nge   Auch der verblüffendste strategische Weitblick hat seine Grenze am Phänomen der sogenannten «Enge des Bewußtseins», durch welche nur jeweils ein kleiner Ausschnitt von der Aufmerksamkeit gleichsam hell ausgeleuchtet werden kann. Das Übrige bleibt im Dämmerlicht des Vor- oder Unbewußten. Die «Enge des Bewußtseins» ist ein artspezifisches, ein allgemein menschliches Gebrechen. Wirkliche Ausnahmen davon sind selten. Von Mozart (1756—1791) wird berichtet, er hätte zwei melodische Linien absolut gleichzeitig hören und verfolgen können. Und man weiß von Jazz-Drummern, die mehrere rhythmische Linien verschiedener Art, also gerade und ungerade Takte — etwa mit der linken Hand 6/8, mit der rechten 4/4 und mit der Fußtrommel noch 2/2, in unterschiedlicher rhythmischer Ausführung — gleichzeitig bewältigen. Jeder Klavierspieler kennt die Schwierigkeit, Achtelnoten und Triolen gleichzeitig zu spielen. Hier kann Übung zu erstaunlichen Resultaten führen. Doch just an diesem Beispiel stoßen wir wieder auf die «Enge des Bewußtseins». Denn solches Üben geschieht überwiegend gefühlsmäßig, die Aktionen werden so schnell wie möglich «automatisiert», wie das Schalten beim Autofahren. Ein Moment der bewußten Reflexion kann sogleich zu Konfusionen führen — an dem bekannten Beispiel vom Tausendfüßler oft genug demonstriert. Die Aufmerksamkeit, das Bewußtsein, das Denken haben also eine prinzipielle Grenze, auf die wir bald stoßen, sei es beim Verfolgen zweier musikalischer Linien (oder musikalischer «Gedanken»), sei es beim Verknüpfen mehrerer logischer Relationen.  - Willy Hochkeppel, Denken als Spiel. München 1974 (dtv 965)

Enge (2) Er trat, gegen seine Art, aufs Gas, und das auf dem kurvigen Gebirgsweg, noch fern von einer asphaltierten Straße, zog von sich aus eine schnelle Zusatzkurve, und vermied auf diese Weise, ohne besondere Absicht, den Steinblock, der da unversehens mitten auf die Strecke stürzte.

Er allein erblickte dann für einen Moment die Gastgeberin der letzten Nacht oben auf einem Felssporn, schon vom Tatort abgekehrt. Die zwei anderen hatten bloß auf der Stelle all ihr Sich-Kratzen und Gähnen unterbrochen — gähnten und juckten sich in der Folge freilich umso mehr.

Und nicht erst da war es, daß ihm aufging, er bewege sich seit einer bestimmten Zeit, so wie gerade und auch auf ganz andere, nicht vorhersehbare Weise, in Lebensgefahr, und zwar einer akuten.

Hier war es jedoch, daß er beschloß — anders als die vorigen paar Male, da er in derartiges hineingeraten war —, die Augen und die Nüstern dabei Sekunde, für Sekunde so weit und lang wie möglich offenzuhalten und gleichsam mit dem Überlebenskampf zugleich auch der Zeuge, stetiger, Phase um Phase, dessen zu werden, was ihn bedrohte, ihm auf den Leib oder in die Seele rückte -nein, mehr noch, darüber hinaus: die Sinne offenzuhalten, während dieses Tödliche nah und immerzu nah war, für alles andere; mit den Haupt- und Begleiterscheinungen sich auch das Nebenbei, Unzugehörige, nicht ins Geschehen Einbezogene, sozusagen ganz woanders Spielende — einzuprägen? sich eher, mit allen Sinnen, einzuverleiben, vielleicht auch (doch das war nicht der Grund) als einen Ausweg.

