erfall  Kaum war das Atom als Hauptbestandteil der Materie etabliert, als Grund-Einheit, die schon in ihrem Namen Unteilbarkeit signalisiert — da zeigte sich, daß das Atom aus Elektronen besteht, die um einen Kern kreisen, der seinerseits unverzüglich in Neutronen und Protonen zerfällt. Zugleich erkannte man sehr bald, daß man immer noch nicht an die eigentliche, letzte Wirklichkeit gerührt hatte. In immer stärkeren Beschleunigern zerlegte man Protonen und Neutronen und konnte in ihren Uberresten andere Teilchen nachweisen, die auch »elementar« waren — Psions, Lambdas, Sigmas, Rhos —, bis heute insgesamt über 400. In den siebziger Jahren entstand die Quanten-Chromodynamik, die in dieser Überfülle noch elementarere Bestandteile der Materie nachwies, die Quarks. Bestimmte Teilchen (die Baryonen) zerfallen in drei Quarks, andere (die Mesonen) in ein Quark und ein Antiquark. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buches sind fünf verschiedene Quarks bekannt, und man vermutet, daß es noch ein sechstes gibt, was der Phantasie schon freien Lauf läßt. Ubrigens gibt es sechs andere Teilchen mit dem Spin 1/2 (die Leptonen), die nicht in Quarks zerfallen, namentlich das Elektron und die Neutrinos. Geht man zu Teilchen mit dem Spin 1 über, so findet man ein Dutzend weiterer, nämlich das Photon, die Gluonen (acht) und die W (drei). Man hat es also mit 26 elementaren Bestandteilen zu tun, die in verschiedener Kombination alle Varianten von beobachteten Teilchen erklären müßten, und im Augenblick scheint das Bild komplett zu sein — bis zu dem Zeitpunkt, wo eine anspruchsvollere Theorie das Bild über den Haufen wirft. -  Ivar Ekeland, Zufall, Glück und Chaos. Mathematische Expeditionen.  München 1996 (zuerst 1991)

Zerfall (2) Die Physiker kennen eine Vielzahl von Strukturen (Teilchen oder Atomkerne), die nur eine begrenzte und gelegentlich extrem kurze Lebensdauer besitzen. Nach einer gewissen Zeit verwandeln sie sich in andere, leichtere Gebilde, bis schließlich ein stabiler Zustand mit unendlicher Lebensdauer erreicht ist. Man spricht hier von einem Zerfall der Teilchen. - (thes)

Zerfall (3) Bei den Adligen ist die Ehre das allerwichtigste. Warum wurde Polen in Stücke gerissen? Weil jeder Adlige König sein wollte. Sagte im Sejm ein Adliger, es sei Sonntag, so schrie ein anderer, es sei Montag. Als die Kosaken Polen angriffen und ganze Dörfer abschlachteten, lagen die Herren betrunken in ihren Schlössern und bekämpften einander. Als der Feind sich näherte, zwirbelten die Herren ihre Schnurrbärte, kleideten sich in Zobelpelze wie für einen Ball, hängten sich Säbel um, jeder eine Tonne schwer, und trugen sogar Goldketten um den Hals. Ihre Pferde waren fett und faul. Der Herr ritt in den Krieg mit seinem Gefolge, das auf Trompeten blies! Der Kosak war leicht wie eine Feder und sein Pferd flitzte wie der Pfeil vom Bogen. Er war schnell wie der Teufel, schlug dem Herrn den Kopf ab und spießte ihn auf seine Lanze. Auf diese Weise zerfiel Polen. - Isaac Bashevis Singer, Der Schneesturm. In: I.B.S., Der Kabbalist vom East Broadway. München 1978 (zuerst 1972)

Zerfall (4)

Wo der Rubel in einzelne Kopeken
zerfällt oder der Dollar in Cents,
oder die DMark in Pfennige wie
der Gulden, wo die Lire zerfallen

wie der Franc in Centimes und das
englische Pfund in den Knaster der
spanischen Münzen, wo die Ostmark
in Augenfalten zerbricht und ein

Traktor im Kerzenlicht steht, wo der
schwedische Öre in Versicherungen
zerfällt wie Weltreiche, wo der Stör
in den Flüssen stirbt und der Hering

in der Nordsee, wo die Entfernungen
zwischen den Städten wachsen wie der
Zerfall zwischen den einzelnen Städten,
wo der Yen in den Cruzeiro gewechselt

wird, wo zuviel in die Seife investiert
ist, wo die bulgarischen Konservendosen
in Argentinische Tratten verwandelt
werden, zerfallen wie die finnische

Währung, wo Wälder die Flüsse runter
geflößt werden, wo Knochenmehl zu
Kunststoffen wird, wo Summen kopiert
werden, wo die Flußgänse zu Slotys werden

und in schwarzem Aspik eingefroren sind,
wo der Dinar die Kamele antreibt, das
Mais auf den Feldern verfault, zerfallen
wie Zähne, die gewechselt werden, wo der

