ettler  Auf dem Platz vor dem Hotel drängen sich die Bettler; vor allem wimmelt es von Kindern, die einem mit ihrem Piepen folgen wie ein Mückenschwarm, hartnäckig, beharrlich, gelassen, als hätten sie genug Zeit zum Leben und zum Sterben, auch an einem einzigen Abend. Etwas ist merkwürdig an ihrer Art, um Almosen zu bitten, scheint unrecht, beinahe ein Trick - um Gottes Willen, das Elend und die Krankheiten, die sind »echt«, aber sie sind auch noch etwas anderes. Ich versuche zu verstehen, welche Gefühle der Bettler in mir erwecken möchte. Der -Abendländer ist sendmental, das Schauspiel des Elends rührt ihn; ja, das ist wahr, aber es ist nicht alles, sorgfältig beobachte ich meine Bettler und sehe, daß die Inder sie ignorieren, und praktisch auch die Bettler ihre weniger unglückseligen Landsleute ignorieren. Der Ausländer ist sendmental, nicht wahr? Aber das ist noch nicht alles. Eines Abends folgte mir ein kleiner Junge geduldig schon zwanzig Minuten, da flüsterte er mir auf einmal zu, wenn ich ihm »etwas gäbe«, würde er mich in Ruhe lassen. Es war in den ersten Stunden meines Indienaufenthalts, ich war noch naiv und der Meinung, man brauche dem Bettler nur auszuweichen, um ihm klarzumachen, er solle aufgeben. Am ersten Abend hatte ich zwei- oder dreimal meine Route gewechselt, um einem Bettler aus dem Weg zu gehen, der sich auf mein Almosen spezialisieren wollte. Welch ein Irrtum: der meine natürlich. Indem ich die Richtung wechselte, um ihm aus dem Weg zu gehen, hatte ich ihm klargemacht, daß ich mich beläsdgt fühlte und daß es sich darum lohnte weiterzumachen; denn der Abendländer ist mitleidig, reagiert nicht nur empfindlich auf die Male der Krankheit, lüstern genug, um die Barriere des Ekels zu kennen, und er neigt auch zu Schuldgefühlen. Das wußte der indische Bettler und ebenso, daß der Inder nicht empfindlich ist, keinen Überdruß, keinen Ekel und kein Schuldgefühl kennt.  - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)

Bettler (2)  Wie ich aus dem Meer des Murrens, Klagens, des Frauengeschreies mich ziehe und zum Ausgang dränge - es ist gegen elf Uhr vormittags -, hat sich in der Hauptallee die ganze Bettlerschaft der Stadt versammelt, dazu die jugendlichen Vertreter der jüdischen Hilfsorganisationen. Heute gibt man, als wenn man sich loskaufen wollte von Strafen für das Böse, das man einmal den Toten getan hat, und für alle Sünden des verflossenen Jahres. Der Tag der Toten und der Armen. Bettler, Blinde und Taube liegen'nun in Scharen vor den Gräberreihen. Stehen in der Mitte der Alleen, zerteilen den Menschenstrom. Schieben sich zwischen die Menschen. Rufen, klagen, fassen an, halten die Vorübergehenden bei der Hand, sind unerbittlich - wie die Selbstvorwürfe dieser Menschen. Da sind Stumme, die lallen und die Hände ausstrecken. Da schnattert einer eine mächtige Litanei. Überall ruft es: «Jüdische Leute, Rachmones!» - «Jüdische Kinder, gebt's.» Gräßlich, gräßlich zerlumpte Frauen tragen Kinder in Umschlagtüchern; gelbe alte Jüdinnen stehen in ihren harten Perücken. Ein großer Menschenkreis hat sich um ein Marmorgrab gebildet: ein junger Mann liegt davor, bläst Schaum. Seine Arme und Beine zucken rhythmisch, die Hände folgen schlaff. Neben sich hat er seine Mütze liegen. Auf dem Hinweg habe ich schon einen Blick auf ihn geworfen; jetzt liegt er noch da. Seine Mütze ist gefüllt mit Scheinen; immer fliegt unter Mitleidsworten Geld zu ihm herunter. Der dicke Schaum bewegt sich mit der Atmung: es ist Seifenschaum, der Mann ist ein Professioneller, ein Schwindler.  - Alfred Döblin, Reise in Polen. München 1987 (dtv 2428, zuerst 1925)

Bettler (3)  Eines Tages ließ die Gouvernante unseren Kutscher bei mehreren Läden halten, wo die Bettler die Gelegenheit ergriffen, sich von beiden Seiten an die Kutsche zu drängen; sie boten mir den schauerlichsten Anblick, den ein europäisches Auge jemals gesehen hat. Hier stand ein Weib mit einem Krebsgeschwür an der Brust, die zu ungeheuerlicher Größe angeschwollen und voller Löcher war. In zwei oder drei davon hätte ich ohne Schwierigkeit hineinkriechen und mich ganz darin verstecken können. Dort war ein Kerl mit einer Geschwulst am Hals, größer als fünf Wollballen, und ein anderer mit einem Paar Holzbeine, jedes ungefähr zwanzig Fuß hoch.

