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Goethe
Bescheidenheit (2) Eine wissenschaftlichen Glanzperiode führte das Zeitalter der Universitäten herauf. Noch um 1150 ist die Dialektik die einzige Feindin des Autorenstudiums. Aber schon vor 1200 treten ihr die Rechtswissenschaft, die Medizin, die Theologie zur Seite; seit 1250 der Aristotelismus in Philosophie und Naturwissenschaft, In der ersten Hälfte des 13 .Jahrhunderts wirkt in Paris noch Johannes von Garlandia, aber er scheint dort keine Nachfolge mehr gefunden zu haben.
Es gibt noch Literaturlehrer — sie heißen jetzt Auktoristen —, aber sie sind sehr bescheiden geworden. Als auctorista bezeichnet sich der Bamberger Schulmeister Hugo von Trimberg in seinem Registrum multorum auctorum. Aber er rückt sein Fach anspruchslos an die unterste Stelle:
Qui perfectus fieri nequeat artista
Vel
propter penuriam rerum decretista,
Saltem illud appetat ut sit auctorista!
Sicque
non inglorius erit latinista.
Sibique grammatica sit nota regularis,
In
qua studens sedulo proficiat scolaris,
Ut prodesse valeat pluribus ignaris;
Tamen
se non preferat doctoribus claris!
Die Literatur bringt nichts mehr ein, sie gehört nicht zu den artes
lucrativae wie Theologie, Jurisprudenz,
Medizin es sind. - Ernst Robert Curtius,
Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern und München 1948
Bescheidenheit (3) Ein berühmter alter Zaddik wurde vor versammelter Gemeinde von einem Rabbiner gepriesen, der sich von Minute zu Minute mehr in Begeisterung redete: .... unser geliebter Zaddik ist ein Mann von solcher Weisheit, dass sogar die weisesten Gelehrten zu seinen Füßen sitzen. Seine Güte lässt Alt und Jung bei ihm Rat suchen, seine Rechtschaffenheit ist ein Vorbild für Männer wie Frauen, er hat so viel Verständnis für menschliche Probleme, dass selbst die Heiligen ihm ihre innersten Gedanken anvertrauen; er hat ...
An dieser Stelle zupft der alte Mann den Redner am Armel und flüstert:
»Vergessen Sie meine Demut und Bescheidenheit nicht.« - (
ji
)
Bescheidenheit (4) Tempel
und Kirchen, Pagoden und Moscheen, in allen Landen, aus allen Zeiten, in
Pracht und Größe, zeugen vom metaphysischen Bedürfniß des Menschen, welches,
stark und unvertilgbar, dem physischen auf dem Fuße folgt. Freilich könnte
wer satirisch gelaunt ist hinzufügen, daß dasselbe ein bescheidener Bursche
sei, der mit geringer Kost vorlieb nehme. An plumpen Fabeln und abgeschmackten
Mährchen läßt er sich bisweilen genügen: wenn nur früh genug eingeprägt,
sind sie ihm hinlängliche Auslegungen seines Daseyns und Stützen seiner
Moralität. Man betrachte z. B. den Koran: dieses schlechte Buch war hinreichend,
eine Weltreligion zu begründen, das metaphysische Bedürfniß zahlloser Millionen
Menschen seit 1200 Jahren zu befriedigen, die Grundlage ihrer Moral und
einer bedeutenden Verachtung des Todes zu werden, wie auch, sie zu blutigen
Kriegen und den ausgedehntesten Eroberungen zu begeistern. Wir finden in
ihm die traurigste und ärmlichste Gestalt des Theismus. Viel mag durch
die Uebersetzungen verloren gehn; aber ich habe keinen einzigen werthvollen
Gedanken darin entdecken können. Dergleichen beweist, daß mit dem metaphysischen
Bedürfniß die metaphysische Fähigkeit nicht Hand in Hand geht. -
(
wv
)
Bescheidenheit (5) Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikurs anders zu empfinden als irgend jemand vielleicht, und bei allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Altertums zu genießen:
— ich sehe sein Auge auf ein weites, weißliches Meer
blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während großes und
kleines Getier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie dies Licht und jenes
Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können,
das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und
das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten,
zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen kann: es gab nie
zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust. -
(
frw
)
Bescheidenheit (6) Der britische Astropysiker Arthur Eddington
wurde einmal gefragt: "Stimmt es, Sir, dass Sie einer der drei Menschen
auf der Welt sind, die Einsteins Relativitätstheorie verstehen?"
Eddington zögerte. "Verzeihen Sie", setzte der Gesprächspartner hinzu,
"ich hätte mir denken können, dass eine solche Frage einen Mann von
Ihrer Bescheidenheit in Verlegenheit bringen würde". "Keineswegs",
entgegnete der Astrophysiker, "ich habe mir nur gerade überlegt, wer
wohl der Dritte sein könnte". - Andrea Naica-Loebell,
telepolis
07.12.2001
Bescheidenheit (7) Wohl ist die Tugend der
Bescheidenheit eine erkleckliche Erfindung für die Lumpe; da ihr gemäß Jeder
von sich zu reden hat, als wäre auch er ein solcher, welches herrlich nivellirt,
indem es dann so herauskommt, als gäbe es überhaupt nichts als Lumpe. -
(
schop
)
Bescheidenheit (sportliche) Ich habe
irgendeinmal die Erinnerungen eines Alpinisten gelesen von einer Klettertour
auf einen schwierigen und hohen Berg. Nun, diese Beschreibung war vollkommen
verfälscht, denn der Autor, der sich zu sportlicher Bescheidenheit verpflichtet
fühlte, schrieb: »Der linke Fuß war mir abgerutscht, und ich hing zehn Sekunden
lang über dem Abgrund, bis ich mit dem rechten Fuß
ein vorstehendes Stück Felsen ertastet hatte.« Sportliche Bescheidenheit erlaubte
ihm nicht, diesen Satz zu ergänzen mit der Riesenhaftigkeit des Abgrunds, der
Riesenhaftigkeit der Anstrengung und der Riesenhaftigkeit des Schreckens.
- Witold Gombrowicz, Eine Art Tesstament. Gespräche und Aufsätze. Frankfurt
am Main 2006 (zuerst 1968)
Bescheidenheit (9) Wenn man jemals die Wahl hat, entweder zerknirscht oder großspurig zu sein, sollte man großspurig sein. Für Zerknirschung ist später immer noch Zeit, wenn sich erst einmal herausgestellt hat, wie entsetzlich und unwiderruflich man sich geirrt hat. Und dann ist es natürlich viel zu spät, um noch großspurig zu sein.
»Vielleicht ist es arrogant«, sagte ich zur Katze, »aber wenn ich dem hier nicht auf den Grund komme und herausfinde, warum jemand diese alten Damen abmurkst, dann bezweifle ich, daß irgend jemand das schafft. Ist das denn so fürchterlich unbescheiden?«
Die Katze, die von Natur aus narzißtisch war, kümmerte das nicht sonderlich.
»Wie Golda Meïr mal bemerkte: ›Sei nicht so bescheiden - so toll bist du gar nicht.‹«
Auch von dieser Aussage ließ sich die Katze zu keiner Reaktion hinreißen.
Politik und Kultur des Nahen Ostens hatten sie nie besonders interessiert. Unter
einem faszinierenden Land stellte sie sich wahrscheinlich Sardinien vor. -
Kinky Friedman, Gürteltier und Spitzenhäubchen. Zürich 1996 (zuerst
1994)