Die paarmal vorher, da »es eng geworden« war — verstiegen in den Bergen, verstrickt im wie unentwirrbaren Dornenmaquis -, hatte er jeweils nur instinktiv, fuß- und fingerfertig, zugleich doch blindlings und vom Pulsgehämmer taub in den Ohren, wieder herausgefunden, wie einer in Ertrinkensnot, der zwar nicht sinnlos strampelt, sondern zielstrebig auf das Land zuschwimmt, dabei aber wahrnimmt: nichts, und noch einmal nichts.

Das erste Mal war das so gewesen damals in der Kindheit, bei der Morgengrauenflucht am Kriegsende mit den Eltern über die verminte Grenze: Nicht einmal jetzt lang im nachhinein kam ihm ein Bild davon, es sei denn eben des Morgengrauens, eines kalten, ohne einen Lufthauch und überhaupt ohne Atmosphäre, Morgengrauens, das nicht wich und endete; wohl hatte es Verfolger gegeben, »auf den Fersen«, aber er hatte sie nicht gesehen, sah sie nicht.

Jetzt aber machte er im Moment des Steinausweichens die Augen auf und sah, nicht nur aus den Winkeln, neben der Frau dort oben, als ein Zusammenspiel von Regensprühen und einem schwachen Sonnendurchbruch, etwas wie deren Schemen oder Zweitgestalt, und zu ihren Häupten den Wolkenhimmel. Er, und mit ihm sie alle da, befanden sich weniger in einer Enge als im Geschehen; in einer Sphäre. Ja, es war eine, wenn auch eine seltsame. Und wäre die Frau nicht abgekehrt gewesen, hätte er ihr auf der Stelle ein Zeichen gegeben, irgendeins. - Peter Handke, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt am Main 1999 (st 2946, zuerst 1997)

Enge (3)  Für Dinosaurier war, so argumentieren einige Kreationisten, auf der Arche Noah kein Platz.  Ihr Aussterben war daher unvermeidlich. - Harald Zaun,  telepolis 18.03.2007

Enge (4)  Die Vergangenheit, die durch soviele Gedächtnislöcher leckgeschlagen ist, daß ich einen beträchtlichen Teil meiner Zeit auf Winkelzüge verwenden muß (indem ich dort einen indirekten Zugang wähle, wo ich zunächst entschlossen zupacken wollte, indem ich Überraschungsangriffe starte, an etwas anderes denke und dann eine abrupte Kehrtwendung vollziehe und mich mit allen denkbaren Manövern behelfe), um zu versuchen, den Namen oder das Wort wiederzufinden, von dem ich - ein schlechtes Zeichen -  feststellen muß, daß es auf den Grund gegangen ist.

Die Gegenwart, die sich immer hartnäckiger jedem genießerischen Zugriff widersetzt, so dicht sind die Schleier, die sie inzwischen einhüllen, so daß der Blick stumpf und flüchtig wird, anstatt klare Konturen zu erfassen; das Ohr ist verstopft oder hört alles verzerrt, der Verstand gerät ins Schwimmen und kämpft sich mühsam durch eine gallertartige Masse.

Die Zukunft so verhangen von Sorgen, die auf jeder Stunde lasten, und so knapp bemessen, daß ich nur mehr bescheidene Pläne mache und sie kurzfristig in die Tat umsetze (heute besteht mein entferntestes Vorhaben darin, in ungefähr zwei Monaten ein Werk von Monteverdi anzuhören, das die Pariser Oper für den ersten Teil ihrer Saison 1978 ankündigt).

Eine Vergangenheit in Trümmern, eine Gegenwart in Auflösung, Brosamen von Zukunft, es bleibt mir wenig außer dem klaren Bewußtsein dieses Notstandes, dieser regelrechten Katastrophe, die sich aber lächerlich ausnimmt gegenüber derjenigen, unter der die Welt zu erzittern beginnt, als deren Bewohner wir einst dem aberwitzigen Glauben anhingen, den Menschen unserer Tage könne es zumindest gelingen, sie so zu gestalten, daß jeder Mensch auf ihr ein Mensch sein könne. - (leiris2)

Enge (5)

- Hans Holbein d. J.

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