erden
Wer sein Leben nur als einen Punkt
versteht in der Entwicklung eines Geschlechtes oder
eines Staates oder einer Wissenschaft und also ganz und gar in die Geschichte
des Werdens, in die Historie hineingehören will,
hat die Lektion, welche ihm das Dasein aufgibt, nicht verstanden und muß sie
ein andermal lernen. Dieses ewige Werden ist ein lügnerisches Puppenspiel, über
welchem der Mensch sich selbst vergißt, die eigentliche Zerstreuung, die das
Individuum nach allen Winden auseinanderstreut, das endlose Spiel der Albernheit,
welches das große Kind Zeit vor uns und mit uns spielt. Jener Heroismus der
Wahrhaftigkeit besteht darin, eines Tages aufzuhören, sein Spielzeug zu sein.
Im Werden ist alles hohl, betrügerisch, flach und unserer Verachtung würdig;
das Rätsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem Sein
lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen. Jetzt fängt er an zu
prüfen, wie tief er mit dem Werden, wie tief mit dem Sein verwachsen ist — eine
ungeheure Aufgabe steigt vor seiner Seele auf: alles Werdende zu zerstören,
alles Falsche an den Dingen ans Licht zu bringen.
- Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher (1874)
Werden
(2) Ein Punkt ist immer ein Ursprungspunkt.
Aber eine Linie des Werdens hat weder Anfang noch Ende,
weder Ausgangspunkt noch Ziel, weder Ursprung noch Bestimmung. Es ist Wortklauberei,
vom Fehlen des Ursprungs zu sprechen und das Fehlen
des Ursprungs zum Ursprung zu machen. Eine Linie des Werdens hat nur eine Mitte.
Die Mitte ist kein Mittelwert, sondern eine Beschleunigung,
die absolute Geschwindigkeit der Bewegung. Ein Werden ist immer in der Mitte,
man kann es nur in der Mitte erfassen. Ein Werden ist weder eins noch zwei,
noch die Beziehung zwischen beiden, sondern es ist dazwischen, die Grenze oder
Fluchtlinie, die Fallinie, die vertikal zu beiden verläuft. Das Werden ist ein
Block (Linien-Block), weil es eine Zone der Nachbarschaft und Ununterscheidbarkeit
bildet, ein Niemandsland, eine nicht lokalisierbare Beziehung, die die beiden
entfernten oder angrenzenden Punkte mitreißt und den einen in die Nachbarschaft
des anderen trägt — und die Grenze-Nachbarschaft verhält sich zum Angrenzen
ebenso gleichgültig wie zur Entfernung. In der Linie oder im Block des Werdens,
der die Wespe und die Orchidee vereint, entsteht eine gemeinsame Deterritorialisierung:
die der Wespe, insofern sie ein befreites Stück des Reproduktionsapparates der
Orchidee wird, aber auch die der Orchidee, insofern
sie zum Objekt des Orgasmus der von ihrer eigenen Reproduktion
befreiten Wespe wird. Eine Koexistenz von zwei asymmetrischen
Bewegungen, die auf einer Fluchtlinie einen Block bilden, wobei sich der selektive
Druck verliert. Die Linie oder der Block schafft keine Verbindung zwischen Wespe
und Orchidee, und ebensowenig vereint oder vermischt sie beide: sie geht zwischen
den beiden hindurch und nimmt sie mit in eine gemeinsame Nachbarschaft, in der
die Unterscheidbarkeit der Punkte verschwindet.
- Deleuze, Guattari:
1000 Plateaus. Berlin 1992 (zuerst 1980)
Werden
(3) Heraklit leugnete
überhaupt das Sein. Denn diese eine Welt, die er
übrig behielt — umschirmt von ewigen ungeschriebenen Gesetzen, auf- und niederflutend
im ehernen Schlage des Rhythmus —, zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit,
ein Bollwerk im Strome. Lauter als Anaximander rief Heraklit es aus: „Ich sehe
nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es,
nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land Im Meere des Werdens
und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge, als ob sie eine
starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt,
ist nicht derselbe als bei dem ersten Male." -
Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
|
||
![]() |
||
![]() |
![]() |
|
![]() |
||
|
|
|
![]() ![]() |
![]() ![]() |
|
|