otensprache   Ein gewisser Jemand leugnete völlig, daß die Totensprache - Thanatogloss, wie man sie nennen möchte, oder Avernisch - sich überhaupt solcher Laute bedienen könne, wie wir sie durch unsere phonetischen Organe hervorzubringen vermögen; aus dem durchaus vernunftvollen Grund, daß die Verstorbenen solcher Organe beraubt sind. Daher, so behauptete er, sei die ausgebliebene Antwort der Verstorbenen durch die völlige Unmöglichkeit, die benötigten Töne zu modulieren, bedingt. In Fortführung dieser Begründung schlug er seinerseits vor, ein System von nichtmenschlichen, nichttierischen, nichtmechanischen Lauten auszuarbeiten, die den Verstorbenen vermutlich eher entsprächen. Er wollte ihnen ein leicht zu handhabendes Instrument zur Verfügung stellen, und er arbeitete ein Gerät aus, das er »Totenophon« nannte, welches kurz beschrieben werden soll.

Es handelt sich um eine etwa einen Meter breite Kassette, etwa vierzig Zentimeter hoch und tief. In diese sind zwei hohle Hölzer eingeführt, die unterteilt, sehr leicht und auf fliegenden Naben befestigt sind; auf diesen Hölzern sind, in regelmäßigen Abständen, folgende Dinge befestigt: Knochenstückchen, Hornhäute, Haarbüschel - auf der einen Seite; auf der anderen Spitzen morschen Holzes, Rasiermesser, Felssplitter; so daß Elementen von tierischem Organismus auf der einen Seite auf der anderen Stücke von Pflanzlichem oder Mineralischem entsprechen. Diese Dinge werden mithilfe behutsamen Manövrierens der leichten Stöckchen, die rückwärts aus der Kassette herausragen, gegeneinandergerieben; und da die Stöckchen gelenkig unterteilt sind, kann man jedes Teilchen der einen Seite in Berührung bringen mit jedem Teilchen der anderen Seite. Resonanzböden und vibrierende Membranen amplifizieren die Töne: und das Knistern, das Rascheln, das Sausen, das Flüstern, das man dabei erzeugt, enthüllen eine Fülle von Modulationen, die ausreichen, um eine subtile Sprache von außerordentlicher Artikuliertheit zu bilden.

Kurzum, dem Erfinder gelang es, eine Serie von bestimmten und stabilen Tönen zu erzeugen, und er bestimmte auch die Bedeutungen. Daraufhin ging er daran, sein Totenophon an Orten aufzustellen, die ihm geeignet erschienen: vor allem Friedhöfe und düstere, übelbeleumundete Orte; und er harrte, daß irgend ein Verstorbener es wagen würde, dieses Gerät zu benutzen und an den Hölzchen herumzufingern, die eine Brise, ein Kinderatem leicht in Bewegung zu setzen vermögen. Vielleicht war gerade diese Handlichkeit ein Hindernis für das glückliche Gelingen des Experiments; die Hölzchen bewegten sich häufig ohne klare Gesprächsabsicht; und wenn sich unter diese sinnlosen Oszillationen auch sinnvolle mischten, war es doch unmöglich, sie voneinander zu unterscheiden. - Giorgio Manganelli, Diskurs über die Schwierigkeit, mit den Toten zu sprechen. In: G. M., An künftige Götter. Sechs Geschichten. Berlin 1983 (Wagenbach Quartheft 123, zuerst 1972)

Totensprache (2) Homer nennt den dünnen Klang der Stimme des Totenschattens ein trizein — ein Zwitschern, ein Zirpen. Daran wird man erinnert, wenn man durch die Straßen geht und das hohe Fiepen der Fernsehbildröhren hinter den Fenstern hört. - Botho Strauß, Paare, Passanten. München 1984 (dtv 10250, zuerst 1981)

Totensprache (3) Als sich der große Held Eber Eber in der Luft auflöste und zu feinem Wüstenstaub wurde, wobei er den Wirbel des ursprünglichen Irisierens verbreitete, ist noch etwas anderes passiert. Nachdem seine toten Feinde angefangen hatten zu sprechen, plauderten sie, was das Zeug hielt, von den Trugbildern, die aus dem Widerschein des Staubs entstanden waren; und indem sie so plauderten, was das Zeug hielt, verstreuten sie die Wörter, die überall in die Luft hingingen, sogar bis in die weiteste Ferne. So verbreiteten sie die Namen der Dinge, die Namen der Orte, die Namen der Blumen und Bäume und der Tiere; und auch die Namen der einzelnen Menschen und der Bevölkerungen, die erst noch entstehen mußten. Das war für die Gamima die größte Veränderung, die sich je unter der Kuppel des Himmels zugetragen hat.

Die kosmische Verstretmng der Namen verbreitete unter den Menschen die Illusion zu wissen, wie die Dinge sind, nur weil sie deren Namen gehört hatten, und sie dann in gute und böse, schöne und häßliche, traurige oder lustige einteilen zu können, je nach den Namen, die beim Sprechen für sie verwendet wurden. Und schließlich führte die Verstreuung der Namen auch zu der Illusion, sich von den Vorfahren unterscheiden zu können und zu glauben, man sei anders als die Tiere und die Pflanzen.   - (fata)

Tote Dialekt
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Synonyme