- Giorgio Manganelli,
Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)
Bettler (2) Wie ich aus dem Meer des Murrens, Klagens,
des Frauengeschreies mich ziehe und zum Ausgang dränge - es ist gegen elf Uhr
vormittags -, hat sich in der Hauptallee die ganze Bettlerschaft der Stadt versammelt,
dazu die jugendlichen Vertreter der jüdischen Hilfsorganisationen. Heute gibt
man, als wenn man sich loskaufen wollte von Strafen für das Böse, das man einmal
den Toten getan hat, und für alle Sünden des verflossenen Jahres. Der Tag der
Toten und der Armen. Bettler, Blinde und Taube liegen'nun in Scharen vor den
Gräberreihen. Stehen in der Mitte der Alleen, zerteilen den Menschenstrom. Schieben
sich zwischen die Menschen. Rufen, klagen, fassen an, halten die Vorübergehenden
bei der Hand, sind unerbittlich - wie die Selbstvorwürfe dieser Menschen. Da
sind Stumme, die lallen und die Hände ausstrecken. Da schnattert einer eine
mächtige Litanei. Überall ruft es: «Jüdische Leute, Rachmones!» - «Jüdische
Kinder, gebt's.» Gräßlich, gräßlich zerlumpte Frauen tragen Kinder in Umschlagtüchern;
gelbe alte Jüdinnen stehen in ihren harten Perücken. Ein großer Menschenkreis
hat sich um ein Marmorgrab gebildet: ein junger Mann liegt davor, bläst Schaum.
Seine Arme und Beine zucken rhythmisch, die Hände folgen schlaff. Neben sich
hat er seine Mütze liegen. Auf dem Hinweg habe ich schon einen Blick auf ihn
geworfen; jetzt liegt er noch da. Seine Mütze ist gefüllt mit Scheinen; immer
fliegt unter Mitleidsworten Geld zu ihm herunter. Der dicke Schaum bewegt sich
mit der Atmung: es ist Seifenschaum, der Mann ist ein Professioneller, ein Schwindler.
- Alfred Döblin, Reise in Polen. München
1987 (dtv 2428, zuerst 1925)
Bettler (3) Eines Tages ließ die Gouvernante unseren Kutscher bei mehreren Läden halten, wo die Bettler die Gelegenheit ergriffen, sich von beiden Seiten an die Kutsche zu drängen; sie boten mir den schauerlichsten Anblick, den ein europäisches Auge jemals gesehen hat. Hier stand ein Weib mit einem Krebsgeschwür an der Brust, die zu ungeheuerlicher Größe angeschwollen und voller Löcher war. In zwei oder drei davon hätte ich ohne Schwierigkeit hineinkriechen und mich ganz darin verstecken können. Dort war ein Kerl mit einer Geschwulst am Hals, größer als fünf Wollballen, und ein anderer mit einem Paar Holzbeine, jedes ungefähr zwanzig Fuß hoch.
Den widerlichsten Anblick von allem boten aber die Läuse,
die auf ihren Kleidern herumkrochen. Ich konnte die Glieder dieses Ungeziefers
mit bloßem Auge deutlich sehen, viel besser als die einer europäischen Laus
durch ein Mikroskop, und ebenso ihre Rüssel, mit denen sie wie Schweine herumwühlten.
Es waren die ersten, die ich jemals gesehen hatte, und ich wäre wißbegierig
genug gewesen, eine von ihnen zu sezieren, wenn ich nur geeignete Instrumente
gehabt hätte.
-(
gul
)
Bettler (4) In Hongkong wurde mir ein Bettler
gezeigt, der außer seiner Hauptfrau zwei regelrechte Nebenfrauen
ernährt. - Magnus Hirschfeld, Weltreise eines Sexualforschers
im Jahre 1931/32. Frankfurt 2006 (zuerst 1933)
Bettler (5) Monsieur Traum hockt auf dem Boden. Der Passant schenkt ihm zwei Sous und fragt ihn zum Beispiel warten Sie hier schon lange?
Er antwortet oh ja, aber machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nicht unbemittelt, nur langweile ich mich so sehr, stellen Sie sich vor, daß mir der Einfall gekommen ist mich hier hinzuhocken und darauf zu warten, daß mir etwas widerfährt.