Bettler

Den widerlichsten Anblick von allem boten aber die Läuse, die auf ihren Kleidern herumkrochen. Ich konnte die Glieder dieses Ungeziefers mit bloßem Auge deutlich sehen, viel besser als die einer europäischen Laus durch ein Mikroskop, und ebenso ihre Rüssel, mit denen sie wie Schweine herumwühlten. Es waren die ersten, die ich jemals gesehen hatte, und ich wäre wißbegierig genug gewesen, eine von ihnen zu sezieren, wenn ich nur geeignete Instrumente gehabt hätte. -(gul)

Bettler (4)  In Hongkong wurde mir ein Bettler gezeigt, der außer seiner Hauptfrau zwei regelrechte Nebenfrauen ernährt. - Magnus Hirschfeld, Weltreise eines Sexualforschers im Jahre 1931/32. Frankfurt 2006 (zuerst 1933)

Bettler (5)  Monsieur Traum hockt auf dem Boden. Der Passant schenkt ihm zwei Sous und fragt ihn zum Beispiel warten Sie hier schon lange?

Er antwortet oh ja, aber machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nicht unbemittelt, nur langweile ich mich so sehr, stellen Sie sich vor, daß mir der Einfall gekommen ist mich hier hinzuhocken und darauf zu warten, daß mir etwas widerfährt.

Der Passant ist verblüfft, bietet ihm eine Zigarette an und fragt ihn weiter aus.  - (rp)

Bettler (6) Sie begegneten einem Bettler, der auf der Straße wie ein Irrsinniger sang. Der Schleim floß ihm aus der Nase, und er starrte vor Schmutz, daß man ihm nicht nahen konnte. Die Frau rutschte auf ihren Knien zu ihm hin. Der Bettler lachte: „Schätzchen, hast du mich gern?" Die Frau klagte ihm ihr Leid. Da begann er zu lachen: „Es gibt doch genug Männer für dich, warum soll man den einen wieder lebendig machen?" Die Frau fuhr fort, ihm zu klagen. Da sprach er: „Komisch, wenn einer tot ist, von mir zu verlangen, ich soll ihn wieder lebendig machen. Bin ich denn der Höllenfürst?" Dann tat er böse und schlug mit seinem Stock nach der Frau. Die verbiß den Schmerz und ließ es sich gefallen. Allmählich sammelten sich die Marktleute und standen dicht wie eine Mauer umher. Der Bettler räusperte sich, spuckte in die Hand. Das hielt er ihr an den Mund und sagte: „Iß es!" Da stieg der Frau die Röte ms Gesicht, und es schien, als würde es ihr zu schwer. Doch eingedenk der Worte des Priesters, bezwang sie sich schluckte ea hinunter. Sie fühlte etwas Hartes die Kehle hinabgleiten wie ein runder Klumpen, das in der Brust steckenblieb.

Da brach der Bettler in lautes Gelächter aus: „Wirklich, Schätzchen, du hast mich gern!" Mit diesen Worten stand er auf, ging weg und bekümmerte sich nicht mehr um sie. Sie folgte ihm. Er ging in einen Tempel. Sie folgte ihm nach, auch dorthin, ihn zu suchen. Er war verschwunden. Man forschte vorn und hinten nach ihm. Keine Spur war vorhanden.- (chm)

Bettler (7)  Wenn die Tarahumaras in die Städte herabkommen, betteln sie. Auf eine faszinierende Weise. Sie bleiben vor den Haustüren stehen und zeigen sich mit dem Ausdruck tiefster Verachtung im Profil. Sie sehen aus, als wollten sie sagen: »Du bist reich und bist ein Hund, ich tauge mehr als du, ich spucke auf dich.«  - Antonin Artaud, Die Tarahumaras. In: A. A., Mexiko. München 1992 (zuerst 1937)

Bettler (8)  Die Verkrüppelten: Krüppel, Krummbeine u.s.w. Ihr Leben im wesentlichen ist, um acht Uhr aufzustehen und bis elf ihre Runden zu machen; ihr Werkzeug, wie sie untereinander dazu sagen, sind ein paar Glas, so zwei drei Absinth, die sie trinken, um zur Arbeit zu gehen. ›Reich mir mal mein Werkzeug rüber‹, sagen sie in der Öffentlichkeit. Nennen Baustelle den Ort, wo sie arbeiten (betteln), und nach Feierabend treffen sie sich, um zusammen Abendbrot zu nehmen in miesen Löchern, was diese Buden sind, wo sie zum Essen hingehen. Danach trinken sie bis halb drei. Das ist etwa die Zeit, wo ›der Betuchte ausgeht‹, und wo sie sich wieder auf die Baustelle begeben, weil sie keinen Zaster mehr haben. Ist der Schnitt gut, arbeiten sie nur bis fünf oder sechs Uhr. Andernfalls gehen sie in die Kneipe, um sich neuen Mut anzusaufen und um die Arbeiterinnen, die von der Nachtschicht kommen, in der Avenue de l'Opéra oder in der Rue de la Paix oder auch in der Rue Tronchet und an der Madeleine abzupassen. Gehen dann zu Abend essen und lassen sich anschließend vollaufen bis zehn oder elf. Wenn sie zu besoffen sind, legen sie sich aufs Ohr oder klappern sonst eben die Theaterausgänge ab. Manchmal treffen sie ein paar alte Bettlerinnen (dreißig oder vierzig Jahre) wie sie selbst, die bloß mit ihnen schlafen, um etwas zum Futtern und ein Dach über dem Kopf zu haben, weil sie selbst keinen Schnitt gemacht haben. Oder es tun sich zwanzigjährige Mädchen mit einem Krüppel wegen des Geldes zusammen, weil sie sonst nicht wüßten, wovon sie ihren ausschweifenden Lebenswandel bestreiten sollen...   - Alfred Jarry, Tage und Nächte. Roman eines Deserteurs. Frankfurt am Main 1998 (zuerst 1897)

 

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