- Anhang zu (
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)
Lebenslauf (2) Ernst Fuhrmann: geboren, am 19.11.1886 in Hamburg, gestorben am 28.11.1956 in New York. Zwischen diesen Eckdaten liegt ein Leben, das zum weitaus größten Teil hinter der Schreibmaschine verbracht wurde, dessen geographischer Verlauf allein von der Möglichkeit zu schreiben diktiert wurde. Fuhrmann lebte dort, wo es Menschen gab, die sein Schreiben bezahlten, seine Bücher druckten. Er schrieb über die biologischen Grundlagen des Staates, über den Urzustand der Sprache, die religiösen Wurzeln der Dichtung, prähistorische Schiffahrt und Fehlentwicklungen der Technik, über die Pflanze als Lebewesen, die Irrationalität des Geld-Begriffs und über Kulturen fremder Völker. „Der Grundzug aller Arbeiten E.F.s ist: Die Anregung zum Zweifeln." (Franz Jung)
Zwei Mal nur ein zeitweiliges Abrücken von der Schreibmaschine: Von
1920 bis 24 war Fuhrmann entscheidend an der Führung des Folkwang-Museums
in Hagen beteiligt; 1938 wurde er in die Emigration gezwungen: Er hatte
ein homöopathisches Rezept empfohlen, mit dessen Hilfe man auf unschädliche
Weise 'wehruntüchtig' wurde. - Klappentext zu: Ernst Fuhrmann,
Der Geächtete. Berlin 1983 (zuerst 1930)
Lebenslauf (3) Jonathan Swift wurde am 30.
November 1667 in Dublin, acht Monate nach dem Tode seines Vaters, eines
jungen englischen Rechtsanwaltes, geboren. Die Schul- und Studienkosten
in Dublin übernahm ein wohlhabender Onkel. 1689 reiste Swift nach England
und wurde Sekretär von Sir William Temple, der sich nach einer bedeutenden
Laufbahn als Diplomat unter König Wilhelm III. nach Moor Park zurückgezogen
hatte. Dort schloß Swift Freundschaft mit Esther Johnson, »Stella«, der
jungen Tochter einer Zofe von Sir Williams Schwester, Lady Giffard. 1695
nahm er eine Stelle an als protestantischer Geistlicher einer winzigen
Gemeinde bei Belfast, kehrte aber bereits 1696 nach England zu Sir William
Temple zurück. Damals entstanden ›Die Schlacht zwischen den Büchern‹ und
›Eine Geschichte von einer Tonne‹, die erst 1704 veröffentlicht wurden.
Nach Temples Tod (1699) kehrte er nach Irland zurück, wurde Pfarrer in
Laracor und Mitglied des Domkapitels von St. Patrick in Dublin. Er überredete
Stella, ihm mit einer Freundin nach Dublin zu folgen, wo er »seinen Damen«,
wie er sie nannte, zusätzlich zu deren eigenem Einkommen eine kleine Rente
aussetzte. Seine politischen und literarischen Interessen rührten ihn häufig
nach London, er wurde der Freund von Addison, Arbuthnot, Gay, Steele und
Pope und schrieb zahlreiche Gedichte, Essays und Flugschriften. Die folgenden
Jahre (1710 -11) führten ihn als politischen Journalisten und als Vertrauten
der maßgebenden Tory-Politiker Robert Harley, Lord Oxford und Henry St.
John, Viscount Bolingbroke, auf den Gipfel seiner politischen Hoffnungen.
Die zahlreichen, herzlichen und an Einzelheiten reichen, spielerisch-humoristischen
Briefe an Stella aus dieser Zeit sind erhalten geblieben und wurden nach
Swifts Tod als ›Journal to Stella‹ veröffentlicht. Zwischen 1707 und 1709
lernte er Esther Vanhomrigh, »Vanessa«, kennen, die ihm 1714 auch nach
Irland folgte. 1713 wurde er Dekan des Domkapitels von St. Patrick in Dublin,
obwohl er als Lohn für seine politische Tätigkeit auf einen Bischofssitz
in England selbst gehofft hatte. Nach dem Sturz der Tories, 1714, kehrte
er nach Irland zurück, veröffentlichte politische Flugschriften zur Lage
Irlands und gegen Walpole, von denen die ›Tuchhändler-Briefe‹ (1724) und
›Ein bescheidener Vorschlag um zu verhüten, daß die Kinder armer Leute
zu einer Last für ihre Eltern oder das Land werden, und um sie zu einem
Nutzen für die Gesellschaft zu madien‹ (1729) am bekanntesten geworden
sind. Vanessa starb 1723, Stella 1728. ›Gullivers Reisen‹ wurden 1726 nach
einem Besuch Swifts in London veröffentlicht. Die letzten Lebensjahre Swifts
sind verdunkelt durch die Folgen einer damals unheilbaren Ohrenkrankheit,
Gedächtnisschwund und Altersleiden, die sich bei dem überaus sensitiven,
im Leben mehrfach enttäuschten Mann besonders stark auswirkten. Er starb
am 19. Oktober 1745 in Dublin und wurde in der Kathedrale beigesetzt »ubi
saeva indignatio ulterius cor lacerare nequit«, wie es in der selbstverfaßten
Inschrift heißt. - Aus: Jonathan
Swift, Gullivers Reisen. Frankfurt am Main 1960 (Fischer Tb., EC 15, zuerst
1726)
Lebenslauf (4) Wie das Leben des Ceresianers beginnt, das wußte eigentlich niemand. Jeder Ceresianer wurde eines Tages aus dem magnetischen Zentrum unter Blitz und Donner herausgestoßen — in ganzer Gestalt. Und da lag er denn erst lange Zeit da, ohne viele Lebenszeichen zu geben. Und erst ganz langsam kam er danach zum Bewußtsein.
