eschleunigung   Wir müssen sehen, wie der Zustand einer ununterbrochenen Veränderung, in den wir einbezogen sind, alle Kräfte und Reserven, über die das Leben verfügt, für sich in Anspruch nimmt. Wir leben in einer Zeit des großen Verzehrs, als dessen einzige Wirkung ein beschleunigter Antrieb der Räder zu erkennen ist. Nun ist es letzten Endes durchaus gleichgültig, ob man sich mit der Geschwindigkeit einer Schnecke oder mit der eines Blitzes zu bewegen vermag — vorausgesetzt, daß die Bewegung konstante, nicht aber veränderliche Anforderungen stellt. Das Eigentümliche unserer Lage jedoch besteht darin, daß unsere Bewegungen der Zwang des Rekordes reguliert und daß der Maßstab der Mindestleistung, die von uns verlangt wird, ununterbrochen an Ausdehnung gewinnt. Diese Tatsache verhindert durchaus, daß das Leben auf irgendeinem seiner Gebiete sich in sicheren und unbestreitbaren Ordnungen zu festigen vermag. Die Lebensführung gleicht vielmehr einem tödlichen Wettlauf, bei dem man alle Kräfte anspannen muß, damit man nicht auf der Strecke bleibt.

Für einen Geist, der nicht in den Rhythmus unseres Raumes hineingeboren ist, haften diesem Vorgange alle Kennzeichen des Rätselhaften, ja wohl des Irrsinnigen an. Es finden hier unter der unbarmherzigen Maske der Ökonomie und der Konkurrenz erstaunliche Dinge statt. So muß etwa ein Christ zu dem Urteil kommen, daß Formen, wie sie die Reklame in dieser Zeit angenommen hat, ein satanischer Charakter innewohnt. Die abstrakten Beschwörungen und Wettkämpfe des Lichtes im Zentrum der Städte erinnern an das stumme und erbitterte Ringen der Pflanzen um Erde und Raum. Dem Auge eines Orientalen muß es rein körperlich und schmerzhaft sichtbar werden, daß jeder Mensch, jeder Passant auf der Straße sich mit allen Kennzeichen eines Wettläufers bewegt. Die neuesten Anlagen, die wirkungsvollsten Mittel stehen nur kurze Zeit; sie werden entweder abgerissen oder aufgebaut.

Infolgedessen gibt es kein Kapital im alten statischen Sinne; der Wert selbst des Goldes ist zweifelhaft Es gibt kein Handwerk mehr, in dem man auslernen, in dem man abgeschlossene Meisterschaft erlangen kann; wir alle sind Lehrlinge. Dem Verkehr und der Produktion haftet etwas Maßloses und Unberechenbares an — je schneller man sich zu bewegen vermag, desto weniger kommt man zum Ziel, und die Steigerung der Ernten und der Gütererzeugung steht zur wachsenden Verelendung der Massen in einem seltsamen Gegensatz. Auch die Machtmittel sind veränderlich; der Krieg an den großen Fronten der Zivilisation stellt sich dar als ein fieberhafter Austausch von Formeln der Physik, der Chemie und der höheren Mathematik. Die ungeheuren Arsenale der Vernichtung gewähren keine Sicherheit; schon morgen vielleicht hat man die tönernen Füße der Kolosse entdeckt. Nichts ist beständig als die Veränderung, und an dieser Tatsache zerschellt jedes Bestreben, das auf Besitz, Zufriedenheit oder Sicherheit gerichtet ist.

Wohl dem, der andere, kühnere Wege zu gehen versteht. - Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 1982 (Cotta's Bibliothek der Moderne 1, zuerst 1932)

Beschleunigung  (2)  Unter meinen Blicken wuchsen die vier Kinder in greulicher Weise in die Höhe. Ich sah, wie sie im Laufe von Sekunden zu Erwachsenen wurden, wie aus den Gesichtern der Männer die Bärte hervorbrachen. So verwandelt und fast nackt — ihre Kinderkleider waren unter dem Druck des rasenden Wachstums geplatzt - wurden diese vier von Entsetzen gepackt. Sie öffneten die Münder, um zu sprechen, aber aus diesen Mündern kam ein seltsames Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte. In dem Wirbelsturm der entfesselten Zeit überstürzten sich die Silben, als liefe eine Grammophonplatte mit rasender Geschwindigkeit ab. Nur zu rasch wurde aus diesen Gurgellauten ein Röcheln und schließlich ein verzweifeltes Geheul.

Die vier blickten sich nach Rettung um, sie sahen uns und stürzten auf das Gitter zu. Aber in ihnen verbrannte das Leben. Als sie nach sieben oder acht Sekunden das Gitter erreicht hatten, standen sie dort als vier Greise — mit schneeweißem Haar und Bart, verwelkt und knöchern. Einem gelang es noch, sich mit seinen skeletthaften Händen an einen der Gitterstäbe zu klammern. Dann brach er zusammen, zugleich mit seinen Gefährten. Vier Tote! Und die elenden Körper dieser armen vier Kinder strömten alsbald einen pestilenzialischen Gestank aus, sie verwesten, das Fleisch zerfiel, die Knochen kamen zum Vorschein. Dann lösten sich unter meinen Augen auch die Knochen zu einem weißlichen Pulver auf. - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt am Main 1985

Beschleunigung  (3)
 

Geschwindigkeit

 

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Verwandte Begriffe
Verlangsamung
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