Peso verreckt, die schwarze Unterwäsche
hebt, zerfallen wie Banderolen, in was
für Münzen die Gesichter auch zerfallen,
in welche Notdurft, Pisse, Lehmwege, Rast

Räume und Bettlaken, wo die Armee
das Studium der Gedichte finanziert, wo die
technischen Institute die Welt erklären, das
zuckende Herz einer Schildkröte, an

Fäden befestigt, zur Schau gestellt ist,
wo die Lizenzen Grenzen ziehen, zerfallen
in Tierbilder, wo Unterschriften benötigt
werden, Testamente, Konten, wo die Bank

Feiertage zum Aufatmen da sind, die Fahnen
herausgehängt werden, den Tag zu drapieren,
wo das Karbid stank, wo die Flaschen zerplatzten,
wo die Trümmer herumlagen und die Tätowierungen,

Die Konzerne wuchern wie Massenmedien,
die Gesteinsbrocken und Trümmer sind bei
Seite geräumt, der Schmerz und die Trauer
verhökert, zerfallen in Monatsgehälter,

wo gibts noch was zu tun, das Gespenst
der Arbeitslosigkeit treibt sie zusammen,
das Gespenst der Besitzenden, das Gespenst
der Angestellten, wo alle damit beschäftigt

sind, diese Welt zu verwalten, oder was sie
für diese Welt halten, Fälle, zusammengetrieben
in den Büros, aber die Büros zerfallen, wo
die Zimmer viele Türen haben und gläserne

Wände, die Aufzugschächte zerfallen, die
Passagen zerfallen, zertrümmerte Schau
Fenster, Schimmelpilzkulturen, wilde
Vegetation, dazwischen Schaufenster

Puppen, Ratten huschen durch lange
zerfallene Passagen, Ratten durch die
leeren bleichen Korridore der Hochhäuser,
wo die letzten Krüppel noch zusammen

getrieben werden, alle zusammengetrieben,
diese Welt zu verwalten, diese Mauern,
Maschendrahtzäune, Eingänge, die Klassen
Räume, wie zerfallene Swimming Pools,

wie Unterschriften, die zerfallen, wo
nachts in den Hochhausapartments die
Kinder schreien, furchtbar gefesselt
an die Stille, wo die Kinder die Baby

Nahrung wieder auskotzen, wo die Körper
nebeneinander im Dunkeln liegen und
onanieren, um in den Schlaf zu kommen,
endlich erschöpft und leer, zerfallen

wie das Gesicht einer Fernsehansagerin
im halbirren Traum, die neue Ankündigungen
macht in verschiedenen Stimmen wie auf
zerkratzten Schallplatten, zerfallen

wie Schillinge, wo aus dem verdrehten
Schmerz Witze in einer Mundart entstehen,
beklatscht von den Reihen, wo die Reihen
endlich zerfallen, wo eine Radiosprecherin

ihren Tampon aus dem haarigen Loch zwischen
den Beinen auf der Toilette der Anstalt
des öffentlichen Rechts zieht, in einer
Pause, wo Gedichte gelesen werden, wo die

Sonntage endlos sind, zerfallen wie kranke
Lungen, wo gesprochen wird, das ist nicht
dein Gesicht, das ist nicht dein Gesicht,
wo die Münzen in Gesichter zerfallen, alte

Gesichter, tote Gesichter, abgehärmt und
häßlich auf den Scheinen, die zerfallen, wo
wir gehen, einfaches Tageslicht glitzert
in den Regenpfützen, glitzert in den

tropfenden Bäumen, Freude, das Erstaunen
der Augen, wo du lachtest, als du deinen
Wohnwagen sahst, das schöne Lachen totalen
Unverständnisses, als du die Wagentür auf

machtest, wo die Schecks die Umgebung
zersetzten, Papier in Nickel zerfiel, zer
fallen wie eine Währung aus schwarzer
Traumschlacke, die bei der nächsten

Berührung zerfällt, wo eine Frau keine
andere Möglichkeit hat als vorwärts
durch die Büsche, wie Bolivar in Centimos
zerfällt, wo du vielleicht im Traum bist,

es ist Zeit, daß wir einander mehr Geschichten
erzählen, wo man nicht mit dem Rücken zur
Wand steht, sondern in der offenen Tür, im
Tageslicht, das nicht zerfällt wie die wellige

Ebene mit kreisenden, trägen Hühnergeiern
darüber, schwarze ruhige Bewegungen, klar
in der Luft, wo der Himmel nicht mehr
in das Bild paßt und mit den Wolken

im Fenster weiterzieht. Wer ruft durch
die vereisten Wälder? Wer wandert durch
die verschneiten Säle? Wer friert und
kauert zusammengezogen auf dem endlosen

