erspektive  Ein Blick auf das, was in der Begegnung mit fremden Kulturen seit je überrascht hat, ist nützlich. Herodot ist dafür eine einzigartige Quelle. Er hat mit einem Satz einen Schock wiedergegeben, der für die Griechen nicht ohne Wirkung gewesen sein kann. Er berichtet über den Bau des berühmten Kanals durch den Pharao Nekos in das Rote Meer, der sein Wasser vom Nil bekam. Bei den Bauarbeiten seien allein hundertzwanzigtausend Ägypter umgekommen. Dann unterbrach er die Arbeiten, weil ein Orakelspruch ihm Verderbliches verkündete: er mache da nur Vorarbeit für die Barbaren. Und Herodot fügt hinzu: Barbaren nennen die Ägypter alle, die nicht mit ihnen die Sprache gemeinsam haben. Das muß für seine Leser ein schwerer Schlag gewesen sein, da sie doch selbst von dieser perspektivischen Überheblichkeit Gebrauch zu machen pflegten. - (blum2)

Perspektive (2)  In seinem Atelier zeigt mir Giorgio de Chirico ein Album mit Reproduktionen seiner Bilder. Unter jeder dieser Reproduktionen benennt eine Notiz, die er selbst verfaßt hat, das Thema des Werks: sei es mit einer bündigen Beschreibung desselben, sei es mit einer Darlegung des Sujets, dem er malend Gestalt geben wollte. Es stellt sich heraus, daß diese Texte, zusammenhängend gelesen, eine Folge von kurzen Gedichten bilden.

Als ich erwache, habe ich ein einziges Fragment aus einem von ihnen behalten: ». . . geängstigt und angsterfüllt« (was nicht eine bloße phonetische Spitzfindigkeit ist, sondern durch die Nuance, die der Unterschied der beiden ersten Vokale impliziert, eine Vielzahl entlegener Bedeutungen ins Spiel bringt).

Eines der Bilder trägt den Titel Der Finger Jupiters durchdringt die Scheidewand. Auf der Leinwand ist ein leeres Zimmer dargestellt, dunkel, mit zurückweichenden Wänden. Aus dem Mauerwerk zur Rechten ragt ein riesenhafter Finger hervor, ein Zeigefinger (vermutlich) oder auch Mittel- oder Ringfinger. Kein klarer Unterschied zwischen dem fast in Trompe-l'œil-Manier abgebildeten Raum und dem, in dem ich mich befinde.

In einem anderen Traum (den ich vor Jahren träumte, jedoch nicht, auch nicht annäherungsweise, zu datieren vermag, denn ich habe ihn in keinem meiner Hefte vermerkt) betrachtete ich ein kubistisches Stilleben, das in einem Museum oder in einem anderen Ausstellungsraum hing. Plötzlich war mir, als ob meine ganze Person darin einginge, als ob mein Wesen selbst sich, durch meinen Blick vermittelt, darauf übertragen hätte, und mich packte die Angst: Wenn die Welt wirklich so ist, eine Welt ohne Perspektive, wie soll ich es dann anstellen, darin zu leben? - (leiris)

Perspektive (3) Für den arabischen Beduinen ist die Hölle ein sonnenheller Himmel, und die Sonne ein starkes, knochiges weibliches Wesen - böse, alt und voller Neid auf das Leben -, das die Weiden und die Haut von Menschen austrocknet.

Der Mond hingegen ist ein wendiger, energischer junger Mann, der über den Schlaf des Nomaden wacht, ihm bei nächtlichen Wanderungen den Weg weist, der den Regen bringt und den Tau von Pflanzen tröpfeln läßt. Er hat das Pech, mit der Sonne verheiratet zu sein. Nach einer einzigen Nacht mit ihr nimmt er ab und ist aufgezehrt. Er braucht einen Monat, um sich zu erholen. - (chatw)

Perspektive (4)  Das Leben hat die Eigentümlichkeit, von vorn gesehen sehr konfus, kapriziös zu sein, weswegen es schwer ist zu prophezeien; von hinten dagegen, historisch gesehn, bietet es einen streng folgerichtigen Aspekt, der leider dem Lebenden nichts mehr nützt. - Alfred Döblin, Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall. München 1982 (dtv 10035, zuerst 1934)

Perspektive (5)  Wie über Henri Butron in den Wochen nach seinem Tod geurteilt wurde

EDDY ALFONSINO

Ich habe ihm eine Rolle in einem meiner Kurzfilme gegeben, der in Hyères gezeigt worden ist. Ich habe nicht viel zu sagen, außer, daß er nicht der Typ war, sich zu erschießen. Achtung, damit will ich nichts behaupten. Wenn die Bullen sagen, er hat sich eine verpaßt, dann soll's mir recht sein. Ansonsten, ein ehrlicher Typ. Zu vertrauensselig. Ich kannte ihn kaum, wohlgemerkt. Die Presse will aus mir die letzte Person machen, die ihn lebend gesehen hat. Das stimmt vielleicht, aber ich war weder sein bester Freund noch sonst was. Da müßt ihr andere fragen. Geht mir nicht auf den Sack!

