ataphysik   In einem  Ubu-Stück, »Ubu Cocu«, erscheint die Titelfigur als Exkönig von Polen und Aragon und als Doktor der Pataphysik. Er dringt in das Haus des Wissenschaftlers Achras ein, der an einer Abhandlung über die Sitten der Polyeder schreibt. Sein Gewissen schleppt Ubu in einem Koffer mit sich herum, damit er es immer um Rat fragen kann, den er dann umso konsequenter mißachtet. Ubu will Achras umbringen, er soll an einem Pfahl gemartert werden, eine Todesart, die der Pataphysiker ausprobieren möchte, um sie dann auch bei Memnon anzuwenden, einem Ägypter, mit dem ihn Mutter Ubu betrogen hat. Achras wird von der Bande Ubus aufgespießt, vom Gewissen aber wieder entpfählt. Der Wissenschaftler rächt sich daraufhin an seinem Mörder mit der Falltür. Ubu stürzt hinein, bleibt aber mit seinem Bauch, der zu dick ist, in der Öffnung hängen. Das immer hilfsbereite Gewissen hilft nun Ubu aus der Klemme. Memnon erscheint als Säule und singt das Enthirnungslied, am Ende kommt noch ein Krokodil auf die Bühne. Ubu hat sich im Haus des Achras unterdessen als vollendeter Bürger etabliert. Er ist unverwundbar, ein Schlagetot, der nicht tot zu kriegen ist, denn er ist ja unschuldig, ohne Gewissen. In ihm manifestieren sich auch makabre menschliche Abgründe. Er ist eine Art von »entwurzelter Phallus«, dem Jarry immer zurief: »Mach nicht solche Sprünge!«, ein Lautréamont-Zitat aus »Die Gesänge des Maldoror«, das einem einzelnen Haar gilt, das von Gott persönlich im Bordell zurückgelassen wurde. - Klaus Völker, Nachwort zu: Alfred Jarry, Ubu. Stücke und Schriften. Frankfurt am Main 1987

Pataphysik (2)  Das Collège de 'Pataphysique wird von einem unabsetzbaren Kurator geleitet, das ist Doktor Faustroll. Unter dem unabsetzbaren Kurator gibt es einen Vize-Kurator, der Anspruch auf den Titel Magnifizenz hat. Der letzte rechtmäßige Vizekurator ist vor einigen Jahren gestorben. Wir schreiten am 11. Juni 1959 zur Akklamation des neuen Vize-Kurators des Collège de 'Pataphysique. Unter jenen steht ein Corps von Aufsehern: General-Aufseher, oder nicht. Schließlich haben wir Satrapen, die Anspruch auf den Titel der Transzendenz haben, dann die Regenten, deren Amt in der Unterrichtung einer Anzahl von mehr oder weniger komplexen Disziplinen besteht, in denen sie sich selbstverständlich immer auszeichnen.  - Boris Vian

Pataphysik (3)   Ubu, der gasförmige und karikaturenhafte Zustand, der Dünndarm und der Glanz der Leere. Denn hier, wo vielleicht alles Stuck und Talmi ist, selbst ein Baum aus Holz - und dieser große Bluff, der den Teig der Phänomene aufgehen läßt -, spricht nichts dagegen, daß der katabatische Abwind zum Stuck und Blabla schon lange vor der Form eingesetzt hat, die die angeblich wirklichen Gegenstände heute angenommen haben - und daß alles, bevor es im krebsartigen und imaginären Zustand zur Welt kommt - nur im krebsartigen und imaginären Zustand zur Welt kommen kann - was die Dinge nicht daran hindert, weniger falsch zu sein, als man denkt, das heißt...

Die Pataphysik ist die höchste Versuchung des Geistes. Der Schrecken des Lächerlichen und der Notwendigkeit führt zur enormen Selbstgefälligkeit, zum enormen Gefurze von Ubu.

Der pataphysische Geist ist der Nagel im Reifen - die Welt ein stinkiger Riesenbovist. Die Wampe ist ebensogut eine Montgolfiere, ein Sternennebel oder auch die vollkommene Sphäre der Erkenntnis. Die Darmsphäre der Sonne. Vom Tod ist nichts zu erwarten. Kann ein Reifen etwa sterben? Er gibt seine Reifenseele auf. Der Furz ist der Ursprung des Atemhauchs. - Jean Baudrillard

Pataphysik (4)

Pataphysik (5)  1

Die Pataphysik ist die Wissenschaft von jenem Bereich, der sich jenseits der Metaphysik erstreckt; oder auch: die Pataphysik übersteigt die Metaphysik in dem Maße, wie diese die Physik übersteigt m alle Richtungen ad libitum.
Die Pataphysik ist spekulativ, sie kommt nicht ohne Verallgemeinerungen aus. Pataphysik ist allgemein vorhanden, legt den Kern der Dinge frei und geht, soweit jeder besondere Fall es erlaubt, in die verschiedensten Richtungen über die metaphysische Erkenntnis hinaus. Faustroll, der große pataphysische Wissenschaftler, gibt als erhabenstes Beispiel die Definition von Gott »als kürzester Weg von Null nach unendlich«.

