üdigkeit   Werther spricht von seiner Müdigkeit (»Laß mich ausdulden, ich habe bei aller meiner Müdseligkeit noch Kraft genug durchzusetzen«). Die Unruhe des Liebenden bringt eine Verausgabung mit sich, die dem Organismus ebenso heftig zusetzt wie schwere körperliche Arbeit. »Ich habe so sehr gelitten, sagte jemand, ich habe den ganzen Tag so heftig mit dem Bild des geliebten Wesens gerungen, daß ich abends sehr gut schlief.« Und kurz vor seinem Selbstmord legte sich Werther zu Bett und schlief lange. - (barthes)

Müdigkeit (2)  Ich will erzählen von den unterschiedlichen Weltbildern der verschiedenen Müdigkeiten. — Wie zum Fürchten war etwa seinerzeit die Art der Müdigkeit, die sich zusammen mit einer Frau ergeben konnte. Nein, diese Müdigkeit ergab sich nicht, sie ereignete sich, als ein physikalischer Vorgang; als Spaltung. Und sie traf auch nie mich allein, sondern jedesmal zugleich die Frau, so als käme sie, wie ein Wetterumschlag, von außen, aus der Atmosphäre, vom Raum. Da lagen, standen oder saßen wir, gerade noch selbstverständlich zu zweit, und von einem Moment zum andern unwiderruflich getrennt. Ein solcher Moment war immer einer des Erschreckens, manchmal sogar des Entsetzens, wie bei einem Sturz: »Halt! Nein! Nicht!« Aber nichts half; die beiden fielen schon, unaufhaltsam, weg voneinander, ein jeder in seine höchsteigene Müdigkeit, nicht unsere, sondern meine hier und deine dort.

Mag sein, daß die Müdigkeit in diesem Fall nur ein anderer Name für Gefühllosigkeit oder Fremdheit war — doch für den Druck, der auf dem Umkreis lastete, war sie das der Sache gemäße Wort. - Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt am Main 1989

Müdigkeit (3) Die Müdigkeit war so stark, daß er, ausgezogen daliegend, meinte, er sei noch ganz angezogen. Was hieß »Müdigkeit«? - Es gab keine Gehirnfunktion mehr, und draußen bellten die Hunde. - Die schlimmste Müdigkeit war jene, die man im Kopf als Dummheit spürte. - Aber es gab auch eine andere Müdigkeit, in die man eingehüllt war als in einen triumphalen, »regen«undurchlässigen Stoff; man fühlte dann die Freundlichkeit der Müdigkeit als die tiefste der Freundlichkeiten. (Wenn ich alt geworden sein werde, werde ich meinen »Versuch über die Müdigkeit« schreiben) - (bleist)

Müdigkeit (4) Vor mehr als zehn Jahren nahm ich ein Nachtflugzeug von Anchorage in Alaska nach New York. Es war ein sehr langwieriger Flug, mit dem Start, lang nach Mitternacht, von der Stadt am Cook Inlet — in den bei Flut die Eisschollen hochaufgerichtet hinein-, aus dem sie bei Ebbe dann, schwarzgrau geworden, wieder hinaus in den Ozean galoppierten —, einer Zwischenlandung im ersten Morgengrauen bei Schneetreiben in Edmonton / Kanada, einer weiteren Zwischenlandung, mit Kreisen in der Warteschleife, dann Anstehen unten auf der Piste, in der grellen Vormittagssonne von Chicago, der Landung am stickigen Nachmittag weit draußen vor New York. Endlich im Hotel, wollte ich mich sofort schlafenlegen, wie krank — von der Welt abgeschnitten - nach der Nacht ohne Schlaf, Luft und Bewegung. Aber dann sah ich unten die Straßen am Central Park weit von der Frühherbstsonne, in der, wie mir vorkam, festtäglich die Leute sich ergingen, und im Gefühl, im Zimmer jetzt etwas zu versäumen, zog es mich hinaus zu ihnen. Ich setzte mich auf eine Caféterrasse in die Sonne, nah am Getöse und an den Benzinschwaden, noch immer benommen, ja im Innern in ein beängstigendes Wanken gebracht von meiner Übernächtigkeit. Doch dann, ich weiß nicht mehr wie, allmählich?, oder wieder Ruck um Ruck? die Verwandlung. Ich habe einmal gelesen, Schwermütige könnten ihre Krisen überbrücken, indem sie über Nächte und Nächte am Schlafen gehindert würden; die in ein gefährliches Schwanken geratende »Hängebrücke ihres Ich« würde dadurch stabil. Jenes Bild hatte ich vor mir, als nun in mir die Bedrängnis der Müdigkeit Platz machte. Diese Müdigkeit hatte etwas von einem Gesundwerden. Sagte man nicht: »Mit der Müdigkeit kämpfen«? - Dieser Zweikampf war zuende. Die Müdigkeit war jetzt mein Freund. Ich war wieder da, in der Welt, und sogar — nicht etwa, weil es Manhattan war — in ihrer Mitte. - Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt am Main 1989

