Elias Canetti
Sonne (2) Damit die Sonne die Erde erleuchten kann,
muß sie sich von Menschenherzen nähren und Blut trinken.
Deshalb mußte der Krieg geschaffen werden, durch den allein Blut und Herzen
gewonnen werden konnten. Da alle Götter es so wollten, schufen sie den Krieg.
- (
azt
)
Sonne (3) Die Sonne reiste in ihrem Feuerwagen über den Himmel, froh und glorreich warf sie ihre Strahlen in alle Richtungen zum großen Ärger einer gewittrig gelaunten Wolke, die brummte:
»Verschwenderin, Vergeuderin, wirf nur deine Strahlen alle weg, du wirst schon sehen, was dir dann übrigbleibt.« Jede Traube in den Weinbergen, die an den Reben reifte, stahl sich einen Strahl in der Minute oder sogar zwei; und da war kein Grashalm, keine Spinne, keine Blume und kein Wassertropfen, der sich nicht seinen Teil genommen hätte.
»Laß dich nur von allen bestehlen: Du wirst schon sehen, wie sie es dir danken werden, wenn du nichts mehr hast, das man dir stehlen könnte.«
Die Sonne reiste vergnügt weiter und schenkte Millionen und Milliarden Strahlen, ohne sie zu zählen.
Erst bei ihrem Untergang zählte sie die Strahlen, die sie noch hatte:
Und siehe, es fehlte kein einziger. Die Wolke löste sich vor Überraschung
in Hagel auf. Und die Sonne verschwand vergnügt
im Meer. - Gianni Rodari, Das fabelhafte Telefon. Wahre Lügengeschichten.
Berlin 1997 (Wagenbach Salto 65, zuerst 1962)
Sonne (4) Rembrandt weiß, daß das Fleisch
Kot ist, aus dem das Licht
Gold macht. Er nimmt in den Kauf und billigt, was er sieht: die Frauen
sind, was sie sind. Es gibt für ihn nur beleibte und abgezehrte. Selbst
die wenigen schönen, die er gemalt hat, sind es weniger dank ihren Formen
als kraft einer geheimnisvollen Lebendigkeit, die von ihnen ausstrahlt.
Er schrickt nicht zurück vor Hängebäuchen mit prall gestaffelten, feisten
Hautwülsten, fürchtet sich nicht vor klobigen Gliedmaßen, geröteten und
plumpen Händen, höchst vulgären Gesichtern. Aber diese Hinterteile,
Wänste, Zitzen, Fleischklumpen, diese Vetteln
und Mägde, die er vom Kochtopf weg ans Lager von Göttern
und Königen geleitet, — er durchtränkt oder
er umspielt sie mit einer Sonne, die nur er hat; wie niemand vermengt er
Wirklichkeit und Geheimnis, Tierisches mit Göttlichem, ein ebenso subtiles
wie unerhört wirkungsvolles Handwerk und das tiefste, einsamste Empfinden,
dem die Malerei jemals Ausdruck verliehen. - (
deg
)
Sonne (5) Die nächtliche Abwesenheit der Sonne erregte
in dem Inca allerhand philosophische Zweifel über die Weltregierung dieses
Gestirns. Der Pater Blas Valera hat aufgezeichnet, was der Inca über die
Sonne gesagt: »Viele behaupten, die Sonne lebe und sei die Urheberin alles
Geschaffenen (el hacedor de todas las cosas); aber der, welcher etwas vollbringen
will, muß bei der Sache bleiben, die er vorhat. Nun geschieht jedoch vieles,
wenn die Sonne abwesend ist; also ist sie nicht der Urheber des Ganzen.
Auch darf man daran zweifeln, daß sie etwas Lebendiges sei; denn kreisend,
ist sie nie ermüdet (no se cansa). Wäre sie etwas Belebtes, so würde sie
sich wie wir ermüden; und wäre sie gar ein freies Wesen, so käme sie gewiß
auch in solche Himmelstheile, wo wir sie nie sehen. Die Sonne ist also
wie ein Thier, an ein Seil gebunden, um immer denselben Umlauf zu machen
(como una res alada que siempre hace un mismo cerco); oder wie ein Pfeil,
der nur dahin geht, wohin man ihn schickt, nicht wohin er selbst will.«
- Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur. Nördlingen
1986 (Die Andere Bibliothek 17, zuerst 1807)
Sonne (6) Empedokles
sagt, es gebe zwei Sonnen: (a) Die eine, das Original, sei ein Feuer
in der einen Halbkugel des Kosmos, habe diese Halbkugel ausgefüllt und
befinde sich immer dort, wo sie ihrem Widerschein gerade entgegengesetzt
sei; (b) die andere uns erscheinende sei ein Widerschein, der in dieser
einen Halbkugel, die mit der mit Wärme gemischten Luft angefüllt sei, von
der runden Erde durch Brechung auf den kristallartigen Olymp (Himmel) geworfen
werde, und sie drehe sich mit herum durch die Bewegung der feurigen (Sonne).
