Schlaflosigkeit   Der Mann beugte sich dringlich über den Kleinen und rührte ihn an, vielmehr strich er ihm ganz sacht mit einer Hand über den Kopf. Carlo schreckte hoch, riß die Augen weit auf und stieß einen langen Klagelaut aus.

Da sprach der Unbekannte und betonte dabei jede einzelne Silbe.

»Alle schlafen«, sagte er feierlich, »alle schlafen jetzt. In den Nachbarhäusern sind sie alle eingeschlafen, und in der ganzen Stadt... auch dein Bruder«, fügte er nach einer Pause hinzu, und das stimmte gar nicht, aber im Halbdunkel konnte Carlo den Bruder, der stand, aber mit dem Rücken an der Wand lehnte, nicht sehen. »Alle schlafen...«, wiederholte er, als wolle er einen Bann ausüben, »alle dürfen sich ausruhen; alle schlafen, alle schlafen...«

Dann verstummte er, und tiefes Schweigen herrschte. Carlo sank wieder in den Schlaf.

»Außer dir...«, fuhr der Spukhafte mit erhobener Stimme fort, indem er den Knaben abermals anrührte und ihn aufweckte.

»Alle schlafen, schlafen, schlafen...«, murmelte der Unbekannte immerfort wie eine Litanei. Und kaum fielen dem Jungen die Augen zu, wurde er wiederum angerührt, damit er nicht einschlafen könne. Der Mann berührte ihn mit einer ungemein höflichen Geste; sie war mit mathematischer Genauigkeit berechnet. Und dann wiederholte er: »Außer dir.«

Alle schlafen, ausgenommen ich, dachte der Knabe, und wird das auch morgen abend so sein, und auch übermorgen, immer?  - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt am Main 1985

Schlaflosigkeit (2)

Einer Edelfrau schlaflose Nacht

Einer Edelfrau schlaflose Nacht

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Du eichst an Oel — Schlaraffeneier,
falsche Nilfaecher - erlest Donau
und rasche Achter...Fallseefolien...
Teuflisch fasern Aale, erdolchen
aller Schaedel Faust: noch feiner,
oede Lerche!... Schaust in Farfalle,
dralle Ferena — schaufele nicht so!
Also lachte der Faunenschleifer:
Roll einfach Schleuder! Satanfee,
lausche! Drachenfersen-Fellatio
loesch den Rachen - sauf Filter-Ale!
Du hast freie Flacon-Scheren, Ella!
alle Feldereien...fast schon Rauch...

 - Oskar Pastior, nach (abc)

Schlaflosigkeit (3)   Das kam aus dem Nebenzimmer; eins der beiden Mädchen weinte. Sie hüpfte in ihrem Bett herum wie ein Karpfen und hat angefangen zu schreien: «Nein! Nein!» Darauf ist die andere aufgestanden, ich habe Schritte gehört, und sie ist zum Bett ihrer Freundin gegangen, sie hat sich darangemacht, sie mit einer gesetzten Stimme, die durch die Mauern drang, zu beruhigen. Ich hörte nicht, was sie sagte, aber diese vor gesundem Menschenverstand regelrecht singende Stimme zerrte mir an den Nerven.

Mir verging das Lachen: ich wurde zum drittenmal geweckt, und natürlich spürte ich eine Stange in meinem Kopf, und meine Augen juckten mich wie Wunden, die trocknen. Ich habe angefangen, mich in meinem Bett herumzuwälzen und vor Verzweiflung zu keuchen; dann habe ich mir die Decke über den Kopf gezogen: aber ich bekam keine Luft, und außerdem verfolgte mich die unerbittliche Stimme bis unter die Decke. Soll ich an die Zwischenwand klopfen? Man hindert ein Mädchen nicht daran zu schluchzen, und dann muß man auch hinnehmen, daß ihre Freundin sie tröstet. Ich war ihnen übrigens nicht böse: im Gegenteil: sie auch, sie hätten auch lieber geschlafen. Die, die nicht weinte, vor allem. Sie stand bestimmt am Kopfende des Bettes ihrer Freundin, barfuß, im Hemd: sie redete, redete, das nahm kein Ende, und spürte die Kälte, die an ihren Beinen bis zum Bauch hinauf kroch; sie streckte ihre nackten und eiskalten Arme aus, sie hatte dumpfe Schmerzen hinten in den Augen. Auf das Hotel war ich böse, auf diese Pappbude, ich haßte die Wirtin. Ich setzte mich im Bett auf und sagte laut:

«Die kann sich auf was gefaßt machen, die alte Kupplerin, ich verschwinde von hier, sobald es hell wird.»   - Jean-Paul Sartre, Der Ekel. Reinbek bei Hamburg 2004 (zuerst 1938)

