arbaren
Man sagt, von den alten Thrakern konnte keiner lesen und schreiben;
im Gegenteil, alle europäischen Barbaren hielten es für die größte Schande,
sich der Schrift zu bedienen. Die asiatischen Barbaren
dagegen machten, wie es heißt, mehr von ihr Gebrauch. Deshalb scheut man
sich auch nicht, zu behaupten, daß selbst Orpheus, da er ein Thraker
war, keine Bildung hatte, sondern daß die Mythen
über ihn reine Erfindungen seien. Dies berichtet Androtion, sofern
man seinem Zeugnis über die fehlende Bildung und Erziehung der Thraker
Glauben schenken will. - (
ael
)
Barbar (2) Er war eine Art von Barbar,
unduldsam und unbarmherzig. Er war schon sehr unglücklich gewesen, aus
unterschiedlichen Gründen. Und unter dem Zwang seiner schmerzlichen Erinnerungen
war ein starker Haß gegen die Folterknechte und ein starker Abscheu gegen
die Gefolterten in ihn eingedrungen. So daß er zuweilen das Glück der Elenden
sehnsüchtig herbeiwünschte und zur gleichen Zeit doch meist überzeugt blieb,
daß sie nichts Besseres verdient hatten als von Zeit zu Zeit in Massen
niedergemetzelt zu werden ... Da er sich mit dem Bewußtsein vom Absoluten
begnügte, ohne es suchen zu wollen, maß er jenen Handlungen keinerlei Bedeutung
bei, die, im großen gesehen, eine solche nicht hatten. Die Idee der Gerechtigkeit
diente ihm von Zeit zu Zeit als Altar, aber kaum, daß er einmal vor ihm
verharrte, denn er verstand, daß die Gerechtigkeit nur auf Entsagung gegründet
werden konnte. — Nicht, daß er ehrgeizig gewesen wäre oder neidisch. Gewiß,
zuweilen bedauerte er, daß seine Eltern sich damit begnügt hatten, ihm
das Lesen beizubringen, und ihn nicht gleichzeitig auch in der Herstellung
von Falschgeld unterwiesen hatten. Er bedauerte manchmal, daß er in seinen
Kaffee, wenn er welchen trank, nur irgendwelche verfeinerten Abwandlungen
von Alkohol gießen konnte und genötigt war, die Liebe im Korsett wenngleich
bezaubernder Frauen zu beweinen, die jedoch mit lauten Schreien den Verband
der Kalbslederhersteller anriefen. Aber im Grunde genommen machte er sich
eigentlich aus nichts etwas. Für gewöhnlich war er nicht einmal Menschenfeind,
er scherte sich nicht darum. - Georges Darien, Les Pharisiens. Nach
André Breton, Der böse Darien. In: G.D., Der Dieb. Frankfurt am Main 1889
(zuerst 1897)
Barbar (3) Dort
sind die Ehen streng, und man könnte keinen Teil der Sitten mehr loben.
Denn beinahe als einzige der Barbaren sind sie mit je einer Frau zufrieden,
außer sehr wenigen Ausnamen, die nicht aus Verlangen, sondern wegen ihrer
adeligen Herkunft von sehr vielen Ehevorschlägen umworben werden. Die Mitgift
gibt nicht die Frau dem Mann, sondern der Mann der Frau. Dabei sind die
Eltern und Verwandten und prüfen die Gaben, die nicht zum Vergnügen der
Frau ausgesucht wurden, mit denen nicht die Braut geschmückt wird, sondern
Rinder und ein gezäumtes Pferd und ein Schild mit einem Frame und einem
Schwert. Unter diesen Gaben wird die Gattin in Empfang genommen, und im
Gegenzug bringt sie selbst dem Mann irgendwelche Waffen. Sie halten dies
für die größte Fessel, dies für geheime Weihen, dies für eheliche Götter.
