ewohnheit
In der Regel ist alle Angewohnheit verwerflich.
- Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
Gewohnheit (2) Eine kleine psychologische Kostbarkeit von 1831 ist die "Lebensgeschichte der Giftmörderin Gesche Margarethe Gottfried geborene Timm", die von ihrem "Defensor" Voget in Bremen niedergeschrieben wurde. Nichts von dem Willen zur Emanzipation, wie ihn Rainer Maria Faßbinder in seinem neuesten Theaterstück über die Gottfried als Grund für ihre 15 Giftmorde und 15 Giftmordversuche, nach Schätzungen, deutet, es war ein ganz allmähliches Sichgewöhnen, eine erschreckende Simplizität, die sich aus einem unersättlichen Egoismus, aus maßloser Eitelkeit und einer vorzüglich überspielten Herzenskälte ergaben. Das war im Grunde alles so einfach und banal, daß man sich fragt, warum es nicht viel häufiger geschieht.
Auf dem Bremer Domplatz gibt es einen winzigen Stein —
man muß ihn suchen — an jener Stelle, an der die Gottfried 1831 als Letzte
in Bremen hingerichtet wurde; auf diesen Stein spucken eingesessene Bremer
noch heute, und im Januar 1972 konnte ich dies zweimal innerhalb einer
Viertelstunde beobachten. - Nach (
net
)
Gewohnheit (3) Wer unter den menschenfressern
erzogen, dem schmeckt keine zuspeis, es sei denn,
sie hat hand oder fuß.
- Hans Carl
Artmann
,
Von denen Husaren und anderen
Seil=Tänzer
n.
Frankfurt am Main 1971 (BS 269, zuerst 1959)
Gewohnheit (4) So hörte ich, bis auf seltene Ausnahmen, mit dem gemeinsamen Gehen dort auf, wo für mich, und wie ich erkannte, für mich allein, ein Neuland anfing — sich mein persönliches Forschungsgebiet erstreckte.
Ich verheimlichte sogar mein Eindringen da, täglich weiter, auch vor meinen Angehörigen, als sei es ein Laster, etwas Nichtsnut2iges, zumindest eine Eigenmächtigkeit, unwürdig eines erwachsenen, für sich und die Seinen verantwortlichen Menschen. Wurde ich zu Hause gefragt, wo ich nur so lange gewesen war, log ich, zum Beispiel, ich hätte mir am rechten Seineufer einen Film, in Überlänge, angeschaut, hätte an der Place de Clichy Billard gespielt, in der österreichischen Botschaft als Uneingeladener bei einem Empfang allein eine Flasche Wein ausgetrunken, mich mit einem Polizisten vorm Invalidendom gestritten, gebrauchte als Lüge vor der Katalanin sogar, ich sei über Stunden, vom Pont Neuf bis werweißwohin, aus Berufsgründen, einer unbekannten Schönheit, einer »Weltfrau«, gefolgt, belog selbst meinen Sohn, so unnötig und unerklärlich, wie ich oft im Leben dahingelogen habe, ohne Grund, ohne Spaß, einfach so, durch das bloße Gefragtwerden und Mundaufmachenmüssen.
Für mich aber war jenes Verschwinden,
tagaus, tagein, in die Vorstädte die erste gute Gewohnheit, die ich mir
bis dahin angeeignet hatte. Das war endlich eine Gewohnheit, über die ich
froh sein konnte; nie würde ich sie loswerden
mögen. - Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt
am Main 1994
Gewohnheit (5) Der Tisch im Eßzimmer ist gedeckt; aus den Wasserhähnen kommt das klare Wasser, das zarte Wasser, das laue Wasser, das duftende Wasser. Das Bett ist für zwei genau so groß wie für einen. Auf die Knospe folgt das Blatt und auf das Blatt die Blüte und auf den Regen das schöne Wetter. Weil die Stunde gekommen ist, öffnen sich die Augen, der Körper richtet sich auf, die Hand streckt sich aus, das Feuer entzündet sich, das Lächeln streitet sich mit den Falten der Nacht um ihre arglose Kurve. Und es sind ja die Zeiger der Uhr, die sich öffnen, sich aufrichten, sich "ausstrecken, sich entzünden und die Stunde des Lächelns angeben. Der Sonnenstrahl geht um das Haus herum in einer weißen Bluse. Es wird noch schneien, es werden noch gegen fünf Uhr ein paar Blutstropfen fallen, aber das ist gar nichts. Oh! ich hatte Angst, ich glaubte auf einmal, daß es vor dem Fenster keine Straße mehr gab, aber sie ist ja noch da. Eben zieht sogar der Drogist seine eiserne Jalousie auf. Bald werden mehr Leute beim Rad als in der Mühle sein. Die Arbeit wird zugeschnitten, geschmiedet, gehobelt, berechnet. Mit Freude findet die Hand die Sicherheit des Schlafs im vertrauten Werkzeug wieder.