Und wie der Ceresianer gekommen — so verschwand er auch; eines Tages kehrte er von seinem Frühstück nicht mehr zurück; er wurde aufgesogen von einem der magnetischen Zentren, so daß keine Spur von ihm zurückblieb. Doch dieses Zurückgehen in jenes geheimnisvolle Zentrum fühlte der Ceresianer immer lange Zeit vorher herannahen.
Undurchdringliche Geheimnisse umgaben also das Leben auf der Ceres;
niemand konnte sich erklären, wie er entstand — und er wußte auch nicht,
wie es war, wenn er verschwand. - Paul Scheerbart, Zack und
Sidi und der große Kopf. Eine Ceres-Novelette. Frankfurt am Main 1985 (Polaris
9. Ein Science Fiction Almanach. Hg. Franz Rottensteiner. st 1168. - Zuerst
1912)
Lebenslauf (5) Verwickelt ist der Lebenslauf der Libellen (Odonata). Jung und Alt unterschieden sich in Aussehen, Lebensraum und Ernährung.
Die Eier werden im Wasser abgelegt, die daraus schlüpfenden Larven atmen mit Kiemen, leben in einem Medium, in dem ihre Eltern bald ertrinken müßten. Auch die jungen sind schon raffinierte Räuber, fangen aber ihre Beute nicht wie die Adulten mit den Vorderbeinen, sondern mit ihrer Unterlippe, die zu blitzschnell ausklappbaren Greifzangen umgebaut ist. Große Libellenlarven erwischen damit sogar Kaulquappen und kleine Fische. Dieses effektive Jagdinstrument wird Fangmaske genannt, weil es in eingeklapptem Zustand das recht bedrohliche Maul verdeckt.
Die meisten Libellenlarven häuten sich im Wasser sieben- bis elfmal,
vergrößern dabei jedesmal ihre Flügelanlagen - bis sie eines schönen Morgens
an einem Halm über die Wasseroberfläche klettern, die Larvenhülle aufzuplatzen
beginnt, sich eine Libelle herausschiebt, ihre erst noch lappig weichen
Flügel langsam streckt, hart werden läßt und los fliegt. - naturspektrum.de
Lebenslauf (6) Dass ich in Polen geboren
wurde, ist Zufall; ich liebe dieses Land aber so sehr wie Irland, seine Komponente
im Westen. Dann kam ich auf die Schule nach Brunn.. (Wie bitte? Nach Brunn,
Brno), das kam so: Mein Vater, ein Offizier, fiel während eines Kaisermanövers
vor den Augen Seiner Majestät tot vom Pferd; meine Mutter wurde vor Schreck
darüber wahnsinnig und wurde in eine Anstalt gebracht, wo man so lange an ihr
herumschraubte, bis sie jenen bedauernswerten Zustand wieder annahm, den man
normal nennt. Ich habe sie erst mit 30 Jahren kennengelernt. Jedenfalls, ich
kam zuerst nach Mähren zu hochadeligen Verwandten, dann nach Gmunden und endlich
ganzwoandershin, nach Mecklenburg, auf ein Junkerngymnasium, dort soll ich sogar
das Abitur gemacht haben - ich weiss nur, dass ich schon mit 16 Jahren eingeschriebenes
Mitglied einer Anarchistenverschwörung war, in atheistischen Zeitschriften Aufsätze
über Schülerselbstmorde schrieb und endlich ausriss um Flieger zu werden. -
Hans Jürgen von der Wense, Von Aas bis Zylinder, Bd. I. Frankfurt am Main 2005
Lebenslauf (7)
- Saul Steinberg, nach: Tintenfass 4, Zürich 1981