Müdigkeit (5) Im Wirtshaus ging er gleich in sein Zimmer und legte sich aufs Bett, Frieda machte sich daneben auf dem Boden ein Lager zurecht. Die Gehilfen waren mit eingedrungen, wurden vertrieben, kamen dann aber durchs Fenster wieder herein. K. war zu müde, um sie nochmals zu vertreiben. Die Wirtin kam eigens herauf, um Frieda zu begrüßen, wurde von Frieda »Mütterchen« genannt; es gab eine unverständlich herzliche Begrüßung mit Küssen und langem Aneinanderdrücken. Ruhe war in dem Zimmerchen überhaupt wenig, öfters kamen auch die Mägde in ihren Männerstiefeln hereingepoltert, um irgend etwas zu bringen oder zu holen. Brauchten sie etwas aus dem mit verschiedenen Dingen vollgestopften Bett, zogen sie sie rücksichtslos unter K. hervor. Frieda begrüßten sie als ihresgleichen. Trotz dieser Unruhe blieb doch K. im Bett, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Kleine Handreichungen besorgte ihm Frieda. Als er am nächsten Morgen sehr erfrischt endlich aufstand, war es schon der vierte Tag seines Aufenthalts im Dorf. - Franz Kafka, Das Schloß

Müdigkeit (6) Ich bin der Reibereien müde. Ich schreie von Morgen bis Abend nach Ruhe, Ruhe, und es vergeht kein Tag, wo ich nicht versucht bin, in der Dunkelheit zu leben und im Schoß meiner Provinz zu sterben. Es kommt eine Zeit, wo alle Asche sich mischt. Was liegt dann daran, Voltaire oder Diderot gewesen zu sein und daß Ihre oder meine drei Silben noch übrig sind? Man muß arbeiten, nützlich sein, Rechenschaft von seinen Talenten ablegen usw. Den Menschen nützlich sein? Ist es so gewiß, daß man etwas anderes tut, als sie zu ergötzen, und daß zwischen einem Philosophen und einem Flötenspieler ein großer Unterschied ist? Sie hören den einen und den andern mit Vergnügen oder Verachtung und bleiben was sie sind. - Diderot an Voltaire, nach (enz)

Müdigkeit (7)  Donnerstag, 14. März 1907  Es ist ein Mensch denkbar, der sein tiefstes Leben derart in der Vergangenheit lebt und daher müde durch seine Tage schleicht, immer müder, so daß die Gegenwart so blaß wird, daß sie für spätere Erinnerung fast nichts mehr aufspeichert - und so wird das ganze Leben dünner, der Schein schwächer und schwächer. Seine Seele sitzt zwanzig Jahre hinter ihm. Der Vierzigjährige paßt nicht mehr dorthin zurück. Ein solches Auslöschen. Ein Licht, das so beiseite geweht wird, sich vom Dochte abzureißen und zurückzufliegen versucht und mit dem Augenblick, da es ganz frei schwebt, erloschen ist. Das Körperhafte an den Dingen hinderte zu sehr. Er war nicht sinnlich genug. - Oskar Loerke, Tagebücher 1903 - 1939. Frankfurt am Main 1986 (st 1242)

Müdigkeit (8) »Da bist du ja endlich, Maigret! Ich fragte mich schon ... Ich habe Frikadellen gemacht, wie du mich am Telefon gebeten hast.«

Aber der Kommissar, der schon in der Diele seine Jacke auszieht, seine Krawatte abbindet und seinen Kragen aufknöpft, stammelt:

»Schlafen .. .«

»Wie? Du willst nichts essen? Du ...«

Er hört gar nicht hin. Er verschwindet im Schlafzimmer und zieht sich seufzend aus.