Kurz zusammengefaßt: Die (erscheinende) Sonne sei ein Widerschein des die
Erde umgebenden Feuers. - N.N.
Sonne (7) Dem Deutschen, der schon beträchtlich
geringere Leistungen schätzen muß, gibt diese unermüdliche Betätigung der Sonnenkraft
einen Begriff, dem im Kleinen das Erstaunen gleicht, mit dem man die ungeheuren
Massen von Eisen und Stahl im Maschinenraum eines Dampfers hin- und hergeschleudert
sieht, ohne Ermatten und Verlangsamung ihrer Touren. Man ermißt mit Auge und
Schwergewichtsempfindung Gewalten, in deren rastloser, schonungsloser Arbeit
man ganz dunkel einen Fluch oder eine zur Wahnsinnsidee von Pflichterfüllung
gesteigerte Krankhaftigkeit mit Grauen ahnt. Verzweifelte Titanenseelen, deren
Schmerz so groß ist, daß Menschenfühlen es nicht ermessen kann, scheinen da
zu ringen in Hoffnungen, die nie erfüllt werden und an die doch die heftigen
Sehnsüchte unauflöslich gekettet sind. Eine Arbeit scheint geleistet, die nur
aus Verzweiflung entstehen konnte. So brennt und leuchtet die Sonne jeden Tag
neu und häuft die Arbeit ihrer in jeder Minute voll ausgenützten Lebenstage.
Man fühlt eine schmerzliche Leidenschaft, man möchte ihr zurufen: Halt ein,
du quälst dich und uns, gönn dir einen Ruhetag, treibe dich nicht jeden Augenblick
deines Daseins zu Maximalleistun-gen an, - aber nein, mit der verbissenen Schonungslosigkeit
eines Willens, dem nur ein Erfolg genügen kann, wird dieses einzige - unbekannte
- Ziel verfolgt, und die Lautlosigkeit bei all diesem fürchterlichen Schaffen
befördert die Vorstellung der zum Wahnsinn überspannten Lebensenergie eines
Verdammten, der vergeblich auf Erlösung hofft. - Ernst Barlach, Russisches
Tagebuch, nach:
E. B. mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Catherine
Krahmer. Reinbek bei Hamburg 1984 (rm 335)
Sonne (8) Die Sonne ist eine kalte, feste und homogene Kugel. Ihre Oberfläche ist in Quadrate mit einer Seitenlänge von einem Meter eingeteilt, welche die Basis sind für lange, umgekehrte, netzartige, 699999 Kilometer lange Pyramiden, deren Spitzen 1 Kilometer vom Zentrum entfernt sind. Jede sitzt auf einer Schraubenmutter und ihre Neigung zum Zentrum würde, wenn ich Zeit hätte, die Rotation einer an ihrem oberen Teil angebrachten Flügelscheibe in einigen Metern zäher Flüssigkeit, mit der die ganze Oberfläche lackiert ist, in Gang bringen ...
Ich hatte kaum Interesse für dieses mechanische Schauspiel, da ich meine Sekunde der mittleren Sonnenzeit noch nicht wiedergefunden hatte und dem Verlust meiner Stimmgabel nachtrauerte. Aber ich nahm ein Stück Messing und formte daraus ein Rad, in das ich zweitausend Zähne schnitt, alles das nachahmend, was unter ähnlichen Umständen Herr Fizeau, Lord Raleigh und Mrs. Sidgwick gelungen war.
