üchternheit Die
Tür stand offen, weil die Hausfrau, die gerade einen Fisch zubereitete, in der
Küche so viel Rauch entwickelte, daß man nicht einmal
mehr die Schaben sehen konnte.
Akakij Akakijewitsch ging durch die Küche, wobei er nicht einmal von der
Hausfrau bemerkt wurde, und betrat schließlich ein Zimmer, wo er Petrowitsch
erblickte, der auf einem breiten, ungestrichenen Holztisch saß und wie ein türkischer
Pascha die Beine untergeschlagen hatte. Die Füße waren nach dem Brauch aller
Schneider, die während der Arbeit sitzen, nackt. Und vor allem sprang die große
Zehe ins Auge, Akakij Akakijewitsch sehr wohl
bekannt, mit ihrem mißgestalteten Nagel, dick und fest wie ein Schildkrötenpanzer.
Um den Hals hatte Petrowitsch eine Strähne Seide und Zwirn hängen, während auf
seinen Knien irgendwelche Lumpen lagen. Er versuchte schon drei Minuten lang,
den Faden durch das Nadelöhr zu stecken, fuhr aber immer wieder daneben und
ärgerte sich deshalb über die Dunkelheit und über den Faden und knurrte halblaut
vor sich hin: »Er will einfach nicht, der Barbar; er frißt mich auf, dieser
Nichtsnutz!« Akakij Akakijewitsch war es sehr unangenehm, daß er gerade in einem
Augenblick gekommen war, da Petrowitsch sich ärgerte; er hatte es gern, Petrowitsch
dann Aufträge zu erteilen, wenn letzterer sich schon ein bißchen Courage angetrunken
hatte oder - wie dessen Weib sich auszudrücken beliebte - »schon Fusel ausschwitzte,
der einäugige Teufel!« In diesem Zustand ging Petrowitsch gewöhnlich sehr bereitwillig
mit dem Preis herunter, erklärte sich mit allem einverstanden, verbeugte sich
sogar jedesmal und dankte noch. Später freilich kam dann immer sein Weib und
jammerte weinend, daß ihr Mann betrunken gewesen sei und es deshalb zu billig
gemacht habe; aber dann legst du einen Groschen zu, und die Sache ist in Ordnung.
Jetzt aber befand sich Petrowitsch anscheinend in nüchternem
Zustand und war deshalb stur. - Nikolaj Gogol, Der Mantel. In: N.G., Sämtliche Erzählungen. Stuttgart u. Hamburg 1961
Nüchternheit (2) Die sich
selbst verschnitten haben von aller Sünde, um des Himmelreichs willen, die sind
selig, denn sie halten sich nüchtern von der Welt. -
Klemens von Alexandrien,
nach (wv)
Nüchternheit (3)
Nüchternheit
(4) Ich für meinen Teil war nie besonders heikel; ich konnte,
wenn es nötig war, eine gebratene Ratte mit gutem
Appetit verzehren. Ich bin aus dem gleichen Grunde froh, so lange Zeit Wasser
getrunken zu haben, wie ich den natürlichen Himmel dem Paradies des Opiumrauchers
vorziehe. Ich möchte gerne immer nüchtern bleiben, doch es gibt unzählige Grade
von Trunkenheit. Ich glaube, daß Wasser das einzige Getränk für einen vernünftigen
Menschen ist; Wein ist keine so edle Flüssigkeit.
Wer möchte aber seine morgendlichen Hoffnungen mit einer Tasse heißen Kaffees,
die des Abends mit einer Kanne voll Tee zerschlagen! Oh, wie tief bin ich gesunken,
wenn sie mich zu reizen vermögen! Selbst die Musik kann berauschend wirken.
Solche scheinbar kleinen Ursachen zerstörten Griechenland und Rom - und werden
England und Amerika zerstören. Wer möchte sich aber nicht, statt auf jede andere
Weise, von der Luft berauschen lassen, die er atmet? Ich fand als schwerwiegenden
Einwand gegen lang andauernde grobe Arbeit den Zwang, welchen sie auf mich ausübte,
auch grob zu essen und zu trinken. Doch muß ich, um der Wahrheit die Ehre zu
geben, gestehen, daß ich jetzt in dieser Beziehung weniger feinfühlig bin. Ich
bringe weniger Religion zu Tische mit und spreche kein Gebet; nicht, weil ich
vernünftiger bin, als ich war, sondern weil ich leider, sosehr es zu bedauern
ist, mit den Jahren gewöhnlicher und gleichgültiger geworden bin. Vielleicht
werden solche Fragen nur in der Jugend behandelt, was die meisten ja auch von
der Poesie glauben. Meine Praxis ist ›nirgends‹,
meine Theorie ist hier. So bin ich denn weit davon entfernt, mich als einen
jener Auserlesenen zu betrachten, auf welche die Veda sich bezieht, wenn sie
sagt: »Wer wahren Glauben an das allgegenwärtige Höchste Wesen hat, der mag
essen, was existiert«, das heißt: er braucht sich nicht darum zu kümmern, worin
seine Nahrung besteht und wer sie ihm zubereitet. Und selbst in dem Fall jener
Auserlesenen muß, wie der Hindukommentator hinzufügt, bemerkt werden, daß der
Veda-Ausleger diesen Vorzug auf die ›Zeiten der Not‹ beschränkt. - Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich
1979 (zuerst 1854)
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