- Klaus Völker, Nachwort zu: Alfred Jarry,
Ubu. Stücke und Schriften. Frankfurt am Main 1987
Pataphysik (2) Das Collège de 'Pataphysique
wird von einem unabsetzbaren Kurator geleitet, das ist Doktor Faustroll.
Unter dem unabsetzbaren Kurator gibt es einen Vize-Kurator, der Anspruch
auf den Titel Magnifizenz hat. Der letzte rechtmäßige Vizekurator ist vor
einigen Jahren gestorben. Wir schreiten am 11. Juni 1959 zur Akklamation
des neuen Vize-Kurators des Collège de 'Pataphysique. Unter jenen steht
ein Corps von Aufsehern: General-Aufseher, oder nicht. Schließlich haben
wir Satrapen, die Anspruch auf den Titel der Transzendenz haben, dann die
Regenten, deren Amt in der Unterrichtung einer Anzahl von mehr oder weniger
komplexen Disziplinen besteht, in denen sie sich selbstverständlich immer
auszeichnen. -
Boris
Vian
Pataphysik (3) Ubu, der gasförmige und karikaturenhafte Zustand, der Dünndarm und der Glanz der Leere. Denn hier, wo vielleicht alles Stuck und Talmi ist, selbst ein Baum aus Holz - und dieser große Bluff, der den Teig der Phänomene aufgehen läßt -, spricht nichts dagegen, daß der katabatische Abwind zum Stuck und Blabla schon lange vor der Form eingesetzt hat, die die angeblich wirklichen Gegenstände heute angenommen haben - und daß alles, bevor es im krebsartigen und imaginären Zustand zur Welt kommt - nur im krebsartigen und imaginären Zustand zur Welt kommen kann - was die Dinge nicht daran hindert, weniger falsch zu sein, als man denkt, das heißt...
Die Pataphysik ist die höchste Versuchung des Geistes. Der Schrecken des Lächerlichen und der Notwendigkeit führt zur enormen Selbstgefälligkeit, zum enormen Gefurze von Ubu.
Der
pataphysische Geist ist der Nagel im Reifen - die Welt ein stinkiger
Riesenbovist. Die Wampe ist ebensogut eine Montgolfiere, ein
Sternennebel oder auch die vollkommene Sphäre der Erkenntnis. Die
Darmsphäre der Sonne. Vom Tod ist nichts zu erwarten. Kann ein Reifen
etwa sterben? Er gibt seine Reifenseele auf. Der Furz ist der Ursprung
des Atemhauchs.
-
Jean
Baudrillard
Pataphysik (4)
Pataphysik (5) 1
Die Pataphysik ist die Wissenschaft von jenem Bereich, der sich jenseits
der Metaphysik erstreckt; oder auch: die Pataphysik übersteigt die Metaphysik
in dem Maße, wie diese die Physik übersteigt m alle Richtungen ad libitum.
Die
Pataphysik ist spekulativ, sie kommt nicht ohne Verallgemeinerungen aus. Pataphysik
ist allgemein vorhanden, legt den Kern der Dinge frei und geht, soweit jeder
besondere Fall es erlaubt, in die verschiedensten Richtungen über die metaphysische
Erkenntnis hinaus. Faustroll, der große pataphysische Wissenschaftler, gibt
als erhabenstes Beispiel die Definition von
Gott »als kürzester Weg von Null nach unendlich«.
2
Die Pataphysik ist die Wissenschaft des Besonderen, der Gesetze, die die
Ausnahmen bestimmen.
Die Gesetze der Physik
betrachtet Jarry als ein Gefüge nicht außergewöhnlicher Ausnahmen. Die Pataphysik
stützt sich auf die Ausnahmen, die allein die Wissenschaft bestimmen und weiterführen.
Die Pataphysik als Wissenschaft wendet sich dem Sonderfall zu, sie interpretiert
die Welt als ein Mosaik von Zufällen und Ausnahmen, die sich ineinanderfügen,
gemäß den Größenangaben der Pataphysik. Die Regel erweist sich als wertlose
Häufung von zufälligen Fakten, »die, da sie sich auf kaum aus dem Rahmen fallende
Ausnahmen beschränken, nicht einmal den Reiz der Einmaligkeit besitzen«. Wahre
Gesetzmäßigkeit garantiert nur die Pataphysik. Die Definition ist also denkbar
einfach: Die Pataphysik ist die Wissenschaft des Besonderen und überhaupt.