2

Die Pataphysik ist die Wissenschaft des Besonderen, der Gesetze, die die Ausnahmen bestimmen.
Die Gesetze der Physik betrachtet Jarry als ein Gefüge nicht außergewöhnlicher Ausnahmen. Die Pataphysik stützt sich auf die Ausnahmen, die allein die Wissenschaft bestimmen und weiterführen. Die Pataphysik als Wissenschaft wendet sich dem Sonderfall zu, sie interpretiert die Welt als ein Mosaik von Zufällen und Ausnahmen, die sich ineinanderfügen, gemäß den Größenangaben der Pataphysik. Die Regel erweist sich als wertlose Häufung von zufälligen Fakten, »die, da sie sich auf kaum aus dem Rahmen fallende Ausnahmen beschränken, nicht einmal den Reiz der Einmaligkeit besitzen«. Wahre Gesetzmäßigkeit garantiert nur die Pataphysik. Die Definition ist also denkbar einfach: Die Pataphysik ist die Wissenschaft des Besonderen und überhaupt.

3

Die Pataphysik ist die Wissenschaft imaginärer Lösungen.
Da die Pataphysik sich in alle Richtungen ausbreiten kann, von Null nach unendlich, erscheint das Reale auch als imaginär: der Mensch erweist sich als zusammengefügt aus verschiedenen Monstren, aus dissonanten Elementen, weniger fiktiven, als imaginären. »Mach nicht solche Sprünge!« diesen Satz Lautréamonts, der einem einzelnen Haar gilt, das von Gott im Bordell zurückgelassen worden ist, pflegte Jarry gerne zu zitieren. Fiktive Potenz: Jarrys »imaginäre« Lösung ist in diesem Fall der Einbruch eines Rlesenphallus in einen Tempel.

4

Im Hinblick auf die Pataphysik ist alles das gleiche.
Alles Tun, alles Nicht-Tun zielt auf Pataphysik, insofern ist alles das gleiche. Aber Nicht-Tun alleine macht noch keine Pataphysik. Dieser Gesichtspunkt ist nicht unerheblich. Auch Pataphysik erfordert Taten.

5

Die Pataphysik ist in ihrem Verhalten unerschütterlich.
In der Tat. Gerade der, der auf den Sinn der Pataphysik dringt, der auf einer Erklärung insistiert, beweist, wie sehr diese Wissenschaft ihn beherrscht, auch unbewußt. Die Pataphysik vertreten, ist ein pataphysischer Akt, sie ignorieren, ist vielleicht noch mehr pataphysisch.

6

Alles ist pataphysisch; dennoch üben nur wenige Menschen die Pataphysik bewußt aus.
Der »bewußte« Pataphysiker wird mit Victor Boucher antworten: »Mit Fleiß denke ich gerne an Dinge, von denen ich annehme, daß andere nicht an sie denken.«

7

jenseits der Pataphysik ist nichts; sie ist die letzte Instanz.
Die Pataphysik ist das Ende aller Enden. Erste und letzte Instanz. Faustroll stirbt in dem Alter, in dem er geboren wurde.

- Erläuterungen des Herausgebers zu 7 von Roger Shattuck formulierten Grundsätzen der Pataphysik (nach jar)

Pataphysik (6)  Die Welt war nichts anders als ein riesiges Schiff, mit Sengle am Steuerruder; und im Gegensatz zur hinduistischen Vorstellung von der Großen Schildkröte, die das unbedeutende Universum trägt, war das am wenigsten absurd anmutende Bild das der Balkenwaage, ein sagenhaftes, von Sengle erdachtes und in Schwebe gehaltenes Gewicht (wobei der Zeigerdorn in der Mitte des Waagbalkens die Linse, das Wahmehmungsorgan war, wenn eine solche Auffassung auch jedem optischen Gesetz Hohn spricht). Bei philosophischerer Betrachtung, - und Sengle malte sich, den Stolz nicht für Sünde haltend, mit Vorliebe dieses großartige, unter Beachtung der Entstehungstheorie gewonnene Schema aus, bei welchem die Sehstrahlen sich in dem nämlichen Schnittpunkt kreuzen, wie oben erklärt -, war also Sengle es, der sich mit dem vergrößerten Bild und dem imaginären Abbild gleichsetzte; so daß die winzige Welt sich, aufgrund ihres gigantischen, auf den Schirm der anderen Waagschale projizierten Doppelgängers, auf den Kopf stellte, und, wie wenn ein Rad sich weiterdreht, unter der Zugkraft des neuen Makrokosmos in sich zusammenstürzte.

Bei der Vorstellung von dieser großen Windmühle ist wohl ein wenig Donquichottismus im Spiel, aber einmal mehr sind es nur die Dummköpfe, die Windmühlen nur mit dem Mahlen in Zusammenhang bringen.

Und so hatte Sengle seine Kraft dulzineifiziert oder vergöttlicht. - Alfred Jarry, Die Tage und die Nächte. Roman eines Deserteurs. Frankfurt am Main 1993 (zuerst 1897)

 

Metaphysik

 

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