Wenn das nur so bleibt!
- André Breton / Paul Éluard, Die unbefleckte Empfängnis.
Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1930)
Gewohnheit (6) Der Kapaun: Ach Gott! Mein Liebchen! Wie traurig du dreinschaust! Was hast du?
Die Poularde: Bester Freund, frag mich lieber, was ich nicht mehr habe. Da hat doch so eine verfluchte Magd mich auf den Schoß genommen, mir eine lange Nadel in den Hintern gesteckt, meine Eierstöcke aufgespießt, sie um die Nadel gewickelt, herausgerissen und ihrer Katze zu fressen gegeben. Nun bin ich außerstande, die Gunst des Hahns zu empfangen und Eier zu legen.
Der Kapaun: Ach, meine Liebe! ich habe viel mehr verloren als Ihr; an mir hat man eine doppelt grausame Operation vorgenommen: weder Ihr noch ich werden auf dieser Welt jemals wieder Freude und Trost finden; Euch haben sie zum Masthühnchen, mich zum Kapaun gemacht. In all meinem Jammer tröstet mich nur der Gedanke daran, daß ich neulich in der Nähe meines Hühnerhauses zwei italienische Priester miteinander reden hörte, denen man die gleiche Schmach angetan hat, nur damit sie vor dem Papst mit heller Stimme singen können. Sie sagten, im Anfang hätten die Menschen ihresgleichen nur beschnitten, heute kastrierten sie ihre Mitmenschen. Sie verfluchten ihr Schicksal und das Menschengeschlecht.
Die Poularde: Wie! So hat man uns den schönsten Teil unseres Körpers weggenommen, damit unsere Stimme heller klingt?
Der Kapaun: Leider, meine arme Poularde, geschieht das, um uns fetter und unser Fleisch zarter zu machen.
Die Poularde: Na schön! Und wenn wir dann fetter sind, haben sie dann mehr davon?
Der Kapaun: Ja, denn sie gedenken, uns zu essen.
Die Poularde: Uns zu essen! O diese Schurken!
Der Kapaun: Das ist bei ihnen so Brauch; sie sperren uns ein paar Tage ein, geben uns einen geheimnisvollen Brei zu fressen, stechen uns die Augen aus, damit wir nicht mehr abgelenkt werden. Wenn dann der Festtag gekommen ist, rupfen sie uns die Federn aus, schneiden uns den Hals ab und braten uns. Auf einer großen silbernen Platte werden wir auf den Tisch gestellt, jeder sagt über uns, was er denkt; man hält uns die Leichenrede. Der eine sagt, wir schmeckten nach Haselnuß, der andere rühmt unser saftiges Fleisch, man lobt unsere Schenkel, unsere Flügel, unseren Bürzel, und damit ist unser Geschick hienieden ein für allemal beendet.
Die Poularde: Was für erbärmliche Schufte! Ich bin einer Ohnmacht nahe! Wie! Man wird mir die Augen ausreißen, mir den Hals abschneiden, mich braten und essen! Haben denn diese abgefeimten Schurken überhaupt keine Gewissensbisse?