Damit sich die Ehefrau nicht für außerhalb der Überlegung, was tugendhaftes
Verhalten betrifft, und außerhalb der Schicksalschläge, was die Kriege
betrifft, hält, wird sie durch diese Vorzeichen selbst der begonnenen Ehe
gemahnt, daß sie als Verbündete der Mühen und Gefahren komme und dasselbe
im Frieden und dasselbe im Krieg erleiden und wagen werde. Das verkünden
die unter das Joch gespannten Rinder, das das gezäumte Pferd, das die gegebenen
Waffen. So müsse man leben, so sterben: Sie anzunehmen, damit sie sie den
Kindern unbeschadet und würdig gebe, die die Schwiegertochter empfangen
wird und wieder den Neffen gegeben wird. - Tacitus
Barbar (4, rasender)
- Ernst Barlach 1912, nach: Ernst Barlach mit Selbstzeugnissen
und Bilddokumenten dargestellt von Catherine Krahmer. Reinbek bei Hamburg 1984
(rm 335)
Barbar (5) Als der Geistliche zu ihm kam und ihn so ohne jedes Anzeichen fand, das darauf hindeutete, er sei sich seiner Gegenwart bewußt, betrachtete er ihn eine Zeitlang aufmerksam, um dann zur Seite zu schleichen und sich vorläufig zurückzuziehen. Vielleicht hatte er das Gefühl, er habe selbst als Diener Christi - obgleich er seinen Sold von Mars bezog - keinen Trost zu spenden, der einen tieferen Frieden als den ihm hier vor Augen geführten vermitteln könne. Aber in den frühen Morgenstunden kam er noch einmal zurück, und der Gefangene, der sich nun seiner Umgebung bewußt wurde, bemerkte sein Kommen und begrüßte ihn höflich, ja fast freundlich. Aber nur mit wenig Erfolg versuchte der gute Mann bei dem nun folgenden Zwiegespräch in Billy Budd ein religiöses Empfinden dafür zu wecken, daß er sterben müsse, und zwar schon in der Morgendämmerung. Allerdings sprach Billy freimütig von seinem Tode als von einer nahe bevorstehenden Sache, aber das geschah ungefähr so, wie Kinder vom Tod im allgemeinen reden, wenn sie unter anderer Kurzweil „Begräbnis" mit Bahre und Leidtragenden spielen.
Nicht, daß Billy nach Kinderart unfähig gewesen wäre zu begreifen, was der Tod in Wirklichkeit ist, aber er empfand keine unvernünftige Furcht vor ihm, eine Furcht, die in hochzivilisierten Kreisen viel häufiger ist als bei sogenannten Barbaren, die in jeder Beziehung der unverdorbenen Natur näherstehen. Und Billy war, wie wir schon früher bemerkten, im Grunde seines Wesens ein Barbar, genauso - mit Ausnahme der Kleidung - wie seine Landsleute, jene britischen Gefangenen, die als lebendige Trophäen im römischen Triumphzug des Ger-mankus marschieren mußten, genauso wie die späteren Barbaren, junge Männer wahrscheinlich und ausgesuchte Beispiele unter den, wenigstens dem Namen nach, früh zum Christentum bekehrten Briten, die man nach Rom gebracht hatte - so wie man sie heute von kleineren Inseln des Weltmeeres mit nach London bringt - und bei denen der damalige Papst voll Bewunderung über ihre seltsame Schönheit, die dem italienischen Volksschlag so wenig ähnlich sah, über ihre hellen rosigen Gesichter und ihre krausen flachsfarbenen Locken ausrief: „Angeln" - das heißt in moderner Sprache Engländer -, „Angeln nennt ihr sie? Wohl weil sie wie Engel aussehen!" Wäre dies zu einem späteren Zeitpunkt geschehen, könnte man annehmen, der Papst hätte an Fra Angelicos Seraphim gedacht, von denen einer, der im Garten der Hesperiden Äpfel pflückt, das helle, rosenknospenfarbene Gesicht der meisten englischen Mädchen besitzt.
Vergebens suchte der gute Kaplan in dem jungen Barbaren Todesgedanken
zu wecken, so wie sie uns durch Totenschädel, Sanduhr und gekreuzte Knochen
auf alten Grabsteinen nahegebracht werden. Ebenso ergebnislos waren allem
Anschein nach seine Bemühungen, in ihm die Erinnerung an eine Erlösung
und an einen Heiland wachzurufen. Billy hörte zu, aber weniger aus Angst
oder aus Frömmigkeit als aus einer gewissen natürlichen Höflichkeit.
- Herman
Melville, Billy Budd, Vortoppmann. Nach:
H. M., Redburn. Israel Potter. Sämtliche
Erzählungen. München 1967 (zuerst 1854)
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