Unser Gehirn fügt solche Grundtöne zum Wohle unseres Klangeindruckes aus eigener Kraft und Vollkommenheit hinzu, ohne uns oder das Orchester zu fragen.
Blieben die vom Orchester nicht gespielten, sondern im Gehirn erzeugten
Grundtöne aus, würden wir entnervt ob des klirrenden Klangs der Streicher
und Bläser den Saal verlassen. Wir hören gar nicht die nackte Realität
dessen, was das Orchester spielt, sondern das, was unser höchst persönliches,
eigenes und eigensinniges Gehirn daraus macht.
- Tagesspiegel v. 31.10.99
Eigensinn
(2)
Es war einmal ein Kind
eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben
wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es
krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf
dem Totenbettchen, Als es nun ins Grab versenkt
und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder
hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische
Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder
heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs
Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und
das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde. -
(
grim
)
Eigensinn
(3)
Die
allenthalben verlangte und gerühmte Flexibilität, die
allmählich in den Rang einer sozialen Kardinaltugend erhoben wird, halte ich
für eine schlechte Strategie. Der bloße Sozialautomat, der immer nur auf gegenwärtige
Zustände reagiert, verliert nicht nur den letzten Rest von Kontrolle über sein
eigenes Los, er wird auch immer zu spät kommen. Der Hohn des Igels ist dem Hasen,
der ihm hinterherhechelt, gewiß. Aber auch die umgekehrte Lösung taugt von Tag
zu Tag weniger. Wer glaubt, es komme darauf an, frontal gegen »das System« anzugehen,
als konservativer oder revolutionärer Einzelkämpfer, erliegt - wenn meine Beschreibung
nicht falsch ist - einer Illusion; denn eine solche Haltung ist nur dann sinnvoll,
wenn man über eine objektiv stringente Zukunftsperspektive verfügt (den »Sinn
der Geschichte« kennt). Die Frage, ob es mit dem Strom oder gegen ihn zu schwimmen
gilt, scheint mir veraltet, weil sie eine unerträgliche Vereinfachung voraussetzt.
Ergiebiger scheint mir das Verfahren des Seglers zu sein, der sowohl beim Wind
als auch vor ihm kreuzt. Ein solches Vorgehen, auf die Gesellschaft bezogen,
erfordert extreme Aufmerksamkeit und stoischen
Unglauben. Wer auch nur das nächste Ziel erreichen
will, muß Zug um Zug mit tausend unvorhersehbaren Größen rechnen und darf sich
keiner von ihnen anvertrauen. Aber mit Geistesgegenwart
allein ist es nicht getan. Angst vor dem Anachronismus
kann sich keiner leisten, der der Idiotie der Gleichzeitigkeit
entrinnen möchte. Ein gewisser Eigensinn, der auf letzte Begründungen verzichtet, kann dabei nicht schaden. -
Hans Magnus Enzenberger, Die Elixiere der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002
Eigensinn
(4)
Ungewußt
übte er sich zu diesen Frühenjahren erstmals an einer Technik sein Glück
für=sich zu finden, weil, so seine frühkindliche Ahnung, die-Außenwelt ihm Glück
nicht würde bieten können. Fortan würde Seinglück in—ihm=allein bestehen,
das wahrhaftigste Glück das es gab. Und sofern seine inneren Wege ihn mit denen
von Menschen in der Äußerenwelt zusammenführten & mitunter 1 Weile in die
gleiche Richtung laufen ließen, so würde ihm dieser Umstand nurmehr Auffrischen
& Bekräftigung für seine eigen-Weit bedeuten; Niemand u Nichts, weder Mensch
noch Sache, vermochte jemals diesen Welten-Unterschied auszugleichen. — Hier,
in dieser düsterfeuchten Hofecke, hatte er begonnen eigen-Sinn zu sammeln, wie
Anderekinder Murmeln od Abziehbilder; er war schon sehr weit auf seinem Weg
zum Selbst—Erfinder -. /
Also fürchtete er die Anderenkinder nicht, hatte nie mehr Angst vor IHREN
gewalt-Gelüsten als nötig. Er mied SIE aus anderen Gründen : Damals erwarb er
die Fähigkeit, mit sich-selbst=allein niemals Langeweile
zu empfinden, sondern Langeweile nur in-Gesellschaft=Anderer. Das sollte so=bleiben
für alle Folgendezeit. / - (jir)