ietskaserne   Hier hört Heimlichkeit und Heimischsein auf; hier, wo des Sommers durch die offenen Fenster - denn in den Räumen, in denen zugleich gekocht, gewaschen und gebügelt wird, ist es bei geschlossenen Fenstern nicht auszuhalten - der ganze Klatsch, der ganze Zank, alles Klappern, Schwirren, Surren, Summen der Näh- und Schuhmachermaschinen, alles Kindergeschrei, alles Tosen der Maschinerie der Fabrik im Hofraum, aller Dunst und Duft der 40 oder 50 Küchen mit ihrem Talggeruch und ihrer Ranzigkeit eindringt, wo keine Tür geöffnet werden kann, ohne daß neugierige, neidische oder schadenfrohe Blicke hineindringen, hier muß das Heim als Hölle, die Kneipe und das Bordell als Himmel erscheinen, können Zuchthaus und Irrenanstalt kaum noch Schrecken mehr haben. -   Werner Sombart, Das Proletariat (ca. 1910)

Mietskaserne (2)   Diner mit Scholl; danach schlägt er uns vor, Arbeiterinnen zu besuchen, die er aufgetan hat, indem er einer von ihnen nachgestiegen war; auch Murger, Barthet und Monselet hat er schon hingeführt.

Faubourg du Temple, ein großes Haus, eine Mietskaserne mit zweihundert Zimmern, möbliert für vierhundert Arbeiterinnen, Westen-Näherinnen, Stiefelettenstepperinnen, Porzellanmalerinnen. Im fünften Stock, am Ende eines finsteren labyrinthischen Schlauchs eine Stube. Auf einem alten geraden Sessel schlummert eine Frau. In der hinteren Ecke in einem Bett etwas wie ein Weib, das sich bei unserem Eintritt streckt. Ein Unschlittlicht tropft auf einem Schrank auf eine Papiertülle. Die Frau im Bett steht auf. Sie haben bis elf Uhr morgens durchgearbeitet, um Westen zu liefern. Scholl knutscht die Frau im Sessel; er glaubt, sie sei noch Jungfrau. Sie wehrt sich dagegen ganz schlaftrunken. Ich schau mich unterderweile um. Zwei Koffer, und unterm Fenster, am Kopfende des Bettes, ein Hutkarton; ein runder Tisch in der Mitte der Stube; ein paar Wollshawls an einem Kleiderständer; ein schmales Tischchen aus weißem Holz für die Arbeit; zwei kleine Porzellanservice zu fünfundzwanzig Sous; auf dem Kamin ein kleiner Spiegel. Das ist alles.

Die Frau ist aufgestanden. Scholl gibt ihr fünf Francs, damit sie etwas, um einen Punsch zu machen, holen geht. Die Mülhausenerin bleibt, - wahres Fleisch für die Prostitution, aus dem Elsaß, aus Mülhausen; eine Gans, die dem Schlamassel entgegengeht; statt Schamgefühl nur die Trägheit einer Kuh.

Die andere kommt zurück mit einem Paket Kuchen und mit Branntwein. Aus einem Schrank holt sie ein altes Kasserol, das von alten Punchs geschwärzt ist und . . . Bums! da treten zwei Kittel ein, mit Bärtchen und Mützen. Wir sind auf Hiebe gefaßt. Es sind einfach nur die ›Messieurs‹ dieser Damen, die das Weib drunten benachrichtigt hat, daß es Punch gibt. Der zu meiner Linken hat gedient, er weiß sich zu benehmen, redet und ist nicht zu unbeholfen: die Armee ist entschieden für das Volk die große Schulung. Der andere aber dreht seine Mütze in den Pfoten und weiß nicht, auf welcher Arschbacke er sitzen soll. Sie trinken und wir stoßen alle miteinander an. Auf den Tisch ist ein Licht gestellt worden, das die aus dem Bett aufgestandene Frau plötzlich beleuchtet: sie ist ein Scheusal.

Als einziges Ideal in der ganzen Stube, als einziges Gedankenziel für diese Frauen aus dem Volk, als alleiniges Anzeichen von Gefühlswärme und als Schmuck hängen an der Wand auf der einen Seite über dem Bett eine Daguerreotypie von einem Soldaten mit Mantel und Polizeimütze und als Gegenstück gegenüber ein heiliges Antlitz in Farben, eine Jungfrau und ein Jesuskind, koloriert; darüber ein Buchsbaumzweig und ein kleines in Seide gesticktes Kreuz. Und diese elende Stubengemeinschaft, der Gestank, Geruch nach der nächtlichen, überhasteten Arbeit und den Siesten am Tage, die Flammen des Punchs, die diese wüsten Kerle und Weiber beleuchten, die Obszönitäten in den Mäulern, die mit der Aussprache nicht zurechtkommen, die unterwürfigen Burschen, die aufs Saufen aus sind, Gelächter um lausige Witze - all das scheint mir das Volk und ganz die Frau aus dem Volk, und ihre Freude und ihre Gesinnung, eine Uniform im Herzen, ein dem Zuhälter gereichtes Glas und der liebe Gott im Bild über allem!