Lebenslauf (8) Ihr Vater war ein Jude; ihre Mutter gehörte der ungarischen Aristokratie an. Ihr Vater soll sich das Leben genommen haben, als er erfuhr, daß seine Frau ein Verhältnis mit einem Mitglied der Familie Esterhazy hatte - ein Verwandter des Esterhazy, der eine Hauptrolle in der Dreyfus Affaire spielte. Als er sein Vermögen in Monte Carlo verspielt hatte, nahm sich der Liebhaber ihrer Mutter das Leben. Nach seinem Tod wurde Margits Mutter wahnsinnig und verbrachte zwanzig Jahre in einer Klinik in Wien. Margit wurde von einer Schwester ihres Vaters erzogen, die die Geliebte eines brasilianischen Kaffeeplantagenbesitzers war. Margit Levy sprach ein Dutzend Sprachen. Sie hatte Koffer voller Photographien, Briefe, alle Arten von Dokumenten, die die Wahrheit ihrer Erzählungen bezeugten. Sie sagte mir oft: »Aus meinem Leben könnte man nicht nur ein Buch machen, sondern eine ganze Literatur. Die Hollywood Filme sind ein Kinderspiel, verglichen mit dem, was ich erlebt habe.«
Jetzt lebte Margit Levy in einem einzigen Zimmer als Pensionärin einer alten Jungfer und überlebte mit der Altersrente. Sie litt an Rheumatismus und konnte kaum gehen. Sie trippelte mit winzigen Schritten, indem sie sich auf zwei Stöcke stützte. Obwohl sie behauptete, in den Sechzigern zu sein, rechnete ich mir aus, daß sie einiges über siebzig sein mußte. Margit Levy lebte in einem Zustand der Verwirrung. Jedesmal, wenn sie mich besuchte, vergaß sie etwas - ihre Handtasche, ihre Handschuhe, ihre Brille, ja selbst einen ihrer Stöcke. Manchmal färbte sie ihr Haar rot, manchmal schwarz. Sie legte Rouge auf ihr runzeliges Gesicht und benutzte zu viel Wimperntusche. Unter ihren dunklen Augen hatte sie schwarze Säcke. Die Nagel ihrer verkrümmten Finger waren grellrot lackiert. Ihr Hals erinnerte mich an ein gerupftes Huhn. Ich hatte ihr gesagt, daß meine Sprachkenntnisse nicht sehr gut seien, er wieder und wieder sprach sie zu mir Französisch, Italienisch oder Ungarisch. Obwohl ihr Name jüdisch war, trug sie, wie ich bemerkte, unter der Bluse ein kleines Kreuz, und ich nahm an, daß sie übergetreten war. Margit Levy hatte sich einmal eines meiner Bücher aus der Stadtbibliothek geliehen, und seitdem las sie alles, was ich schrieb. Sie versicherte mir, sie habe all die Kräfte, die ich in meinen Geschichten beschrieb - Telepathie, Hellsehen, Vorahnungen, oder die Fähigkeit, mit Toten in Beziehung zu treten. Sie besaß ein Ouija-Brett und einen kleinen Tisch ohne Nägel. So arm sie war, auf einige okkulte Zeitschriften war sie abonniert. Nach ihrem ersten Besuch bei mir schüttelte sie mir die Hand und sagte mit zitternder Stimme: »Ich wußte, daß Sie in mein Leben kommen würden. Dies wird meine letzte große Freundschaft sein.«
Und sie brachte mir als Geschenk ein Paar Manschettenknöpfe, die sie vom
Grafen Esterhazy geerbt hatte - jenes Esterhazy, der in einer Nacht achtzigtausend
Kronen verspielt und sich dann eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte. -
Isaac Bashevis Singer, Nachbarn. In: I.B.S., Der
Kabbalist
vom East Broadway.
München 1978 (zuerst 1972)
Lebenslauf (9)
Lebenslauf (10)
Wie nun der Sterblichen ihr gantzer Lebens-Lauf Ja Rom hat gar den Tod selbst in ein Spiel verkehrt / Der blinde Simson bringt sich spielend in das Grab; |
- Daniel Casper von Lohenstein. Widmung zu:
Sophonisbe. Trauerspiel. Breslau 1680 (Reinbek b. Hamburg 1968, rk
514/515)
Lebenslauf (11) Es ist wirklich
unglaublich, wie nichtssagend und bedeutungsleer, von außen gesehen, und wie
dumpf und besinnungslos, von innen empfunden, das Leben der allermeisten Menschen
dahinfließt. Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln
durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter Begleitung einer Reihe trivialer
Gedanken. - Schopenhauer, nach: TAZ v 24.12.16
Lebenslauf (12)
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