Plötzlich, als die Sekunde im absoluten Wert von 9413 Kilometern pro Sekunde
der mittleren Sonnenzeit der Simensschen Einheit wiedergefunden war, mussten
die Pyramiden — auf ihre Schrauben heruntergezwungen, da sie sich gleich mir
in der motorischen Zeit befanden — um standfest zu bleiben, mit Hilfe einer
ausreichenden Menge von bei Sir Humphrey Davy entliehener Rückstossbewegung
ins Gleichgewicht gebracht werden; die arretierte Materie, die Gewindeachsen
und die Schrauben verschwanden. Die zähflüssig gemachte Sonne begann, sich im
Rhythmus von fünfundzwanzig Tagen um sich selbst zu drehen. In einigen Jahren
werden Sie auf ihr Flecke sehen und in einigen Vierteljahrhunderten werden Sie
ihre Umlaufzeit bestimmen. Bald wird sogar ihr hohes Alter auf ein Viertel zusammenschrumpfen.
- (
faust
)
Sonne (9) »Die Sonne ist einer der Satane des Universums; wie ein wahrer Tartüff trägt sie den Mantel Gottes. Sie ist ein geweißtes Grab, das innen voller Knochen und Verwesung ist, Satan kleidet sich, um die Menschen zu täuschen, als Lichtengel.
. . . Die Sonne ist unrein . . . Der Kern ist kotig, es ist die Abtrittgrube unseres Systems, doch die Hülle wird von den Seelen der Verdammten der verschiedenen Planeten gebildet, und diese Seelen sind zusammengesetzt aus S.E. und aus unreiner Materie. Sie leben in einer bitter-galligen und furchtbaren Reibung und werden von den Ausdünstungen des Kerns ernährt. Doch diese fieberhafte Bewegung ähnlich den Achsenlagern einer elektrischen Maschine zieht auf Grund des Gesetzes 76.20 die S.E. aus den interstellaren Räumen an, und gerade diese Anziehung bringt die Umlaufbahn der Planeten und Kometen hervor. Die in der Sonne angekommene S.E. kann auf Grund unseres Gesetzes 41.111 nicht dort bleiben; sie bemächtigt sich also seiner Gemahlin, des Kohlenstoffs, enthalten in den Seelen der Verdammten, und nach allen Seiten hin ausstrahlend, bringt sie das Leben und das Sein auf alle Globen unseres Systems.
. . . Alles, was der Mensch auf Erden tun kann, ist die Natur kopieren und er gelangt nur dann zur Vollkommenheit, wenn sein Werk dem Gottes gleicht; folglich: er müßte, im Großen, Sammelbecken anlegen mit den Exkrementen reiner Tiere und sehr zivilisierter Menschen und den Magnetismus einfangen, den diese ausstrahlen; aber das ist etwas Unmögliches, da es hienieden keine reinen Wesen gibt. Eine Stadt wie Paris zum Beispiel ist eine Sonne, denn es gibt eine halbe Million Teufel, die sich auf fünfzigtausend und mehr Abortgruben stürzen . . .
Die Menschen sind kleine, ambulante Sonnen . . .« - Pierre
Roux, nach
(lim)
Sonne (10)
Sonne (11)
DIE SONNE
Durch die alte Vorstadt streifend, wo an baufälligen Fassaden die Jalousien hängen, hinter denen die Unzucht sich versteckt, beliebt es mir, wenn grausam die Sonne mit doppelt heißen Strahlen auf Stadt und Felder, Dächer und Saaten scheint, allein mein wunderliches Fechthandwerk zu üben, in allen Winkeln nach Reimen witternd, über Worte stolpernd wie über Pflastersteine und bisweilen auf lang erträumte Verse stoßend. Die Sonne, dieser Vater und Ernährer, der die Bleichsucht haßt, weckt in den Feldern Verse wie Rosen auf; er läßt die Sorgen himmelauf verdunsten und füllt mit Honig die Gehirne und die Waben. Die an Krücken gehen, verjüngt er und macht sie froh und sanft wie junge Mädchen; er heißt die Saaten wachsen und reifen in dem unsterblichen Herzen, das immer blühen will! Steigt er gleich einem Dichter in die Städte nieder, so adelt er das Los der niedrigsten Dinge, und als ein König hält er lautlos, ohne Dienerschaft, Einzug in alle Siechenhäuser und Paläste. |
- Charles Baudelaire,
Die Blumen des Bösen (zuerst 1857). Übs. Friedhelm
Kemp Frankfurt am Main 1966 (Fischer Tb. 737)