Der Kapaun: Nein, mein Liebling! Die beiden Priester, von denen
ich Euch erzählt habe, meinten, die Menschen machten sich nie ein Gewissen aus
den Dingen, die sie gewohnt sind zu tun. - Voltaire, Gespräch zwischen
dem Kapaun und der Poularde, nach (
vol
)
Gewohnheit (7) Ein Talmudlehrer, der
einmal nach Lentczyn gekommen war, hatte erklärt, die Amerikaner
hätten die Köpfe unten und die Füße oben. Das
konnten Berl und Berlcha nicht begreifen. Wie war so etwas nur möglich? Aber
da der Lehrer es behauptete, mußte es wohl stimmen. Berlcha dachte eine Zeitlang
darüber nach, und dann sagte sie: »Der Mensch kann sich an alles gewöhnen.«
-
Isaac Bashevis Singer, Eine Krone aus Federn. In: I.B.S., Der
Kabbalist
vom East Broadway.
München 1978 (zuerst 1972)
Gewohnheit (8) Ihre Eltern verheirateten
sie
mit einem Tischler. Doch dessen Mannesding war, wie sich leider in der Hochzeitsnacht
herausstellte, nur ein winziges Dingelchen, das ihren Ansprüchen in keiner Weise
genügte, denn sie war vom langen I her an ein ganz anderes Kaliber gewohnt.
Aus diesem Anlaß nahm sie nach einiger Zeit heimlich den Verkehr mit einem jungen
Zunftbruder ihres Mannes auf. Dieser — er hieß Djiä-bau mit Rufnamen — konnte
ihr mit einem Riesenspeer von mehr als neun Zoll Länge aufwarten. Er war ein
unverheirateter, einsamer Hecht von knapp zwanzig Jahren, dem sich noch nie
die Gelegenheit geboten hatte, mit einer Frau zu schlafen. Deshalb war er auch
besonders brünstig. Rücksichtslos stieß er ihr .seinen eisenharten Speer tief
in die Lustgrotte hinein, noch über das ›kornförmige Loch‹ hinaus, das sich
acht Zoll tief im Inneren der Lustgrotte befindet und jenen Punkt darstellt,
der beim Geschlechtsverkehr niemals überschritten werden darf. Gleich beim ersten
Stoß wurde die geborene Wu verletzt; das Blut floß ihr den Schenkeln hinab und
benetzte die Matte. Djiä-ba merkte es in seinem Sinnestaumel überhaupt nicht
- er hielt ihr Stöhnen und Wimmern für Wollustlaute. Erst als sie sich nicht
mehr regte und er hinabblickend die Blutlache gewahrte, die sich unter ihrer
Leibesmitte gebildet hatte, hielt er erschrocken inne und ließ von ihr ab. Doch
da war es bereits zu spät. Die geborene Wu stöhnte und röchelte noch ein paarmal
— dann war ihre Seele in das Reich der Gelben
Quellen entschwunden. - Dschu-Lin Yä-schi. Ein historisch-erotischer Roman aus
der Ming-Zeit, mit erstaunlichen taoistischen Liebespraktiken. Hg. und Übs.
F.K. Engler. Zürich 1971
Gewohnheit (9) Ich säte
Klee auf dem Balkon meiner früheren Wohnung, spuckte ein Kaninchen,
setzte es in den Klee, und nach einem Monat, wenn ich vermutete, daß jeden
Augenblick. .., schenkte ich das inzwischen groß gewordene Kaninchen der
Señora Molina, die an ein hobby glaubte und nichts sagte. In einem anderen
Blumentopf sproß bereits wieder zarter und nahrhafter Klee, und gelassen
wartete ich auf den Morgen, da das Kitzeln eines hochkommenden Flaumfells mir
die Kehle zuschnürt, und das neue kleine Kaninchen lebte von dieser Stunde
an das Leben des früheren, mit den gleichen Gewohnheiten. Die Gewohnheiten,
Andrée, sind konkrete Formen des Rhythmus,
sind der Teil des Rhythmus, der uns leben hilft. Es ist nicht so schrecklich,
kleine Kaninchen zu spucken, hat man sich einmal an den unveränderlichen
Kreislauf, an die Prozedur gewöhnt. Sie werden vielleicht wissen wollen,
warum diese ganze Arbeit, warum all dieser Klee und die Senora Molina. Man hätte
das kleine Kaninchen doch besser gleich töten sollen und ... - (