Der Passant ist verblüfft, bietet ihm eine Zigarette an und fragt ihn weiter
aus. - (
rp
)
Bettler (6) Sie begegneten einem Bettler, der auf der Straße wie ein Irrsinniger sang. Der Schleim floß ihm aus der Nase, und er starrte vor Schmutz, daß man ihm nicht nahen konnte. Die Frau rutschte auf ihren Knien zu ihm hin. Der Bettler lachte: „Schätzchen, hast du mich gern?" Die Frau klagte ihm ihr Leid. Da begann er zu lachen: „Es gibt doch genug Männer für dich, warum soll man den einen wieder lebendig machen?" Die Frau fuhr fort, ihm zu klagen. Da sprach er: „Komisch, wenn einer tot ist, von mir zu verlangen, ich soll ihn wieder lebendig machen. Bin ich denn der Höllenfürst?" Dann tat er böse und schlug mit seinem Stock nach der Frau. Die verbiß den Schmerz und ließ es sich gefallen. Allmählich sammelten sich die Marktleute und standen dicht wie eine Mauer umher. Der Bettler räusperte sich, spuckte in die Hand. Das hielt er ihr an den Mund und sagte: „Iß es!" Da stieg der Frau die Röte ms Gesicht, und es schien, als würde es ihr zu schwer. Doch eingedenk der Worte des Priesters, bezwang sie sich schluckte ea hinunter. Sie fühlte etwas Hartes die Kehle hinabgleiten wie ein runder Klumpen, das in der Brust steckenblieb.
Da brach der Bettler in lautes Gelächter aus: „Wirklich, Schätzchen, du hast
mich gern!" Mit diesen Worten stand er auf, ging weg und bekümmerte sich
nicht mehr um sie. Sie folgte ihm. Er ging in einen Tempel. Sie folgte ihm nach,
auch dorthin, ihn zu suchen. Er war verschwunden. Man forschte vorn und hinten
nach ihm. Keine Spur war vorhanden.- (
chm
)
Bettler (7) Wenn die Tarahumaras in die Städte
herabkommen, betteln sie. Auf eine faszinierende Weise. Sie bleiben vor den
Haustüren stehen und zeigen sich mit dem Ausdruck tiefster Verachtung im Profil.
Sie sehen aus, als wollten sie sagen: »Du bist reich und bist ein Hund, ich
tauge mehr als du, ich spucke auf dich.« -
Antonin Artaud, Die Tarahumaras. In: A. A., Mexiko. München 1992 (zuerst 1937)
Bettler (8) Die Verkrüppelten: Krüppel,
Krummbeine u.s.w. Ihr Leben im wesentlichen ist, um acht Uhr aufzustehen und
bis elf ihre Runden zu machen; ihr Werkzeug, wie sie untereinander dazu
sagen, sind ein paar Glas, so zwei drei Absinth, die sie trinken, um zur Arbeit
zu gehen. ›Reich mir mal mein Werkzeug rüber‹, sagen sie in der Öffentlichkeit.
Nennen Baustelle den Ort, wo sie arbeiten (betteln), und nach
Feierabend treffen sie sich, um zusammen Abendbrot zu nehmen in miesen Löchern,
was diese Buden sind, wo sie zum Essen hingehen. Danach trinken sie bis halb
drei. Das ist etwa die Zeit, wo ›der Betuchte ausgeht‹, und wo sie sich wieder
auf die Baustelle begeben, weil sie keinen Zaster mehr haben. Ist der Schnitt
gut, arbeiten sie nur bis fünf oder sechs Uhr. Andernfalls gehen sie in die
Kneipe, um sich neuen Mut anzusaufen und um die Arbeiterinnen, die von der Nachtschicht
kommen, in der Avenue de l'Opéra oder in der Rue de la Paix oder auch in der
Rue Tronchet und an der Madeleine abzupassen. Gehen dann zu Abend essen und
lassen sich anschließend vollaufen bis zehn oder elf. Wenn sie zu besoffen sind,
legen sie sich aufs Ohr oder klappern sonst eben die Theaterausgänge ab. Manchmal
treffen sie ein paar alte Bettlerinnen (dreißig oder vierzig Jahre) wie sie
selbst, die bloß mit ihnen schlafen, um etwas zum Futtern und ein Dach über
dem Kopf zu haben, weil sie selbst keinen Schnitt gemacht haben. Oder es tun
sich zwanzigjährige Mädchen mit einem Krüppel wegen des Geldes zusammen, weil
sie sonst nicht wüßten, wovon sie ihren ausschweifenden Lebenswandel bestreiten
sollen... - Alfred Jarry, Tage und Nächte. Roman eines Deserteurs.
Frankfurt am Main 1998 (zuerst 1897)
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