ythos  Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.

Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde.

Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.

Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.

Blieb das unerklärliche Felsgebirge. — Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden. - Franz Kafka

Mythos (2) Eine der großen alten Mythenerzählerinnen unter uns ist Anna Seghers, und es gibt eine Geschichte von ihr, die immer wieder zitiert und gelesen und vorgelesen wird, obwohl sie eigentlich doch gar keine sonderlich starke Geschichte zu sein scheint, und die zudem noch einen schrecklich anmutenden Lapsus enthält - das ist die Geschichte mit dem Schilfrohr. Ein ganz einfacher Zusammenhang: Ein verfolgter Antifaschist wird von einer Unbekannten in einem märkischen See verborgen, und zwar mit einem Schilfrohr im Mund, damit er während dieser Stunden auch Luft bekommt - nur: durch ein Schilfrohr bekommt man nicht Luft, das ist innen von Knoten zugewachsen - ein schrecklicher Fehler, nicht wahr? Aber seltsam - dennoch, und ich wage zu sagen: gerade deshalb blüht die Erzählung auf und wird groß. Denn statt des langweiligen und für die Dichtung hier gänzlich gleichgültigen botanisch Richtigen der Schilfhalmanatomie ist etwas unvergleichlich Anderes, Größeres, Unsterbliches in diese Prosa gekommen: die Natur selbst nimmt diesen Flüchtling auf, sie schließt ihn in ihrem mütterlichsten Reich ein, im See, im Wasser, im Uterus, das ist ein uraltes Mythenmotiv, in zahllosen Märchen kommt es vor, der Held, der sich am Grund des Sees versteckt - Mutter Erde selbst verbirgt ihn, so gerecht ist die Sache gegen die Nazis, so groß ist die Kraft der Schwachen -, es ist ein Unsterblichkeitszug.

Das botanisch Richtige ist etwas ganz Anderes - und das kann man in jedem Lehrbuch finden, und in diesem Zusammenhang darf an das Wort Goethes zur Literatur erinnert werden: «Das Richtige allein ist nicht sechs Pfennige wert, wenn es weiter nichts zu bringen hat!» -  Franz Fühmann, Das mythische Element in der Literatur. 1975

Mythos (3) Ein perverses Huhn hatte die mythologische Geschichte von Kronos gelesen, der seine neugeborenen Kinder verschlang. Während seine Mithühner auf den Wiesen nach Körnern und Würmern suchten, nahm es das Ei, das es gerade gelegt hatte, kochte es weich und fraß es mit Genuß, mitsamt der Schale, zur großen Empörung des ganzen Hühnerhofs.  - (ma)

Mythos (4) Im übrigen hält sich bei uns eine Form der Tätigkeit, die es uns auf technischem Gebiet sehr wohl ermöglicht, das zu begreifen, was auf dem Gebiet der Spekulation einmal eine Wissenschaft sein konnte, die wir lieber eine »erste« als eine primitive nennen wollen: die Tätigkeit nämlich, die allgemein mit dem Ausdruck bricolage (Bastelei) bezeichnet wird. In seinem ursprünglichen Sinn läßt sich das Verbum bricoler auf Billard und Ballspiel, auf Jagd und Reiten anwenden, aber immer, um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen: die des Balles, der zurückspringt, des Hundes, der Umwege macht, des Pferdes, das von der geraden Bahn abweicht, um einem Hindernis aus dem Weg zu gehen. Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind. Die Eigenart des mythischen Denkens besteht nun aber darin, sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muß es sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat nichts anderes zur Hand. Es erscheint somit als eine Art intellektueller Bastelei, was die Beziehungen, die man zwischen mythischem Denken und Bastelei beobachten kann, verständlich macht.

Ganz wie die Bastelei auf technischem, kann das mythische Denken auf intellektuellem Gebiet glänzende und unvorhergesehene Ergebnisse zeitigen. Umgekehrt hat man oft den mythopoetischen Charakter der Bastelei bemerkt: sei es nun auf dem Gebiet der sogenannten »rohen« oder »naiven« Kunst, sei es in der phantastischen Architektur der Villa des Briefträgers Cheval, der Dekors von George Méliès, oder auch der von Charles Dickens in seinem Roman »Great Expectations« unsterblich gemachten, doch zweifellos durch Beobachtung inspirierten Architektur des Vorstadtschlosses von Mr. Wemmick mit seiner Miniatur-Zugbrücke, seiner Kanone, die neun Uhr ankündigt, und seinem Salat- und Gurkenbeet, dank dessen die Verteidiger eine Belagerung aushalten könnten, wenn es nötig ware... - Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Frankfurt am Main 1973 (zuerst 1962)

Mythos (5)

Mythos (6)  Der wache Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der älteren Griechen, ist durch das fortwährend wirkende Wunder, wie es der Mythus annimmt, in der Tat dem Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers. Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter der Hülle eines Stieres ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene selbst plötzlich gesehn wird, wie sie mit einem schönen Gespann, in der Begleitung des Pisistratus, durch die Märkte Athens fährt — und das glaubte der ehrliche Athener —, so ist in jedem Augenblicke, wie im Traume, alles möglich, und die ganze Natur umschwärmt den Menschen, als ob sie nur die Maskerade der Götter wäre, die sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den Menschen zu täuschen.   - Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

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