best
)
Gewohnheit (10) .... Meine
Güter wurden konfisziert und ich nach Sibirien geschickt, wo ich, wie
jeder andere, zwölf Tierfelle monatlich abliefern mußte, sonst wurde
ich bis aufs Blut gepeitscht. Dadurch bekam ich das
Bedürfnis, täglich gepeitscht zu werden. Bei meiner Ankunft
erhielt ich eine Hütte, deren Besitzer nach fünfzehnjähriger
Gefangenschaft gestorben war. Sie war aus Holz, der Fußboden aus
Fischknochen hergestellt und von Palisaden umgeben, zum Schutz gegen
die wilden Tiere. In dieser schrecklichen Gefangenschaft
blieb ich zehn Jahre und beweinte die Ungerechtigkeit der Fürsten und
des Geschickes, Mit einem einzigen meiner Genossen, einem
Ungarn namens Tergowitz, sympathisierte ich. Er war ein
Verbrecher aus Überzeugung und beschimpfte täglich den Himmel, statt,
wie die anderen, ihn zu versöhnen zu trachten. Er kannte keine
Gewissensbisse und empfand nur Reue, keine neuen Verbrechen begehen zu
können. Wir schlössen Freundschaft und unsere erste Tat
war, uns zu poussieren. Als er mir erklärte, daß dies seine
Lieblingsleidenschaft sei, fragte ich ihn, ob es hier noch andere
Gleichgeartete gäbe. Er sagte mir, nicht weit von hier wohne ein
sechsundfünfzigjähriger Pole, ein bildschöner Mann, der seit
achtzehn Jahren in dieser Wüste sei und mich gewiß gern kennen lernen
wollte, vielleicht könnten wir zu dritt einen Fluchtversuch machen.
Noch am selben Tag suchten wir Woldomir auf, der mir sehr wild und
menschenfeindlich vorkam. Sobald ihn Tergowitz über mich
aufgeklärt, sah er mich mit anderen Augen an und kaum hatten wir
soupiert, als jeder nach dem Arsche des anderen griff.
Woldomir brachte niemals Tierfelle zum Gouvernement, nur um gepeitscht
zu werden. Eine ganze Stunde lang peitschten wir ihn, bis er endlich,
in die Höhe gebracht, mir seinen ungeheuren Schwanz ins Arschloch
hineinstieß. Tergowitz poussierte ihn und wir wälzten uns trotz der
Jahreszeit alle drei im Schnee. Sein ungeheurer Schwanz machte mir
große Schmerzen und er verschonte mich gar nicht Darauf ging er auf
Tergowitz üher und vögelte uns beide über zwei Stunden, ohne zu
entladen. Ich poussierte ihn und weniger blasiert wie er, entlud ich.
„Leider," sagte der Pole, „komme ich nie zu meinem Ziele, da ich dazu
Blut brauche. Da mir kerne Menschen zur Verfügung stehen, töte ich
Tiere und bade in ihrem Blute." Tergowitz teilt ihm mit, daß auch wir
gleichen Geistes seien. „Ja, wo zum Teufel," fragte ich, „sollen wir
die Opfer hernehmen?" „Unter unseren Genossen." „Ohne Mitleid mit der
Gleichheit unseres Schicksales?" „Wie kommt," antwortete der Pole,
„Mitleid in ein Herz von Eisen. Soll ich ein Verbrechen, das mich
entzückt, deswegen aufgeben. Ich verabscheue den Mann, der Mitleid
empfindet und der Durst nach Blut kennt kein Hindernis. Wie du mich
hier siehst, habe ich meinen Vater, meine Mutter, meine Frau, meine
Kinder ohne jede Reue abgeschlachtet. Die Gewohnheit macht alles und an
nichts gewöhnt man sich so leicht, wie an das, das einem gefällt.
Begeile dich an dem Verbrechen und du wirst dich an sie gewöhnen, so
habe auch ich es getan. Nur die dummen Kinderideen, unsera Nächsten
höher wie uns zu schätzen, verhindern uns, das zu tun, was die Natur
verlangt. Kennen denn die wilden Tiere oder die Pflanzen Mitleid oder
Nächstenliebe? Derjenige, welcher diese Gebote aufstellt, hat, so wie
jeder Gesetzgeber, nur sein eigenes Interesse im Auge gehabt." - (just)
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