al   Zuletzt betraten sie eine Welt für sich - ein Tal voll Ablagerungen, dessen Höhenzüge aus dem bloßen Schutt und Geröll von den Knien der Berge gebildet waren. Hier brachte ein Tagemarsch sie scheinbar nicht weiter, als der gehemmte Fuß eines Schläfers ihn in einem Albtraum trägt. Sie umkletterten stundenlang mühevoll einen Buckel, und siehe da, es war nur die Vorstufe eines Vorsockels des Hauptstocks. Ein Wiesenrund entpuppte sich, wenn sie es erreicht hatten, als ein weites Tafelland, das sich bis fern ins Tal dehnte. Drei Tage später war es nur eine undeutliche Erdfalte südwärts.

»Hier leben gewiß die Götter«, sagte Kim, überwältigt von dem Schweigen und dem gewaltigen Ziehen und Schweifen der Wolkenschatten nach Regen. »Das ist kein Ort für Menschen!«

»Vor langer, langer Zeit«, sprach der Lama wie zu sich selbst, »wurde der Herr gefragt, ob die Welt ewig bestehen würde. Hierauf gab der Erhabene keine Antwort ... Als ich in Ceylon war, bestätigte das ein weiser Sucher aus der Lehre, die in Pali geschrieben ist. Sicherlich, seit wir den Weg zur Freiheit kennen, wäre diese Frage nutzlos, aber - sieh, und erkenne den Wahn, Chela! Dies sind die wahren Berge! Sie sind wie meine Berge bei Such-zen. Keine sind wie sie!«

Über ihnen, noch unendlich hoch über ihnen, türmte die Erde sich gegen die Schneegrenze empor, wo von Ost nach West über Hunderte von Meilen hin, wie mit dem Lineal abgeschnitten, die letzten verwegenen Birken abbrachen. Darüber, in Blöcken und Zacken gedrängt, strebten die Felsen, ihre Häupter über den weißen Dunst zu recken. Darüber wieder, wandellos seit Anbeginn der Welt, doch sich wandelnd nach jeglicher Laune von Licht und Gewölk, lag frei der ewige Schnee. Sie konnten Flecken und Tupfen sehen auf seinem Antlitz, wo Sturm und wandernde Wirbel Tänze drehten. Unter ihnen, wo sie standen, zog sich der Wald, blaugrünes Tuch, Meilen und Meilen weit hinab; unter, dem Wald lag ein Dorf im Gesprenkel gestufter Felder und steilen Weidegehegs; unter dem Dorf, wußten sie, obwohl just ein Gewitter dort braute und grollte, stürzte ein Abhang zwölf- oder fünfzehnhundert Fuß in das feuchte Tal hinab, wo die Ströme sich sammeln. - Rudyard Kipling, Kim. Nach  (ki)

Tal  (2)  Wo sich das Leben zurückzieht, drängen Tod und Zerfall nach. Was immer die lebenserhaltende Kraft sein mag, ohne die wir nicht auskommen können, ob Orgon-Energie oder sonstwas - in diesem Tal ist davon nicht viel zu finden. Die Nahrungsmittel werden schon auf dem Rückweg vom Supermarkt schlecht; die Milch wird sauer, ehe man das Glas ganz austrinken kann. Das Tal ist ein Ort, wo die neue lebensfeindliche Macht ihren ersten Brückenkopf gebildet hat.

Die Todesahnung hängt über dem Tal wie unsichtbarer Smog. Die Gegend hat eine eigenartige Anziehungskraft für alles, was am Absterben ist. Die sterbenden Organismen - das Tal zieht sie an wie ein Magnet.  - (jun)

Tal  (3)  Aus der Ferne ertönte ein klagender Schrei, der wie eine Mahnung klang. Was für eine sonderbare Geschichte! dachte er. Noch vor zwei Stunden saß ich im Hotel mit Frau und Kindern beim Essen. Und jetzt bin ich hier in einem unerforschten Urwald, Tausende von Kilometern weit weg, und führe Krieg mit den Indianern. Er blickte sich um. Das war nicht mehr das kleine Tal, in dem Kinder spielen mochten. Das waren auch nicht mehr die kegelförmigen Hügel mit der sanft ansteigenden Straße. Da war kein Hotel und kein roter Tennisplatz. Zu seinen Füßen gewahrte er Schlünde, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, und Felsen, die in ein Meer unbetretener Wälder abstürzten. In der Ferne aber stand die Luft zitternd über der Glut der Wüsten. Und hier vor sich, auf dem Gipfel des Felsens, bemerkte er eine unheimliche Hütte. Ihr finsteres Mauerwerk trug ein Dach, das mit grellweißen, grinsenden Totenschädeln gespickt war. Ja, das war das Land der Geheimnisse, das Land der Mythen, einsam und verflucht - die letzte Wahrheit, die unseren Träumen gegönnt ist!

Eine angelehnte Tür war mit magischen Zeichen bedeckt und stöhnte unter dem Anprall des Windes. Gaspari stand jetzt ganz nahe vor dieser Tür, kaum zwei Meter von ihr entfernt. Langsam hob er den Balken, um ihn auf das andere Ufer des Grabens niederfallen zu lassen.

»Verrat!« schrie im selben Augenblick Sisto und sprang lachend auf. Er trug einen großen Bogen, der offenbar seine Waffe darstellte. Als er Gaspari erblickte, hielt er einen Moment lang verblüfft inne. Dann zog er einen hölzernen Pfeil hervor, spannte ihn in den Bogen ein und zielte.

Aus der Tür mit den magischen Zeichen sah Gaspari jetzt einen Zauberer treten, bedeckt mit höllischem Aussatz. Der richtete sich empor, und seine seelenlosen Augen blickten Gaspari an. Auch er hielt einen Bogen in den Händen, und aus seiner ganzen Erscheinung sprach eine fürchterliche, böse Kraft. Da ließ Gaspari den Balken fallen und wich erschrocken zurück. Doch schon schoß der Zauberer seinen Pfeil ab.  - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt am Main 1985

 

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