Tal, ungenaues    Wenn ihr wissen wollt, wie ein solches Tal angelegt ist; wenn ihr eine Karte, einen geographischen Bericht, eine Topographie von mir verlangt, dann ist es allerdings nicht so einfach; ja, ich muß mich wohl sogar geschlagen geben, aber ohne Verzweiflung, ohne Kummer, im Gegenteil, nicht ohne mich ein wenig zu amüsieren: denn es ist gewiß für niemanden leicht, das ungenaue Tal zu beschreiben; auch nicht für einen, dessen Los es ist, sein ganzes Leben dort zu verbringen. Das Los? Ja, eben. Nicht zu wissen, an welcher Stelle man sich eigentlich befindet und in welcher Entfernung von dem, was einem im übrigen nahe oder fern vorkommt, das kann einen je nach Laune ermüden oder erfreuen; oder beides auf einmal, wie es mir geschieht und immer geschehen wird. Eine Karte kann es somit nicht geben; wohl aber läßt sich etwas beschreiben, das ich das Verhalten des Tals nennen möchte; so wie sich von einem gehenden Ochsen keine Karte anfertigen läßt, ich aber beschreiben kann, aufweiche Weise er seine schweren Füße aufhebt, wie er ganz eigen seinen Kopf gesenkt hält, und wenn er wiederkäut, aufweiche Weise, und wenn er brüllt, kann ich es nachmachen: muuuuh. Eine Karte gibt es von unbewegten Dingen, nicht von bewegten und wandelbaren.

Jetzt stehe ich auf der Schwelle dessen, was ich Schlafhaus nenne: ein zu einer bequemen Lagerstatt fähiges Zimmer; es ist einer der Orte, wo ich schlafe. Einer der Orte: denn ich verfüge in diesem Tal über eine Anzahl von Schlafhäusern, die mir nicht klar ist - nichts ist klar in diesem Tal -, die aber zwischen sieben und zehn liegen dürfte. In der Richtung, in die ich weise, steht noch eine Hütte, die ebenfalls ein Schlafhaus ist; nur daß es keineswegs gesagt ist, daß sie dort steht, wo wir meinen, oder daß sie, auch wenn sie jetzt dort steht, nicht verschwunden oder anderswohin übersiedelt ist, sobald wir sie erreicht zu haben glauben. Über das ganze Tal sind viele Wohnstätten verstreut: alle winzig, aber voneinander verschieden in Bauart und Bestimmung; manche erscheinen einem Auge wie dem meinen als Bauwerke, auf denen ein hohes Alter lastet, und die in ihrer Baufälligkeit eher - mit der gewohnten Beredsamkeit - zu bewundern und zu kommentieren sind, als zu bewohnen, andere sind saubere, solide Gebäude, erst kürzlich von einem guten Maurerpolier errichtet. Jedes Gebäude ist also für etwas anderes bestimmt: Manche, wie etwa das, welches ich vorhin im Rücken hatte und das jetzt, ich weiß nicht wohin, weggelaufen ist, sind meine Schlafhäuser; andere sind Speisehäuser, wo ein Tisch mit meinem Essen für mich gedeckt ist, sofern es mir gelingt, dort einzudringen.  - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997

Tal Ungenauigkeit

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