Ja, das ist das Volk, das ist das Volk, und ich hasse es. Hasse es in seinem Elend, in seinen schmutzigen Händen, den von Nadeln zerstochenen Fingern seiner Frauen, in seinem verwanzten Jammerbett, in seiner Argotsprache, in seinem Stolz und seiner Niedrigkeit, in seiner Arbeit und seiner Prostitution; ich hasse es in seinen ganz nackten Leibern, seiner ganz nackten Prostitution, in seinen Wohnlöchern voller Amulette! Mein ganzes Ich lehnt sich gegen diese Dinge auf, die nicht zu meiner Rangordnung gehören, und gegen diese Kreaturen, die nicht meines Blutes sind.  - (gon)

Mietskaserne (3)  Der Goldpalast, der Schieberpalast, wie man will: da stand er, fünf Stockwerke hoch, und schien grauer und vermotteter denn je. Sollte man aus diesem trostlosen Wohnsitz schließen, aus der Kohorte von Fenstern, so mußten Myriaden von Schiebern drin hausen: Raubfische mit heißhungrigen Mägen, sicherlich, aber von höchst bescheidenen Ansprüchen, was das Ästhetische betraf. Unter Wasser lebend, von Freßgier und Magensensationen schlechthin, war das Grau oder jener opalisierende Schummer des Tages Licht für sie: jenes bißchen Licht, das sie nötig hatten. Was das Gold betrifft, nun ja, - konnte durchaus möglich sein, daß sie Gold hatten und Silber. Eines dieser Rie-senhäuser aus den Jahren der Jahrhundertwende, die einem beim bloßen Anschauen das Gefühl von Schmuddligkeit und kanarienvogelhafter Nichtigkeit einflößten: ja, das genaue Gegenteil zur Farbe von Rom, zum römischen Himmel und seinem blendenden Sonnenglast. Ingravallo, so konnte man sagen, war das alles im Herzen vertraut: und in der Tat überfiel ihn ein leichtes Herzklopfen, als er mit seinen beiden Polizisten sich der wohlbekannten Architektur näherte, ausgerüstet mit so viel und so entscheidender Autorität.

Vor der lausfarbenen Wohnkaserne eine Menschenansammlung : ringsherum ein Schutzgitter von Fahrrädern. Frauen, Einkaufstaschen und Selleriestauden: einige Ladenbesitzer von nebenan, im weißen Kittel: ein paar Dienstmänner, in gestreiften Jacken und mit Nasen in der Farbe einer prächtigen Paprikaschote, Portiersweiber, Dienstmädchen, Töchter von Portiersweibern, die kreischten: »Peppii!«, Buben mit Ball und Reifen, ein Offiziersbursche mit einer vollen Ladung Orangen und Paketen, in seinem Netz eingefangen, mit Fenchelbüscheln obendrauf: zwei oder drei dicke Beamte, die in dieser späten Stunde, wo die höheren Dienstgrade für die Bürozeit reif werden, soeben erst die Segel entfaltet hatten: jeder auf sein Ministerium zusteuernd: und so zwölf bis fünfzehn Tagediebe und diverse Herumstreuner, die keinerlei Ziel hatten. Ein Briefträger im Stadium höchster Post-Schwangerschaft, der neugierigste von allen, boxte mit seiner überfüllten Tasche alle Umstehenden in den Hintern: die schimpften, Kreuzteufel, und nochmals Kreuzteufel, Kreuzteufel, einer nach dem anderen, pünktlich, wenn die Tasche beim Vordrängeln wieder eine Hinterseite gerammt hatte. Ein Gassenjunge sagte mit tiburtinischer Ernsthaftigkeit: »In dem Haus, da ist mehr Gold als Dreck!« Und ringsherum das Räder-Korsett, die Fahrräder, wie eine Schutzhaut sui generis, die diesen kollektiven Fleischklumpen undurchdringlich zu umgeben schien.  - Carlo Emilio Gadda, Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana. München 1988

 

Mietshaus

 

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