Schlaflosigkeit (4)  Ich liege im Bett und bin schlaflos. Nicht ich drehe die Gedanken, sondern sie drehen sich. Und ich schaue ihnen zu, als ob ich sie von unter her, also vom Bett aus, beobachten könnte. Manchmal greife ich in sie ein, um sie zu verscheuchen, denn ich werde immer müder - und ich muß schlafen. Und dann wieder erfassen sie mich, und versuchen, mich mitzureißen. Sie drehen sich, also sind sie leere Gedanken. Vielleicht sind sie, wie Kant meinte, analytisch a priori. Wie war das damals mit Newton, als er die himmlische mit der irdischen Mechanik auf einen Nenner brachte, und so das Gebäude der modernen Wissenschaft baute? Das mit dem Apfel ist doch nur eine fromme Legende. Wahrscheinlich lag Newton damals schlaflos im Bett und beobachtete von dort aus seine kreisenden Gedanken.

Schlaflosigkeit ist eine Krankheit. Man kann daran sterben. Es ist jedoch in gewissem Sinn eine umgekehrte Krankheit. Bei der Schlaflosigkeit werde ich körperlos, und was von mir übrigbleibt, sind meine über mir kreisenden Gedanken. Bei den übrigen Krankheiten neige ich dazu, immer mehr Körper zu werden. Was von meinen Gedanken noch übrigbleibt, kreist um meinen kranken Magen, meine kranke Lunge. Wenn ich krank bin, werde ich immer weniger eine denkende und immer mehr eine ausgedehnte Sache, immer geometrischer und immer weniger arithmetisch. Der Tod tritt ein, wenn ich nur noch ausgedehnt bin. - Vilém Flusser

Schlaflosigkeit (5)  In der Tat besaß das Gemälde eine ganz eigenartige Anziehungskraft, und ich war froh, daß Georgina sie auch spürte. Sie war ein so gebildeter Mensch, fast eine Aristokratin.

Es  war wirklich seltsam, wie oft die lüsterne Äbtissin meine Gedanken beschäftigte. Ich gab ihr sogar einen Namen, den ich aber für mich behielt, einen schönen langen Namen in spanischem Stil: Doña Rosalinda Alvarez de la Cueva. Ich stellte sie mir als Äbtissin eines riesigen barocken Klosters vor, das auf einem einsamen, kahlen Felsen in Kastilien lag. Das Kloster wurde El Convento de Santa Barbara de Tartarus genannt, nach der bärtigen Patronin der Vorhölle, von der es heißt, daß sie mit den ungetauften Kindern in jenen niederen Regionen spielt. Wie mir all diese Phantastereien einfielen, kann ich nicht sagen, aber sie unterhielten mich, besonders während schlafloser Nächte.  - (hoer)

Schlaflosigkeit (6)   Wollte mich einer fragen: was bildet gegenwärtig die hauptsächliche und grundlegende Seite deiner Existenz?, ich würde antworten: die Schlaflosigkeit. Ganz wie vordem, pflege ich auch jetzt mich Punkt Mitternacht auszuziehen und zu Bett zu begeben. Ich schlafe bald ein, wache aber gewöhnlich bereits in der zweiten Stunde auf, und zwar mit einem Gefühl, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Ich muß dann aufstehen und die Lampe anzünden. Eine Stunde oder zwei schreite ich von einer Ecke des Zimmers in die andere und betrachte die längst bekannten Bilder und Photographien. Wenn ich nicht mehr gehen mag, nehme ich am Schreibtisch Platz. Dort sitze ich unbeweglich, denke an nichts und hege keinerlei Wünsche; wenn zufällig ein Buch vor nur liegt, -ziehe ich es mechanisch heran und lese ohne Interesse. So habe ich kürzlich in einer Nacht mechanisch einen ganzen Roman durchgelesen, der den sonderbaren Titel führte: Wovon die Schwalbe sang. Oder aber ich zwinge mich, um meine Aufmerksamkeit zu beschäftigen, bis tausend zu zählen, oder ich stelle mir das Gesicht irgendeines meiner Kollegen vor und beginne nachzusinnen, in welchem Jahr und unter welchen Umständen er seinen Dienst angetreten hat. Wenn ich Geräusch vernehme, liebe ich es, hinzuhorchen. Zuweilen höre ich meine Tochter Lisa, die zwei Zimmer entfernt schläft, eifrig im Schlaf reden, zuweilen geht meine Frau mit einer Kerze durch den Saal, wobei sie unbedingt jedesmal die Zündholzschachtel fallen lassen muß.  - Anton Tschechow, Eine langweilige Geschichte. Nach (tsch)