»Zu dumm! Ach, die Menschen sind zu dumm.« Die Sprungfedern des Bettes knirschen unter seinem Gewicht. Er versucht, im Kopfkissen eine Kuhle für seinen Kopf zu machen, und murmelt schon halb schlafend:

»Wenn sie übrigens nicht so dumm wären, bräuchte man keine Polizei mehr.« - Georges Simenon, Maigret verschenkt seine Pfeife. München 1977 (Heyne Simenon-Kriminalromane 49, zuerst 1944)

Müdigkeit (9) Nachdem er lange gegangen war, immer geradeaus, seine Leiter auf der Schulter tragend, und schon weit fort von seiner Heimat war, stand er eines Tages vor einem schönen Schloß, das nach allen Seiten von hohen Mauern, Gestrüpp und Dornen umgeben war. An einem Turmfenster sah er einejunge Dame von auffallender Schönheit. Er blieb stehen, um sie zu betrachten. Sie lächelte ihn an, und schon begannen sie eine Unterhaltung. Die Dame teilte ihm mit, daß ihr Gatte, der Schloßherr, nicht zu Hause sei. Er wäre schrecklich eifersüchtig und halte sie in diesem Turm gefangen, mit einer Dienerin als einziger Gesellschaft, auch erlaube er ihr nicht, irgendeinen Besuch zu empfangen. Sie langweilte sich sehr in ihrem Turm und wollte gern hinaus, aber der Herr hatte die Schlüssel mitgenommen, und bis zu seiner Rückkehr mußte sie hinter Schloß und Riegel bleiben; er sollte am folgenden Tage nach Hause kommen.

«Ich könnte schon ohne Schlüssel zu Euch gelangen, wenn Ihr es erlaubt», sagte Guyon.

«Wie das? Es sei denn, Ihr verwandelt Euch in einen Vogel! In dieses Schloß kann kein anderer Mann hinein als mein Gatte, und wenn es doch jemandem gelänge, hineinzukommen: hinaus käme er nicht lebendig.»

«Das wollen wir doch einmal sehen», sagte Guyon.

Und er lehnte seine Leiter an den Turm. Ach! sie war zu kurz! Aber die Dame und ihre Dienerin reichten ihm Vorhänge hinunter, und so konnte er zu ihrer großen Freude zu ihnen gelangen. Er verbrachte dort die ganze Nacht. Am folgenden Morgen, in aller Frühe, ging er auf dem gleichen Wege, wie er gekommen war, wieder hinaus. Da er die junge Dame und ihre Dienerin gut unterhalten hatte — solches war ihnen noch nie vorgekommen -, füllten sie ihm, bevor er ging, die Taschen mit Gold, Juwelen und Diamanten.

Als Guyon so in aller Ruhe, mit seiner Leiter über der Schulter, weiterzog, begegnete ihm der Edelmann, welcher gerade heimkehrte. Er sagte im Vorbeigehen zu Guyon: «Ihr scheint schwer zu tragen zu haben und seht müde aus, guter Mann.»

«Es geht», erwiderte Guyon.

Und so ging jeder in seiner Richtung davon. - (bret)

Müdigkeit (10)

Faulheit

„Ach wat. .. müde ... tragen ... dir ärgert bloß, daß ick dir habe loofen jelernt!"

- Heinrich Zille, aus: Zille-Bilder. Hg. Gerhard Flügge. Berlin 1960

Müdigkeit (11)  In früheren Zeiten hat es viele Hexen gegeben. Man sagt, heutzutage gäbe es noch mehr, aber sie hielten sich mehr im geheimen. Ich weiß es nicht, und wie es nun sei, die Geschichte, die ich erzählen will, hat sich schon vor langer Zeit zugetragen.