3
Die Pataphysik ist die Wissenschaft imaginärer Lösungen.
Da die
Pataphysik sich in alle Richtungen ausbreiten kann, von Null nach unendlich,
erscheint das Reale auch als imaginär: der Mensch erweist sich als zusammengefügt
aus verschiedenen Monstren, aus dissonanten Elementen, weniger fiktiven, als
imaginären. »Mach nicht solche Sprünge!« diesen Satz Lautréamonts, der
einem einzelnen Haar gilt, das von Gott im Bordell zurückgelassen worden ist,
pflegte Jarry gerne zu zitieren. Fiktive Potenz: Jarrys »imaginäre« Lösung ist
in diesem Fall der Einbruch eines Rlesenphallus in einen Tempel.
4
Im Hinblick auf die Pataphysik ist alles das gleiche.
Alles Tun,
alles Nicht-Tun zielt auf Pataphysik, insofern ist alles das gleiche. Aber Nicht-Tun
alleine macht noch keine Pataphysik. Dieser Gesichtspunkt ist nicht unerheblich.
Auch Pataphysik erfordert Taten.
5
Die Pataphysik ist in ihrem Verhalten unerschütterlich.
In der
Tat. Gerade der, der auf den Sinn der Pataphysik dringt, der auf einer Erklärung
insistiert, beweist, wie sehr diese Wissenschaft ihn beherrscht, auch unbewußt.
Die Pataphysik vertreten, ist ein pataphysischer Akt, sie ignorieren, ist vielleicht
noch mehr pataphysisch.
6
Alles ist pataphysisch; dennoch üben nur wenige Menschen die Pataphysik
bewußt aus.
Der »bewußte« Pataphysiker wird mit Victor Boucher antworten:
»Mit Fleiß denke ich gerne an Dinge, von denen ich annehme, daß andere nicht
an sie denken.«
7
jenseits der Pataphysik ist nichts; sie ist die letzte Instanz.
Die
Pataphysik ist das Ende aller Enden. Erste und letzte Instanz. Faustroll stirbt
in dem Alter, in dem er geboren wurde.
- Erläuterungen des Herausgebers zu 7 von Roger Shattuck formulierten
Grundsätzen der Pataphysik (nach
jar
)
Pataphysik (6) Die Welt war nichts anders als ein riesiges Schiff, mit Sengle am Steuerruder; und im Gegensatz zur hinduistischen Vorstellung von der Großen Schildkröte, die das unbedeutende Universum trägt, war das am wenigsten absurd anmutende Bild das der Balkenwaage, ein sagenhaftes, von Sengle erdachtes und in Schwebe gehaltenes Gewicht (wobei der Zeigerdorn in der Mitte des Waagbalkens die Linse, das Wahmehmungsorgan war, wenn eine solche Auffassung auch jedem optischen Gesetz Hohn spricht). Bei philosophischerer Betrachtung, - und Sengle malte sich, den Stolz nicht für Sünde haltend, mit Vorliebe dieses großartige, unter Beachtung der Entstehungstheorie gewonnene Schema aus, bei welchem die Sehstrahlen sich in dem nämlichen Schnittpunkt kreuzen, wie oben erklärt -, war also Sengle es, der sich mit dem vergrößerten Bild und dem imaginären Abbild gleichsetzte; so daß die winzige Welt sich, aufgrund ihres gigantischen, auf den Schirm der anderen Waagschale projizierten Doppelgängers, auf den Kopf stellte, und, wie wenn ein Rad sich weiterdreht, unter der Zugkraft des neuen Makrokosmos in sich zusammenstürzte.
Bei der Vorstellung von dieser großen Windmühle ist wohl ein wenig Donquichottismus im Spiel, aber einmal mehr sind es nur die Dummköpfe, die Windmühlen nur mit dem Mahlen in Zusammenhang bringen.
Und so hatte Sengle seine Kraft dulzineifiziert oder vergöttlicht. - Alfred Jarry, Die Tage und die Nächte. Roman eines Deserteurs.
Frankfurt am Main 1993 (zuerst 1897)
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