trand    Drunten im Gras, am unbefestigten Strand: Frauen und Mädchen. Reglos. Das Gesicht zur Erde oder wie für immer nach oben. Halboffene Münder, entglittene Arme, ausgediente Beine, gekrümmte Leiber, weißes Fleisch. Welche Katastrophe hatten die hinter sich? Angeschwemmt? Ein Fischsterben? Ein Walfriedhof? In was für ein Lazarett war ich geraten? Die Münder sagten nichts mehr. Die klafften bloß noch, zeigten bloß noch, ob der letzte Schrei ein Schreck-O gewesen war oder ein Schmerz-A oder reines Gewimmer. Übertreib nicht, Erinnerung, das waren doch keine Münder mehr. Entgleiste Lippen. Keine Kraft mehr, die argen Zähne zu schützen. Das Zahnfleisch wie nicht mehr frisch. Picasso-Pferdefriedhof nach dem Angriff auf Guernica. Aber hier: weißblau-bleich bis rosa, ausgestellt auf dem allergrünsten Rasen. Kommt alle her, mes fins voyeurs artistiques des avantgardes, und betrachtet genau das dicke blaue Gewürm unter der weißen Haut der Schenkel und die rotblau gleißenden Riste dieser auf Venenentzündung und Embolie abonnierten Steharbeiterinnen vom Steinfußboden. - Martin Walser, Das Einhorn. Frankfurt am Main 1966

Strand  (2)  In meinen Vorstellungen von etwas richtig Herrlichem, ist auch immer eine Wanderung zusammen mit jemanden, den man liebt, am Meeresstrand entlang. Man braucht nicht reden; geht  nur Seite an Seite und fühlt, wie man im Gleichklang ist, und man empfindet jede Vibration des andern, auf welcher Wellenlänge auch immer.

Gehe ich einsam am Meeresstrand, so fühle ich mich im Zusammenhang mit der ganzen Menschheit; aber ich empfange auch Impulse von oben, von höheren Regionen, komme in Extase und werde buchstäblich emporgehoben. - August Strindberg

Strand  (3)   Die Sonne goß Feuer vom Himmel. Der Lärm vom Strand übertönte noch den des Ozeans. Auf der Strandpromenade schlug ein italienischer Wassermelonenverkäufer mit einem Messer au ein Blech und rief mit wilder Stimme nach Käufern. Jeder  brüllte auf seine Weise: Verkäufer von Popcorn und warmen Würstchen, Eiscreme und Erdnüssen, Zuckerwatte und Maiskolben. Ich kam an einer Bude vorbei, in der ein Geschöpf, halb Frau, halb Fisch, ausgestellt war; an einem Wachsfigurenkabinett mit den Gestalten von Marie Antoinette, Buffalo Bill und John Wilkes Booth; in einer anderen Bude saß im Dunkeln ein Astrologe mit Turban, umgeben von Karten und Globen der Himmelskonstellationen, und stellte Horoskope. Pygmäen tanzten vor einem kleinen Zirkus, ihre schwarzen Gesichter waren weiß bemalt, und alle waren mit einem Strick lose aneinandergebunden. Ein mechanischer Affe blies seinen Bauch wie einen Blasebalg auf und lachte heiser. Negerjungen schossen auf Blechenten. Ein halbnackter Mann mit schwarzem Bart und Haaren bis auf die Schultern, verhökerte einen Trank, der die Muskeln stärken, die Haut verschönern und verlorene Manneskraft wiederbringen sollte. Er zerbrach mit seinen Händen schwere Ketten und verbog Münzen zwischen seinen Fingern. Ein wenig weiter kündigte ein Medium an, daß sie die Geister Verstorbener herbeirufen, die Zukunft voraussagen und in Liebes- und Ehegeschichten Rat erteilen könne. - Isaac Bashevis Singer, Ein Tag in Coney Island. In: I.B.S., Der Kabbalist vom East Broadway. München 1978 (zuerst 1972)

Strand  (4)

- Nicola Kuperus

Strand  (4) Ein Stück STRAND, an dem keinerlei Meer liegt; rötlich fahler Sand, der kein Leben kennt, unwirkliches, zerbröckeltes Gefels, beinahe zermalmte Kieselsteine, Staub lebloser Meteoriten. Ein Ort geduldiger, analphabeüscher Traurigkeit oder vielleicht Gleichgültigkeit; denn man weiß nicht, was für eine Beziehung dieser Strand zu dem nicht vorhandenen Meer unterhält. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß als zweiter Ort ein Meer vorhanden ist; während die Meteoriten, die sicherlich da sind, den Strand nicht zu treffen scheinen, sondern entweder seit eh und je dort zertrümmert Hegen oder nie den zersplitterten Frieden des Sturzes erlangen werden. Der STRAND hat also keine Erinnerung an das Meer noch Hoffnung auf das Meer, noch bedrängt ihn ein Meeresprojekt; es könnte ihm also selbst jeglicher Begriff von Meer oder Welle überhaupt, auch von Fluß oder See oder jeglichem Wasser völlig fremd sein; bestünde nicht die unanzweifelbare Tatsache, daß dies ein Strand ist und nicht einfach ein leerer Fleck. Also wird er, da er STRAND ist, in irgendeiner Beziehung zur Hypothese des Wassers stehen; und es ist nicht unmöglich, daß der Strand und die Pfütze auf ihren wechselvollen Reisewegen einander bisweilen nahe genug kommen, um sich beide einen für sie sinnvollen Zustand vorstellen zu können. Aber das ist eine bare Hypothese; und es kann sein, daß dem Strand das Meer nur namentlich bewußt ist und er nichts anderes braucht.  - Giorgio Manganelli, System. In: (irrt)
 

 

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