aussätzigen hausen in einem Gewirr von Höhlengängen unter der City und schnalzen überall aus der Erde; oft stemmen sie sich sogar mitten in einem überfüllten Cafe durch den Bretterfußboden.
Rätselhafte Gestalten, die Etruskisch palavern, gehen hartnäckig einem längst
vergessenen Gewerbe nach; Jun-kies, süchtig nach Drogen, die noch niemand erforscht
hat; Pusher, die künstlich aufgeputschtes Harmalin an den Mann bringen; Junk,
reduziert auf die nackte Substanz der Sucht, die dem Opfer die ebenso prekäre
wie heitere Gelassenheit einer Pflanze verschafft; Flüssigkeiten, die einen
zum Latah machen; Antibiotika mit unbekannten Zusätzen; tithonisches Serum,
das als lebensverlängernd angepriesen wird; Schwarzmarkthändler des 3. Weltkriegs;
Marktschreier, die Heilmittel für Strahlenkrankheiten feilbieten ; Kriminalbeamte
auf der Fährte von Unschuldigen, die von hochgradig paranoiden Schachspielern
denunziert wurden; Richter, die in der unleserlichen Geheimschrift der Hebephrenie
lückenhafte Haftbefehle ausstellen, in denen von unaussprechlichen Verstümmelungen
des menschlichen Geistes die Rede ist; Bürokraten, beschäftigt in Behörden,
die für immer unsichtbar bleiben; ausführende Organe geheimer Polizeistaaten;
eine verzwergte Lesbierin, die mit tödlicher Präzision
die Methode ›Bang-utot‹ praktiziert — die Lungenerektion,
die dem schlafenden Feind den Atem abwürgt. - (
yag
)
Stadt (11) Mit der Spitze meines Schuhs versuchte ich, die Neigung des Abhangs zu erkunden; er war sehr steil, aber vielleicht, wenn ich mich hinuntergleiten ließ... Ich setzte mich auf die weiche Erde und begann, mit den Fersen bremsend, den Abstieg. Meine Furcht erwies sich als unbegründet: ich kam ohne Zwischenfall unten an. Eine Grenze war überschritten; ich ging sicher auf dem Pflaster einer Straße; ich war in Lyon.
Die Stadt war still, dunkel, ohne Leben. Längs der Gehsteige flossen wahre Gießbäche, und hin und wieder schlug ein Fensterladen im Wind. Meine Schritte hallten zwischen unsichtbaren Häuserwänden. Ich schleppte mich dahin wie ein Insekt über eine steinige Fläche. Ich stolperte über einen Gehsteigrand und ertastete eine Mauer zu meiner Rechten. Nun hatte ich nichts anderes zu tun, als geduldig immer weiter zu gehen, solange die Mauer mich leitete und meine Füße mich trugen.
Diese Mauer hatte finstere Löcher, in denen sich verschlossene Türen bargen.
Meine Finger streiften Fenster mit geschlossenen Läden oder eiserne Gitter,
und sie wurden warm, wenn sie über rauhen Stein oder körnigen Verputz dahinglitten.
Von Zeit zu Zeit erkannte ich auch eine Haustafel mit verwaschener Inschrift,
und dann war die Mauer plötzlich zu Ende. Mißtrauisch, mit tastenden Fußspitzen,
ging ich weiter, um die Bordkante nicht zu verfehlen, überquerte die Straße
und tappte mit vorgestreckten Händen auf die nächste Häuserreihe zu. Das Wasser
aus dem Rinnstein strömte mir über die Füße, von den Dächern fielen riesige
Tropfen, die auf den Stoff meiner Kleidung klatschten und mich dann eiskalt
bis auf die Knochen durchdrangen. Aber ich hatte schon längst jenes Stadium
hinter mir, in dem der Mensch noch für sein Leben oder seine Gesundheit fürchtet;
ich stürzte mich in meine Verzweiflung mit einer Art ungläubiger Verblüffung.
