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Dem Publikum gegenüber saß an einem
winzigen Tisch ein junger, sehr schlanker Mann - ich kannte ihn schon -
und las mit leiser Stimme einen Text, aus dem
sich ein Getümmel von Wörtern und Sätzen absatzlos und, ich hörte es sofort,
auch interpunktionslos in das Zimmer ergoß. Bei meinem Eintritt stockte
er keineswegs, in sich versunken und seinen Wortreihen folgend las er ruhig
fort, leise und schnell, ohne auch nur einmal die hinter kleinen kreisrunden
Brillengläsern liegenden Augen aufzuheben. Ich zog dennoch die vorwurfsvollen
oder irritierten Blicke einiger Zuhörer auf mich, als ich mich, so vorsichtig
wie möglich, hinter dem Publikum vorbeidrückte und mich auf das äußerste
Ende der letzten Bank setzte, die meinem linken Oberschenkel noch Platz
bot. Ich murmelte eine Entschuldigung gegen meine Nachbarin, die vergeblich
noch einen Zentimeter nach innen zu rücken suchte, wobei sie mir das blasse
Gesicht zuwandte und flehentlich einen Zeigefinger auf die Lippen legte.
- Der Lesende hinter seiner Tischlampe war nun für mich nicht mehr sichtbar,
da zusammengedrängte Schultern und die Phalanx teils gesenkter, teils zurückgebogener
Köpfe ihn verdeckten. Aber ich wußte, wer da vorn las, und auch der Text,
der hier vorgestellt wurde, war mir, zumindest seinem Wesen nach, schon
bekannt. Es war eine unaufhörliche Abfolge von Metaphern, Serien von Metaphern
wurden miteinander verknüpft: die meisten davon waren offensichtlich der
Literatur entnommen, doch selbst einem, der dieses Feld beherrschte,
konnte nur ein kleiner Teil davon bekannt sein. So waren viele dieser Zitate
womöglich erfundene Zitate, oder sie waren zumindest entstellt, verwandelt,
unkenntlich gemacht. Dennoch schien der Schreiber dieses Textes eine Methode
entwickelt zu haben, die all seine Zusammensetzungen
wie längst bekannte, wahllos aus den verschiedensten Werken - und besonders
aus Werken der sogenannten modernen Literatur - herausgeklaubte Fügungen
sich anhören ließ. - (ich)
Zitat (2) Ich zitiere nicht gern; meist ist dies
ein dorniges Geschäft: man unterschlägt, was der zitierten Stelle vorangeht
und was ihr folgt, so daß man sich tausendfachem Zank aussetzt. Notgedrungen
zitiere ich dennoch den Kirchenvater Lactantius,
welcher in seinem dreizehnten Kapitel Über Gottes Zorn den Epikur
so reden läßt: »Entweder Gott will das Übel von dieser Welt
nehmen und kann es nicht, oder er kann es und will nicht, oder er kann
weder noch will er, oder schließlich er kann
und will. Wenn er es will und nicht kann, so heißt
dies Ohnmacht, was der Natur Gottes entgegen ist;
wenn er es kann und nicht will, so heißt das Bosheit und ist seiner Natur
nicht weniger entgegen; wenn er weder kann noch will, so ist dies Bosheit
und Ohnmacht; wenn er will und kann, welcher Entschluß einzig Gott geziemt:
woher kommt dann das Übel?« - (
vol
)
Zitat (3) In der digitalen Medienlandschaft gilt
die Tugend des "Remix" als Verschärfung des Imperativs zum "Publish".
Viele Stars, Künstler und Autoren leben geradezu davon, dass ein unbedarftes
junges Publikum ihre Zitate nicht mehr als solche erkennt (während das fortgeschrittene
Publikum sich dann u.a. mit Umberto Eco an der sogenannten Ironie des Zitats
erbauen darf). Ebenso wie die Agenten der Kulturindustrie die neuestens Beats,
so müssen die Akademiker den gerade angesagten "Diskurs" draufhaben,
wenn sie im Geschäft bleiben wollen. Wer in dieser Kultur des permanenten Remixens
aufwächst, wird vom Wert eines kritischen Quellenstudiums schwer zu überzeugen
sein. Philologie ist längst zum Fremdwort geworden.
- Frank Hartmann in
telepolis
,
28.08.2006