Endlich sehen wir oft, wie ein Mensch
allmählich davongeht |
- (
luk
)
Absterben (2) Nachdem es mir gelungen war, mich zu verabschieden, schlenderte ich weiter durch die Stadt und zum Marktplatz. Ich hatte keine „Visionen", sah und hörte alles wie sonst, und doch war alles auch auf eine unbeschreibliche Art verändert; „unsichtbare gläserne Wände" überall. Mit jedem Schritt, den ich tat, wurde ich automatenhafter. Besonders fiel mir auf, daß ich die Herrschaft über meine Gesichtsmuskulatur immer mehr zu verlieren schien - ich war überzeugt davon, daß mein Gesicht völlig ausdruckslos, leer, schlaff und maskenhaft erstarrt sei. Ich konnte nur noch gehen und mich bewegen, weil ich mich erinnerte, daß und wie ich „früher" gegangen und mich bewegt hatte. Aber je weiter die Erinnerung zurücklag, um so unsicherer wurde ich. Ich entsinne mich, daß mir meine eigenen Hände irgendwie im Wege waren: ich steckte sie in die Tasche, ließ sie baumeln, verschränkte sie auf dem Rücken . . . wie lästige Objekte, die man mit sich herumschleppen muß und nicht recht zu verstauen weiß. Mit meinem ganzen Körper erging es mir so. Ich wußte nicht mehr, wozu er da sei, und nicht mehr, wohin ich mit ihm sollte. Der Sinn für Entscheidungen jeder Art war mir abhanden gekommen, und ich mußte sie erst mühsam auf dem Umweg über die „Erinnerung an früher" rekonstruieren, so auch die kurze Strecke vom Marktplatz zu meiner Wohnung, wo ich um 15.10 Uhr wieder eintraf.
Ich hatte bisher keineswegs das Gefühl gehabt, berauscht zu sein. Was ich
erlebte, war vielmehr ein allmähliches geistiges Absterben. Es hat nichts Schreckliches
an sich; aber ich kann mir denken, daß sich in der Übergangsphase zu gewissen
Geisteskrankheiten - natürlich auf größere Zeiträume verteilt - ein ganz ähnlicher
Prozeß abspielt: solange die Erinnerung an die einstige eigene Existenz in der
Menschenwelt noch vorhanden ist, kann sich der beziehungslos gewordene Kranke
in ihr noch (einigermaßen) zurechtfinden; später jedoch, wenn die Erinnerungen
verblassen und schließlich erlöschen, verliert er die Fähigkeit völlig. - Rudolf Gelpke (1962), nach: Albert Hofmann,
LSD - mein Sorgenkind (1979)
Absterben (3) Es überraschte ihn nicht, daß zuerst die Lippen pelzig wurden. Die waren auch zuerst lebendig, haben zuerst zugelangt und empfunden. Die waren immer sein Lebendigstes. Sein "Wärmstes. Erlebnisreichstes. Jetzt wurden sie ihm fremd. Waren schon aus Wachs. Noch mit Rissen. Das allerletzte Lippenerlebnis. Jetzt schon weg. Der Mund nur noch ein unumgrenztes Loch. Vielleicht sah er dieser wegschrumpfenden Lippen wegen schon wie ein ganz alter Stallhase aus. Besser, er verbarg sein Mundloch jetzt vor Orü. Die schaute sowieso schon übermäßig interessiert. Dann verlor er die Hände, die Arme. So wird man von Ameisenheeren erobert. Wo ein Ameisenbein aufsetzt, ein kribbelnd kleiner Stich, dann ist die Haut tot, man spürt die Stelle nicht mehr. Man spürt die nächste. Der Schweiß, den er da und dort noch kalt und klebrig werden fühlt, ist eine Art letzter Meldung aus bedrohten Bastionen, die den Funkverkehr gleich einstellen werden. Er schnauft dagegen an. Wenn er jetzt nicht aufpaßt, hört er nämlich auf zu atmen. Offenbar ist da innen schon eine Stelle, die fürs Atmen wichtig ist, in fremder Hand. Also atmet er selber. Er läßt sich doch nicht die Luft nehmen. Er wird durch prachtvolles Atmen, durch rauschendes Schnaufen wird er die innere Stelle wieder mitreißen, zurückerobern, bis da drin wieder freiwillig und von selbst geatmet wird. Falls ihm das nicht gelingt, kann er nie mehr an etwas anderes als an das Atmen denken. Sobald er nicht ans Atmen denkt, hört er auf zu atmen. Offenbar hat er jetzt schon zu sehr daran gedacht. Schnauft wie beim Bergsteigen. So kriegt er am Schluß überhaupt keine Luft mehr. Also langsamer. Ihm fehlt der Takt. Er brauchte einen Atemdirigenten. Einen Sportlehrer. Einen Metronom. Schon wieder zu hastig. So schnauft er sich kaputt, das hält er nicht durch. Andererseits braucht er die Luft. Er hat nichts von all der Luft. Als hätte die einer ausgeatmet. Also mehr davon. Und zählen. Er hat doch seinen Puls. Einundzwanzigzweiundzwanzig. Aber wie schnell ist einundzwanzig. Einundzwanzig ist nichts. Er ist schon wieder zu schnell. Klar. Ganz klar. Ihm fehlt der linke Arm und die linke Schulter. Da hat er zwei Röhren. Eine senkrecht, eine waagrecht. Heiß und aus Stahl. Vom Gerüstbau. Da hinaus verblafft alle Luft. Aha, und das Herz, endlich sieht er mal sein Herz, morgen werden's alle sehen und werden in ihrer mittelalterlichen metaphorischen Art behaupten, so hätten sie sich sein Herz immer vorgestellt, so klein, immer kleiner werdend, ein richtiges Schrumpfherz, und hart, so hart, und immer härter werdend, also wirklich, ein Herz aus sprödem, geradezu splitternd sprödem Stein, das ist aber interessant, Orli sieht es offenbar auch, und mit Schrecken, er aber möchte, Orli, nimm ihm doch bitte zuerst den Berg von der Brust, der drückt ihm die schneidenden Stahlröhren ins Fleisch, und leite, bitte, den jungen Rhein ihm sofort ins Gesicht, Orli, daß die Heuschreckenheere ersaufen, die ihn jetzt abgrasen, verstehst Du, ohne Luft, wie soll er Dir mehr sagen, er ist verlegen, so.
Orli schreit, der Doktor kommt, Adrenalin dem Herzen frommt.
Orli sieht die Spritze tiefer dringen, Anselm hört die Englein singen, darf
mit seinen blauen Lippen schon an Charons Schapfe
nippen. Witternd rennt Herr Nutz herein. Hier muß wo was Totes sein! Stimmt,
Bestattungsorder Nutz, doch diese Leich gehört schon Dr. Stutz: Körperhöhlen
von Fremdkörpern leer, abhängige Partien starr und totenschwer! Unterschrieben
ist der Totenschein, bloß der Sarg will noch geliefert sein. Ach das trifft
sich aber gut, Nutz hat nen Sarg dabei, drin ruht auch der, der nirgends Ruhe
fand, Eiche der Boden, Eiche die Wand. Gnädige Frau, wo überführ'n wir ihn hin?
- Martin Walser, Das Einhorn. Frankfurt am Main
1966
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