Totenschlaf  Mit allerlei Listen und dank seinem profunden Wissen hoffte er, daß ihm dies unter gewissen Voraussetzungen gelänge: Um seinen Körper von allen sterblichen Substanzen zu reinigen, ohne ihn aufzulösen, mußte er, vor jeglicher Gefahr, vor jedem zersetzenden Element beschützt, 225 Jahre lang den tiefen Schlaf der Toten schlafen. Danach würde die verbannte Seele, verjüngt bis zur blühenden Manneskraft, deren Höhepunkt das dreiunddreißigste Lebensjahr ist, in seinen Körper zurückkehren.

Sobald Soliman, alt und schwach geworden, im Verfall seiner Kräfte Anzeichen seines nahen Endes erkannte, befahl er den unterworfenen Geistern, ihm im Berg Kaf einen unzugänglichen Palast zu errichten, in dessen Mittelpunkt er einen mächtigen Thron aus Gold und Elfenbein stellen ließ, getragen von vier Pfeilern aus dem harten Stamm einer Eiche.

Dort hatte Soliman, der Fürst der Geister, beschlossen, diese Probezeit zu verbringen. Die letzte Zeit seines Lebens benützte er dazu, durch magische Zeichen, mystische Worte und mittels des Ringes alle Tiere, alle Elemente, alle die Materie zersetzenden Stoffe zu beschwören. Er beschwor die Dämpfe der Wolken, die Feuchtigkeit der Erde, die Strahlen der Sonne, den Hauch der Winde, die Schmetterlinge, die Maden und die Larven. Er beschwor die Raubvögel, die Fledermaus, die Eule, die Ratte, die unreine Fliege, die Ameise und die Gattung der kriechenden und nagenden Insekten, er beschwor das Metall; er beschwor den Stein, die Alkalien und die Säuren und sogar die Ausdünstungen der Pflanzen.

Nachdem er diese Vorkehrungen getroffen und sich vergewissert hatte, daß sein Körper in Sicherheit war vor allen zerstörerischen Kräften, den unerbittlichen Werkzeugen von Eblis, ließ er sich ein letztes Mal in das Innere des Berges Kaf bringen. Dort versammelte er die Geister um sich, bürdete ihnen unermeßliche Arbeiten auf und schärfte ihnen unter Androhung schlimmster Strafen ein, seinen Schlaf zu respektieren und über ihn zu wachen.

Dann setzte er sich auf seinen Thron, wo er seine Glieder unverrückbar festklemmte, die allmählich erkalteten; seine Augen wurden trübe, sein Atem stockte, er fiel in den Schlaf des Todes.

Und die unterjochten Geister dienten ihm weiterhin, sie führten seine Befehle aus, warfen sich vor ihrem Herrn zu Boden und warteten auf sein Erwachen.

Und die Winde verschonten sein Antlitz; die Larven, aus denen Würmer schlüpften, konnten nicht an ihn herankommen; die Vögel, die Nagetiere unter den Vierfüßlern waren gezwungen, ihm fernzubleiben; das Wasser hielt seine Dämpfe von ihm ab, und sein Körper blieb dank der Beschwörungen mehr als zweihundert Jahre lang unangetastet.

Solimans Bart, der weitergewachsen war, reichte bis zu seinen Füßen hinab; seine Nägel hatten das Leder der Handschuhe durchbohrt und den goldenen Stoff seiner Schuhe.

Aber wie könnte der menschliche Verstand in seinen engen Grenzen je das UNENDLICHE erreichen? Ein Insekt hatte Soliman zu beschwören versäumt, das winzigste von allen... er hatte die Milbe vergessen.

Die Milbe kam geheimnisvoll... unsichtbar. Sie setzte sich an einem der Pfeiler fest, die den Thron trugen, und zerfraß ihn langsam, ganz langsam, ohne je innezuhalten. Selbst das schärfste Ohr hätte dieses Atom nicht nagen  gehört, das Jahr für Jahr ein paar Körnchen staubfeines Sägemehl zurückließ.

Sie arbeitete 224 Jahre ... Dann gab plötzlich der angefressene Pfeiler unter dem Gewicht des Thrones nach, der mit einem ohrenbetäubenden Krachen zusammenbrach.

Eine Milbe war es, die Soliman besiegt hatte und die als erste wußte, daß er tot war, denn der auf das Pflaster gestürzte König der Könige erwachte nicht mehr.   - Gérard de Nerval, Reise in den Orient. München 1986 (zuerst 1851)

 

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