ANNE GOUIN

Er war ein ziemlich faszinierender Mensch. Jämmerlich, wenn er den harten Mann spielen wollte, aber hart, wenn man Mitleid mit ihm hatte. Eine Art eiskalte Verachtung allem gegenüber, absolut allem. Wenn er intelligent gewesen wäre, dann hätte er was von Stirner an sich gehabt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber er war nicht intelligent.

BEN DEBOURMANN

Butron war eine miese kleine Ratte. Das habe ich erst später gemerkt, als ich erfuhr, welche Rolle er in der Affäre N'Gustro gespielt hatte. Er war ein echter Nazi. Eine Ratte. Eine miese kleine Ratte.

JACQUIE GOUIN

Er ist das Produkt einer Epoche und eines bestimmten Milieus. Ich habe ausführlich darüber in meinen Artikeln geschrieben. Das erklärt alles, denke ich. Verachtung für jede Form der Autorität. Voller Haß. Von einem fürchterlichen Haß. Hassen, das ist anstrengend.

KOMMISSAR GOÉMOND

Man sah gleich, daß er ein hoffnungsloser Fall war. Er hatte einen Ekel gegen alles. Und keinen Anstand. Man sah gleich, daß es schlimm enden würde. Ich habe seinen Vater gut gekannt, ich bin froh, daß er das nicht mehr erleben mußte. Und größenwahnsinnig außerdem. Der Fall Butron, das ist letzten Endes ein pathologischer Fall. - Jean-Patrick Manchette, Rette deine Haut, Killer. Bergisch Gladbach 1990 (zuerst 1971)

Perspektive (6, tierische)  So fröhlich sich die Wissenschaft gab, deren sich Nietzsche befleißigte, lustig waren die Sätze nicht, die er den Tieren bei ihrer Rezension des Menschen zugestand: »Die Tiere betrachten die Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat, - als das wahnwitzige Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier.« Die Tiere erfuhren, wie Mensch und Tier zusammenrückten: »Wir leiten den Menschen nicht mehr vom Geist ab. Wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt.« Aber dieser Mensch ist ein Tier der Superlative: »Er gilt uns als das stärkste Tier, weil das listigste... der Mensch ist das mißratenste Tier und das krankhafteste«, oder auch »das leidgewohnteste« und »das mutigste Tier, damit überwand er jedes Tier«.

Daß der Mensch ein verrückt gewordenes Tier ist, dem stimmten die Tiere aus Erfahrung zu. Aber es ist was anderes, damit rechnen zu müssen, daß die Verrückten die Macht in den Händen haben.  - Friedrich Nietzsche, nach (loe2)

Perspektive (7, tierische 2)  »Wilson und Pilcer und Snack standen vor einem Zoo-Elefanten.

Wilson sagte: ›Wie heißt er? Kommt er aus Asien oder Afrika? Wer füttert ihn? Ist es ein er oder eine sie? Wie alt ist der? Haben Elefanten auch Zwillinge? Wieviel kostet so eine Fütterung? Wie schwer ist der? Wenn er stirbt, was kostet ein neuer? Wenn er stirbt, was machen die mit den Knochen, dem Fett und der Haut? Wozu ist der nützlich, außer dafür, daß man ihn anschaut?‹

Pilcer hatte keine Fragen. Er murmelte etwas in sich hinein: ›Das ist ein Haus für sich, mit Wänden und Fenstern, die Ohren kommen von riesigen Getreidefeldern, mein Gott; der Architekt solcher Beine, war das ein Handwerker, bei Gott, er steht da wie eine Brücke, die sich über ein tiefes Wasser spannt; das Gesicht ist traurig und die Augen freundlich; ich weiß, Elefanten mögen kleine Kinder.‹

Snack sah hin und her und sagte zuletzt zu sich: ›Außen ist das ein zäher Teufelskerl, ich wette, mit einem starken Herzen, ich wette, innen ist der stark wie ein kupfergenieteter Boiler‹

Sie stritten nicht miteinander und warfen sich ihre Meinungen nicht ins Gesicht.

Drei Männer sahen einen Elefanten auf verschiedene Weise. Und sie ließen es dabei bewenden. Sie verdarben sich nicht einen sonnigen Sonntagnachmittag. Sonntags gibt's nur einmal pro Woche, bestätigen sie sich gegenseitig.«

Schade, daß das Rüsseltier nicht redet. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, was ein Elefant denkt, der drei Männer beim Beobachten eines Elefanten beobachtet. - Carl Sandburg, nach (loe2)

Perspektive (8)

- Rattelschneck

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