Schlaflosigkeit (7)  Schon seit langem kannte ich nicht mehr das selige Gefühl der Müdigkeit - und des tiefen und ruhigen Schlafes. Solange es hell war, dachte ich an den Einbruch der Nacht mit der Ängstlichkeit eines Menschen, der ein volles Gefäß mit Wasser trägt; ich war bemüht, mich nicht aufzuregen, war beinahe überzeugt, diesmal werde die Erschöpfung die quälende Nüchternheit des Geistes besiegen. Aber kaum wurde es Abend, bemächtigte sich meiner die Angst, nicht einschlafen zu können, und ich quälte mich, sehnte mich nach dem Einbruch der Nacht, um zu versuchen, schließlich einzuschlafen. Leider, je näher es auf Mitternacht zuging, um so deutlicher überzeugten mich meine Sinne von ihrer unnatürlichen Wachheit; eine beunruhigende Lebhaftigkeit, dem Aufblitzen von Magnesium im Dunkel ähnlich, zurrte meine Nerven zu einer beim geringsten Eindruck vibrierenden gespannten Saite zusammen, als würde ich nach einem Tag zu einer langen Wanderung im Innern meines unruhigen Herzens geweckt. Die Müdigkeit zerstreute sich, die Augen stachen wie von trockenem Sand, der Beginn jedes Gedankens entfaltete sich augenblicklich in eine komplizierte Kette von Bildern, und die bevorstehenden langen Stunden der Schlaflosigkeit voller Erinnerungen riefen ohnmächtige Empörung hervor, wie eine fruchtlose Zwangsarbeit, der man nicht entrinnen kann. Ich rief den Schlaf herbei, wie ich nur konnte. Gegen Morgen fühlte sich mein Körper an wie mit kochendem Wasser vollgepumpt, und mich zum Gähnen zwingend sog ich die trügerische Anwesenheit des Schlafes ein, aber, sobald ich die Augen schloß, verspürte ich genau das gleiche, was wir empfinden, wenn wir unnötig am Tag die Augen schließen — die Sinnlosigkeit dieser Tat.  - Alexander Grin, Der Rattenfänger. In: Phantastische Welten, Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1984 (Phantastische Bibliothek 137)

Schlaflosigkeit (8)

Madrid ist eine Stadt von über einer Million Leichen (nach der letzten Statistik).
Manchmal des Nachts wälze ich mich und richte mich auf in der Gtabkammer, in der ich seit fünfundvierzig Jahren verwese,
und verbringe lange Stunden damit, dem stöhnenden Wind zu lauschen oder Hundegebell oder dem sanften Strömen des Mondes,
und verbringe lange Stunden damit, wie der Wind zu stöhnen, wie ein wütender Hund zu bellen und wie Milch aus dem warmen Euter einer gelben Riesenkuh zu rinnen,
und verbringe lange Stunden mit der Frage an Gott, der Frage, warum meine Seele langsam verwest,
warum über eine Million Leichen verwesen in dieser Stadt Madrid,
warum tausend Millionen Leichen allmählich in der ganzen Welt verwesen.
Sag mir: welchen Garten willst du mit unserer Vet wesung düngen?
Fürchtest du, die Rosenfelder des Tages könnten verdorren,
die Todeslilien im Trauerfeld deiner Nächte?

 - Dámaso Alonso, nach (mus)

Schlaflosigkeit (9)

Schlaflosigkeit (10)  Wenn man ins Bett gekrochen, wird der Raum über dem Hirn groß. Niemals vorher war ihm Schlaflosigkeit so deutlich gewesen. Zeit, die ihn in großen konzentrischen Kreisen verließ, und ihn, sein Vermögen verhöhnte. Wäre er flüchtig gewesen wie sie, der Gedanke eines guten Planes wäre bald groß wie eine Weltkugel gewesen. Unglück abwenden. Er erfand nichts Untrügliches. Daß er sich opfern müsse, allein, wurde ihm zu einer süßen Gewißheit. An der Feststellung berauschte er sich. Jugend, die immer wieder nur ein Ziel findet, zu sterben. Weil sie sich nicht zu schämen braucht, entblößt in ein unbekanntes Gericht gestoßen zu werden. Sie ist noch nicht geflüchtet in den Glauben an die Nachkommen. Sie liebt schon, aber sie säugt noch nicht.

Blut verströmen für den Freund. Hinterrücks gemordet werden. Er gab sich Bildern hin. Alle Abenteuer endeten mit dem salzigen Geschmack des eigenen Fleisches auf der Zunge. Nicht der Geschmack war das Letzte. Nicht das Röcheln. Nicht die Taubheit im Tode. Ein warmer Kuß auf kalte Lippen. Eine Berührung. Ein Getragenwerden an der Brust eines geliebten Menschen. Da war sein Schoß eine Lotosblüte, die aufbrach. Er dachte sich entkleidet und bereute es nicht. Er gestattete der Hand, die ihn trug, daß sie ihn kitzelte. Den Toten neckte mit verliebten Spielen.  - Hans Henny Jahnn, Perrudja. Frankfurt am Main 1966  (zuerst 1929)

 

Schlaf

 

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