uflucht Trelkovsky
dachte normalerweise nicht an den Tod, Er war ihm nicht
gleichgültig, bei weitem nicht, aber gerade aus diesem Grunde mied er ihn prinzipiell.
Sobald er sein Denken diesem gefährlichen Thema zutreiben fühlte, bediente er
sich aller möglichen Ausflüchte, die er mit der Zeit noch vervollkommnete. So
stimmte er in kritischen Momenten eingängige Schlager an, die er im Radio gehört
hatte und die eine verläßliche geistige Schranke darstellten. Oder er kniff
sich bis aufs Blut oder nahm zur Erotik Zuflucht. Er sah diese oder jene Frau,
die ihm auf der Straße begegnet war, vor sich, wie sie gerade die Strümpfe auszog,
eine Brust, die er in dem tiefen Ausschnitt einer Verkäuferin erriet, eine alte
Erinnerung an ein Schauspiel, dem er beigewohnt hatte. Das war der Köder. Wenn
sein Geist darauf anbiß, dann vermochte seine Vorstellung alles. Sie hob Röcke
hoch, riß Mieder auf, gestaltete Erinnerungen neu. Und langsam verblaßte das
Bild des Todes vor lustvollen Frauen und geknetetem
Fleisch, verblaßte, um wie ein Vampir
im ersten Morgengrauen völlig zu verschwinden.
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Roland Topor, Der Mieter. Zürich 1976 (detebe 20358, zuerst 1964)
Zuflucht (2) Er schlenderte in die Richtung der Seine-Quais. Dort hatte er einst Zuflucht gesucht, wenn er ein paar freie Stunden hatte. Die Quais waren grau und die Seine schmutzig. Die Kästen der Bouquinisten schienen ihm genauso abstoßend wie Abfalleimer. Die intellektuellen Lumpensammler stöberten auf der Suche nach ein bißchen geistiger Nahrung ohne Abscheu in diesem Unrat herum. Und wenn sie etwas entdeckt hatten, bemächtigten sie sich dessen mit Zügen bestialischer Gier in ihrem Gesicht.
Diese Gegend widerte ihn an. Er wechselte den Bürgersteig. Vor sich hatte
er jetzt das Geschrei und die Ausdünstungen der Tiere in ihren Käfigen. Die
Gaffer stachelten die Schildkröten an, reizten die
Hähne, störten die Meerschweinchen auf. Reptilien
glitten an den Wänden ihrer Terrarien entlang. Die weiter hinten eingesperrten
Mäuse verfolgten mit krankhafter Aufmerksamkeit ihre
schlängelnden Bewegungen. -
Roland Topor, Der Mieter. Zürich 1976 (detebe 20358, zuerst 1964)
Zuflucht
(3) Angefangen mit dem Geruch des Salzwassers bis zur
Berührung mit den salzigen und geteerten Trossen fürchten und hassen die Frauen
das Meer mit seinem ganzen Wesen und allen seinen Taten, und vielleicht hätte
die Kirche das weibliche Geschlecht bändigen können, wenn es ihm eine maritime,
aschgraue und eiskalte wogende Hölle ausgemalt hätte. Vor dem Feuer fürchten
sie sich nämlich nicht, das betrachten sie als Bundesgenossen, dem sie lange
und treulich gedient haben. Aber vom Meere reden zu hören, das ist für sie,
als hörten sie vom Teufel selber reden. Wenn dermaleinst das Weiberregiment
die Erde für den Mann unbewohnbar macht, dann muß er auf dem Meere Zuflucht
suchen, denn die Frauen würden lieber sterben, als ihm dorthin zu folgen. -
(
blix
)
Zuflucht (3)
Wie denkt ein sauber abgetrennter Kopf? |
- Durs Grünbein, Von der üblen Seite. Gedichte 1985 - 1991.
Frankfurt am Main 1995
Zuflucht
(4)
Daß heftiges geistiges Leiden, unerwartete entsetzliche Begebenheiten
häufig Wahnsinn veranlassen, erkläre ich mir folgendermaaßen. Jedes solches
Leiden ist immer als wirkliche Begebenheit auf die Gegenwart beschränkt, also
nur vorübergehend und insofern noch immer nicht übermäßig schwer: überschwänglich
groß wird es erst, sofern es bleibender Schmerz ist: aber als solcher ist es
wieder allein ein Gedanke und liegt daher im Gedächtniß: wenn nun ein solcher
Kummer, ein solches schmerzliches Wissen, oder Andenken, so quaalvoll ist, daß
es schlechterdings unerträglich fällt, und das Individuum ihm unterliegen würde,
- dann greift die dermaaßen geängstigte Natur zum Wahnsinn als zum letzten
Rettungsmittel des Lebens: der so sehr gepeinigte Geist zerreißt nun gleichsam
den Faden seines Gedächtnisses, füllt die Lücken mit Fiktionen aus und flüchtet
so sich von dem seine Kräfte übersteigenden geistigen Schmerz zum Wahnsinn
- wie man ein vom Brande ergriffenes Glied abnimmt und es durch ein hölzernes
ersetzt. - (wv)
Zuflucht (5) Ich legte ein paar Blätter Klopapier auf die Wunde, rauchte eine Zigarette, fünf Skins kamen durch die Tür und fanden mich fast wehrlos vor. Obgleich ich die Haare eher kurz trug. Sie begannen zu schlagen. Schaut den an, riefen sie und deuteten auf das Klopapier: DER HAT KACKE IM KOPF! Da war eine ganz ekelhafte Sache im Gang, so mit Stiefeltritten und Gestank - was bildet ihr euch ein! rief ich, nehmt Haltung an! Da glotzten die blöde, beinah erwartungsvoll, ich: Was glaubt ihr, wen ihr vor euch habt? - das war ein Brüller, ehrlich, er gab mir die halbe Minute, bis antifaschistische Hilfstruppen kamen, ein loser, zivilcouragierter Haufen, geeint vom allerletzten Feindbild. Ich kroch in ein Scheißhaus, sperrte ab und hörte das Handgemenge als Radioübertragung. Neue Zigarette, neues Glück, Die Schmerzen wurden vom Alkohol gedämpft, aber Tränen der Wut liefen an mir herab, war ich nur auf den Friedhöfen geblieben, auf dem gemütlichen kleinen Germeringer Waldfriedhof, wo man in aller Ruhe trank des Nachts und aus Windlichtern Landebahnen formte für die Gespenster Andrejevs und Flauberts ... Ich dachte an Rene, Gründungsmitglied von Geme&Handwerk, mit 24 tot umgefallen auf seiner eigenen Geburtstagsparty, Herzinfarkt am Klavier beim Spielen von Debussy - die Party war prompt im Eimer gewesen, und auf den Waldfriedhof gingen wir auch nicht mehr, Rene lag dort, alle anderen Friedhöfe waren häßlich, er hätte nicht Debussy spielen sollen, bloß nicht Debussy. Ich hasse meine Generation.
Draußen knallten Körper gegen die Klotür, wechselhafter Kampfverlauf, Münder schrien Flüche.
Großmütig vergab ich meiner Generation - mit der rechten Backe am kalten
Stein der Klomuschel ist man aufgelegt zum Vergeben - ich langte nach oben,
zog die Spülung, schaufelte mir Wasser über den Kopf. - Helmut Krausser, Schweine und
Elefanten. Reinbek bei Hamburg 1999
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