- (nieder)
Reisender (2) für interkontinentale reisen ließ er sich 1925 eigens ein automobil, das ›rollende haus‹ konstruieren, das vehikel von 9 metern länge und 2,5 metern breite enthielt einen beheizbaren, variablen salon mit schrankbett, ein kombiniertes eß- und wohnzimmer, ein badezimmer mit toilette, einen aufenthalts- und ruheraum für das dreiköpfige personal. roussel trennte sich von dem kostspieligen gefährt, da es gegen seine intentionen überall aufsehen erregte, selbst der papst und mussolini sollen sich für die mobile villa interessiert gezeigt haben.
muß noch erwähnt werden, daß roussel während dieser exkursionen mit
dem auto der äußeren realität keine aufmerksamkeit schenkte, sondern las? (und
zwar gelegentlich seitenweise: er zerpflückte ein buch und las nur jeweils eine
sehe, um sie - wenn er sich beobachtet fühlte - in der tasche verschwinden zu
lassen.) - bernd mattheus, der stern auf der stirn. Nachwort zu:
Raymond Roussel, Afrikanische Impressionen. München 1980
Reisender (3) Der einzige wahre Reisende, den ich gekannt habe, war ein Laufjunge in einem Büro, in dem ich seinerzeit angestellt war. Dieser Junge sammelte Werbebroschüren von Städten, Ländern und Transportgesellschaften; er besaß Landkarten - die einen aus Zeitungen herausgerissen, die anderen hier und dort zusammengebettelt -; er besaß auch aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Illustrationen: Landschaften, Bilder von exotischen Bräuchen, Bilder von Dampfern und Schiffen. Er suchte die Reisebüros im Namen eines angeblichen oder vielleicht auch im Namen eines wirklich vorhandenen Büros auf und erbat sich Prospekte über Reisen nach Italien, Reisen nach Indien und Prospekte, welche die Verbindungen zwischen Portugal und Australien schilderten.
Er war nicht nur der größte, weil wahrste Reisende, den ich gekannt habe:
er war auch einer der glücklichsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Es
tut mir leid, daß ich nicht weiß, was aus ihm geworden ist; freilich vermute
ich nur, daß es mir leid tun sollte; in Wirklichkeit tut es mir nicht leid,
denn heute, wo zehn Jahre oder mehr seit der kurzen Zeit, in der ich ihn gekannt
habe, verstrichen sind, ist er gewiß ein reifer Mann, stupide und pflichteifrig,
vielleicht verheiratet, eine soziale Stütze für irgend jemanden - bei lebendigem
Leibe verstorben. - Fernando Pessoa. Nach: Tintenfaß 15, Zürich 1986
Reisende (4) Es ist Ihnen ja sicher
nicht unbekannt, daß Reisende dafür bekannt sind, Entdeckungen
zu machen. Die Reisenden finden Selbstmörder,
verlorene Schmuckstücke, hohe Geldbeträge, und sie werden überhaupt immer mit
dem Kriminalistischen in Beziehung gebracht. Auch aus diesem Grund sind uns
die Reisenden unheimlich. Mir sind die Reisenden
widerwärtig, sage ich zum Fuhrmann. Wo ein Reisender ist, ist auch ein Verbrechen,
sage ich. Die Auffindung Sillers durch den Reisenden hat gezeigt, daß nicht
alle Selbstmörder in die Traun gehen, in Zukunft wird man nicht nur ans Wehr
gehen, sondern auch den Wald durchsuchen müssen. Mir ist nicht erinnerlich,
daß sich in den letzten zehn Jahren, seit dem Selbstmord des Raiffeisenkassenleiters
Pöll, der sich auf dem Höhepunkt des Pöllschen Verschuldungsskandals aufgehängt
hat, einer in der Gegend aufgehängt hat. Geehrter Herr, einer meiner immer wiederkehrenden
Träume ist folgender: ich schaue in die Traun hinein und sehe Hunderte und Tausende
Leichen in der Traun, eng aneinander, sie bilden eine
weißlich-gelbe Körpermasse unter der klaren Wasseroberfläche, die ihr Poetisches
hat. Sehe ich unter der Leichenmasse ein Gesicht, ist es mir bekannt. Die Klarheit
des Wassers und die Unbeweglichkeit und Trübsinnigkeit der Leichenmasse unter
der Oberfläche kontrastieren auf eine tatsächlich wunderbare Weise miteinander.
- Thomas Bernhard, Watten.
Ein Nachlaß. In: T.B., Die Erzählungen. Frankfurt am
Main 1979
Reisender (5) Plume kann nicht sagen, daß man ihn auf Reisen mit übertriebener Rücksicht behandle. Die einen überfahren ihn, ohne Vorsicht zu rufen, die andern trocknen sich in aller Ruhe ihre Hände an seiner Jacke ab. Schließlich hat er sich daran gewöhnt. Ihm ist es lieber, in aller Bescheidenheit zu reisen. Er wird es tun, solange es ihm irgend möglich ist.
Wenn man ihm in seinem Teller unwirsch eine Wurzel hinstellt:
„Los, los, essen Sie. Worauf warten Sie denn noch?" „Sehr wohl, sehr wohl, sofort, schon dabei." Und wenn man ihm nachts ein Bett verweigert: „Was! Sie sind doch nicht von so weit hergekommen, um zu schlafen, nicht? Los, los, nehmen Sie Ihren Koffer und Ihre Sachen, dies ist die Tageszeit, wo es sich am besten zu Fuß geht."
„Sehr wohl, sehr wohl, ja gewiß. Ich hatte es natürlich nicht ernst gemeint. Doch, doch, nur zum . . . zum Scherz."
Und er geht wieder hinaus in die finstere Nacht. Und wenn er aus dem Zug herausgeworfen wird: „Nein, nein! Sie denken wohl, diese Lokomotive wäre seit drei Stunden geheizt worden und acht Wagen angehängt, um einen jungen Mann Ihres Alters zu befördern, der vollkommen gesund ist, der hier durchaus nützlich sein kann, den kein Bedürfnis zwingt, wegzufahren? Darum hätte man Tunnels gebohrt, viele Tonnen von Felsen mit Dynamit gesprengt, Hunderte von Kilometern Schienen gelegt, bei Tag und Nacht, abgesehen davon, daß man die Linie auch noch bewachen lassen muß wegen der Sabotageakte, und alles nur, um . . ."
„Sehr wohl, sehr wohl. Ich begreife ja durchaus. Ich war nur eingestiegen, um einen Blick hineinzutun. Für jetzt ist das alles. Einfach Neugier, nichts weiter. Und tausend Dank."
Und er kehrt mit seinem Gepäck auf die Landstraßen zurück. -
Henri Michaux, Plume und andere Gestalten. Wiesbaden 1981 (zuerst 1938)
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