Umsteigebahnhof, wo die Rupien zerfallen,
umgewechselt in Dirham, Visagen darauf, Wahr
Scheinlichkeitsrechnungen, Hundeknochen,
der Tod eine weiße Erscheinung in einem

weißen unsichtbaren Zelt, Jeepspuren mit
Staubwolken hinter sich her schleppend,
der Tod ist ein ausgetrocknetes Kamel
Gerippe am Wegrand, der Tod ist ein

toter Skunk auf dem Highway, der Tod
ist eine tote Katze auf dem leeren
Parkplatz, der Tod sind die langen
Reihen der Anzüge auf der verchromten

Stange in der nächsten Herrenabteilung,
der Tod ist ein umgeschlagener
Baum, wo die Schattenschuhe liegen, aus
gelatscht, wo die Häuser keine Wände

mehr haben, wo die elektrischen Lichter
in den Zimmern umherwandern, Kernzerfall,
Multiplikationen, Brillengläser, hinter den
Eisblumen am Fenster ist das Buch zugeklappt

und ein Gesicht weint, ein Gehirn wird
geöffnet, der Rausch einer dunklen, klaren
Winternacht ist mit Sternbildern illuminiert
und stürzt nicht ab, wo der Tod ein ausge

trocknetes Flußbett ist, weißes Geröll
und die Ebene fliegt, du siehst das,
wir sahen sie ausgebreitet, die Ebene,
weiß im Scheinwerferlicht vorüberfliegend,

ich ging zurück in das schnell errichtete
Apartment, die Träume fortführend, die Ebene
weiß, ich starrte in den Aluminiumtopf, auf
den Rest Broccoligemüse unterm Licht,

weiß zieht die Ebene vorüber mit den
leichten Zeichen, die wir machen, wo eine
dreckige, rachitische Klaue eine saubere
Hand ist, die über den Mahagonitisch

streicht, sie hat die vielen Tagträume
ausgeräubert, nun liegt sie rachitisch
verkrümmt auf der sauberen Fläche, wo der
luxemburgische Franc zu malaiischem Dollar

wird, der in kubanische Pesos zerfällt,
wer scheißt Geld aus und läßt einen Wald
absterben, damit er in den Comics erscheint,
massiert am Strand, der mit Fußangeln und

Selbstschüssen, von Hubschraubern bewacht,
markiert ist, wer schleppt seinen Koffer
durch den Busbahnhof, wer wirft eine Münze
in den Fernsehautomaten, wer blättert in

den psychoanalytischen Zeitschriften,
einen Fall zu klären, wer interpretiert
die Welt, wer interpretiert den nächsten
Bauzaun, wer interpretiert das Apartment,

Schatten von Menschen in den Asphalt
gebrannt, Steine mit Menschenschatten zur
Besichtigung freigegeben, Flugaufnahmen der
Landschaft vom Kriegsministerium für Post

Kartengrüsse freigegeben, wer freigibt, glaubt
ein Recht zu haben auf die Einzäunungen,
wo die Piaster Schrott sind, die Poesie ist kein
Wartesaal, worin man übernachtet, müde,

vor sich eine ausgebreitete Tageszeitung
mit dem Gewimmel des Krieges, jedes Wort ist
Krieg, Schrottwörter wie der Tod, zu Herden
zusammengetrieben, ohne Unterscheidungen,

hätte ich mit deiner Frau schlafen
sollen, hätte ich mehr Illustrierten haben
müssen, hätte ich die Spülmaschine benutzen
sollen, hätte ich den Kinoreklamen folgen

müssen, filigranes Grau hypothetischer Fragen,
Ranken, Zementverzierungen, wo die Träume
absterben wie Ebenen, ein Kanister am
Haifisch, der tägliche Blick aus dem

Fenster in diese Seitenstrasse, die du
nicht kennst, wo der Dollar in Kopeken
zerfällt und der Rubel in Cents, wo aus
den Knochen die Peseten gewonnen werden,

doch die Freude ist größer als die
Trauer, die Drachme ist kleiner als die
Lust, zerkleinert zu hundert Lepta, die
bei der nächsten Gelegenheit verschwinden,

wo aus den Sehnen die türkischen Pfunde
gezogen werden, zerfallen, zerfallen in den Bauten
des 19. & 20. Jahrhunderts in Westdeutschland,
Verlängerungen, Tratten, Obligationen, alles

dasselbe, verhökert, ausgelatscht, geschunden,
noch einmal verhökert vom Fernsehen, von der
Serie, von der Musikbox. Sanftes Gesicht,
du hast inmitten der Menge den zuckenden

Körper gesehen, auf einmal war das
Konzert vorbei, hast du gestammelt, hast
du, wo die Gänge aus Beton sind, geweint,
wo die Boxen dröhnten, wo die Gesichter

in Traumfalten zerbrachen, wo die Stadtpläne
weiße Flecken haben, wo die Farbe Weiß keines
wegs der Tod ist, wo das Hundefell nicht wärmt,
wo die Wege enden, Elfenbeinküste ist ein

fantastisches Wort, Tätowierungen,
Narben, Umzüge, Auszüge, vielen Dank.

- (west)

Sterben Ganze, Das 
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Verwandte Begriffe
Entstehen
Synonyme
Verfall