Die Glocken schlugen eine halbe Stunde... aber welche? Vielleicht würde ich
schon in der nächsten halben Stunde zu einer Zielscheibe für die Pistolen der
Streifen. Die Straße nahm kein Ende; dann verschwand die Mauer, meine brennenden
Fingerspitzen griffen ins Dunkel, und meine Sohlen gingen über verdächtig weichen
Grund; weitertastend entdeckte ich ein Straßenbahngleis. Ich faßte wieder Hoffnung,
ein wenig Wärme stieg mir zum Herzen. Es war mir, als sei ich nicht mehr so
allein, so verlassen. Dieser stählerne Strang würde mich ins Zentrum der Stadt
fuhren. Ich folgte ihm und fühlte mich bald inmitten eines ungeheuren, leeren
Raumes, in dem der Wind frei heranbrauste, mit der ungebrochenen Kraft, die
er von weiten Hochflächen her in sich trägt. Ich lauschte: fernes Brausen, wie
man es aus einer Muschel hört, schlug an mein Ohr, und in der Luft lag der Geruch
von Fisch und Algen. - Boileau / Narcejac, Ich
bin ein anderer. Reinbek bei Hamburg 1990
Stadt (11) »Wohnt die Stadt in der Nacht?«
»Die Nacht erläutert alles, worin die Stadt steht. Sie interpretiert die Stadt mit der Intelligenz der Abwesenheit und dient der Abwesenheit als stummer und blutloser Bote.«
»Kennt die Stadt den Schlaf?«
»Sie kennt die Träume; überall, auch zwischen den Steinen, den Ruinen und den Kloaken, siehst du abgehackte Traumglieder sich winden. Von den Firsten alter aufgegebener Paläste stürzen Bündel gefiederter und gespornter Albträume schwer herab. Weiche Gespenster wiegen sich an den Rändern der verlassenen Straßen.«
»Gibt es auch verliebte Träume?«
»Hier kennt man keine Genitalien, es gibt weder Paarung noch Empfängnis noch Geburt; nur einen unbestimmten Verfall, der offensichtlich nie ein Ende haben soll.«
»Gibt es Durst und Trank, Hunger und Nahrung?«
»Es gibt kein Wasser, nur Schlamm; und als Nahrung Asche.«
»Und was weiß man vom Tod?«
»Der Tod handelt - wie du bald sehen wirst; aber er hat nicht viel Gewicht,
denn die Stadt ist nicht weniger sterblich als unsterblich. Auch wenn jegliches
Leben aus ihr gewichen ist, bleibt sie noch immer die Stadt.« - (
hoelle
)
- Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei
Hamburg 1981
Stadt (13) Die Stadt wimmelt von unschuldigen
Ungeheuern. - Herr, mein Gott! Du, der Schöpfer,
du, der Meister, der du das Gesetz und die Freiheit geschaffen hast, du, der
Herrscher, der alles seinen Lauf gehen läßt, du, der Richter, der verzeiht,
du, der du voll bist von Trieben und Ursachen, und der du vielleicht die Vorliebe
für das Schaurige in meinen Geist gelegt hast, um mein Herz zu bekehren, wie
die Heilung an die Spitze eines Messers; Herr, erbarme dich, erbarme dich der
törichten Männer und Frauen! O Schöpfer! ist es möglich, daß es Ungeheuer in
den Augen jenes Einzigen gibt, der weiß, warum sie da sind, wie sie sich
dazu gemacht haben und wie sie es hätten anfangen sollen, sich nicht
dazu zu machen? - Charles Baudelaire, Der Spleen von Paris. In:
C.B., Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Zürich 1977
Stadt (14) Ich bin ein nicht allzu unzufriedener
Eintagsbewohner einer Hauptstadt, die man für modern hält, weil jeder bekannte
Geschmack in der inneren und äußeren Ausstattung der Häuser, ebenso wie in der
Anlage der Stadt ausgeschaltet worden ist. Hier könntet ihr nicht die Spuren
eines einzigen Denkmals des Aberglaubens aufweisen. Die Moral und die Sprache
sind auf ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt, endlich! Diese Millionen
Menschen, die nicht nötig haben einander zu kennen, betreiben Erziehung, Beruf
und das Altern so gleichartig, daß ihr Lebenslauf um ein Mehrfaches weniger
lang sein dürfte, als eine verrückte Statistik für die Völker des Festlandes
herausfindet. Und so, wie ich, von meinem Fenster aus, neue Gespenster durch
den dicken und ewigen Kohlenrauch kreisen sehe, — unser Waldesschatten, unsere
Sommernacht! — neue Rachegöttinnen, vor meinem Cottage, das mein Vaterland und
mein ganzes Herz ist, da alles hier diesem gleicht, — winseln der Tod ohne Tränen,
unser vielbeschäftigter Diener und Knecht, ein verzweifelter Amor und ein hübsches
Verbrechen im Schlamm der Straße. - Arthur Rimbaud, Farbstiche (Illuminations).
Nach:
(rim)
Stadt (15) Mit einer Gruppe ortsüblicher Geister sollte ich in die Stadt vor den Alpen, nach einer neuen Landbevölkerung Ausschau zu halten. Geh weg, geh weg, hatten mir die Birken zugerufen. Und als es soweit war, riefen sie: Geh mit! Geh mit! Wenn die mich mitnehmen, sagte ich mir, taugen sie nichts. Was sind die ewig um ein paar Blätter gestolpert! Da schüttelten die Birken sie und baten sie, doch einmal ein wenig vernünftig zu sein und sich um unser Tal zu kümmern und einmal aus ihren Nasenlöchern hinauszusehen! Wer kann das schon! Zuerst war die Stadt ganz nah, dann aber erschien sie nicht. Überall waren noch diese Vorhäutler, diese übliche Landbevölkerung, die langsam aber sicher das Land zugrunde richtete...
Bis ich mich dreimal umsah, hatten sich die Geister verduftet mit ihrem uralten
Trick, sich in ihre Nasenlöcher zurückzuziehen
und unwirksam zu sein. Da war die Stadt. Mein erster Gedanke: Das ist mein Tod.
Ich hätte mich so gerne verwandelt, aber meine Zeit war noch nicht gekommen.
Die Leute mußten alie ihren Nasen nachgegangen sein, denn die Straßen waren
ieer. Am Ende einer Straße stand immer so ein Pipifax, ein Turm, eine Säule
oder ein Heiliger, der sein Kreuz in die Luft hielt, um das man ihm aber das
Fenster weggeschlagen hatte. Ich habe mir sagen lassen, daß in der Stadt nichts
los ist, wenn nicht Soldaten marschieren oder Betrunkene herumtorkeln oder die
Autos herumrasen, in die sich die Menschen, vor weiß Gott was, flüchten. - Herbert Achternbusch, Ich bin ein Schaf. Memoiren.
München 1996
Stadt (16)
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