Damals ist ein Pfarrer in ein Dorf gekommen, und als er seine Stelle übernommen hatte, wollte er jemand zur Bedienung einstellen. Aber da er nicht viel zahlen konnte oder wollte, hat er lange Zeit niemanden gefunden. Dann ist eines Tages eine Mutter mit ihrer Tochter zum Pfarrer gekommen, die sind beide Hexen gewesen; aber der Pfarrer hat das nicht gewußt. Und die beiden haben zum Pfarrer gesagt:

»Wir machen gern den Dienst in Euerm Hause, auch wenn die Bezahlung gering ist, denn wir sind selbst nicht arm. Wir verlangen nur gutes Essen.«

»Das sollt ihr haben!« hat der Pfarrer versprochen. Die beiden haben über das Essen nicht klagen können, denn der Pfarrer hat selbst gutes Essen und einen guten Tropfen geliebt. Aber auch der Pfarrer konnte mit seinen beiden Hausbesorgerinnen zufrieden sein, denn die waren flink bei der Arbeit und sauber bei allem, was sie ausführten. Dem Pfarrer ist nur aufgefallen, daß sie manchmal morgens sehr müde waren, und wenn er von der Messe heingekommen war, noch schliefen.  - Baskische Märchen. Übs. und Hg. Felix Karlinger und Erentrudis Laserer. Düsseldorf, Köln 1980 (Diederichs, Die Märchen der Weltliteratur)

Müdigkeit (12)   Gestern machte ich einen langen Spaziergang und wurde davon über alle Maßen müde und abgespannt. Da dachte ich darüber nach, was eigentlich Müdigkeit ist. Und da fand ich, daß es tatsächlich nichts anderes ist als die Verdunstung eines Stoffes, den wir Seele nennen. Ich entdeckte die neue und tiefe Theorie, daß jede Maschine, die mit einem Willen begabt ist, müde werden kann, zum Beispiel der Mensch, das Tier. Die sogenannte »stoffbildende« Seele der Bäume oder lebender Wesen ist keiner Müdigkeit unterworfen. So hängt die Bewegung des Herzens usw. von unserer stoffbildenden Seele ab und ist weder dem Willen noch der Müdigkeit unterworfen. Der Wille ist also ein Ausströmen jenes flüchtigen Stoffes, der auf den Nerv wirkt, von dem der Wille ausgeführt wird; indem der Stoff sich verflüchtigt, wird die Müdigkeit hervorgebracht und dauert so lange, bis er wieder ersetzt ist. Der Tod ist also eine vollständige Müdigkeit, die durch ein Übermaß von Wünschen herbeigeführt wird. - (gale)

Müdigkeit (13)   Jetzt bin ich müde, immerzu mit mir selbst zu leben. Es sind bereits 24 Jahre, die ich in meiner eigenen Gesellschaft verbringe. Nun reicht es: Es langweilt mich endgültig. Nur langweilen? Nicht im Traume! Sagt nur, daß ich angeekelt, abgestoßen, angewidert bin von mir selbst, mit dem ich nun bereits 24 Jahre hindurch gelebt habe. Und ich glaube, endlich das Recht zu haben, mich selbst zu verlassen. Wenn uns ein Haus, das wir bewohnen, nicht mehr gefällt, können wir ausziehen; wenn uns ein Werkzeug nicht mehr nützt, werfen wir es weg. Und ist mein Körper vielleicht nicht ein Haus — Hütte oder Tempel, wie auch immer? Ist meine Seele vielleicht kein Werkzeug - Sichel oder Lyra, wie auch immer?  - Giovanni Papini, Ich will nicht länger der sein, der ich bin. In. G.P., Der Spiegel auf der Flucht (Spiegelfluchten). Stuttgart 1983. Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges

Müdigkeit (14)  Wenn die Müdigkeit nur die Folge von Arbeit wäre verzichtete er aufs Arbeiten. Doch kommt sie auch von der Untätigkeit, und die ist ihm lieb und wert.  - (rp)

Müdigkeit (15)  Es gibt es einen Grad von Armut, jenseits dem selbst die Liebe nicht mehr möglich scheint. Jene Menschen sind in einer furchtbaren Lage, für die der Geschlechtsverkehr allen Luxus eingebüßt hat und nur noch notgedrungen ist; die sich nicht gegenseitig schön finden (da ihr schweres Leben sie verbraucht hat); die alle Hoffnung auf Glück verloren haben; die einfach miteinander schlafen, ohne Mythos sich lieben (denn es liegt in der Natur der Lebewesen, diesen Akt zu vollziehen), und ihre Müdigkeit miteinander teilen, indem sie sich aneinanderlehnen. So sah ich vor Jahren in Paris in einer Straße einen sehr elenden jungen Mann, der mit seiner Gefährtin auf einer Bank saß und im Schlaf den Kopf auf ihre Schulter gelegt hatte, während sie ihn mit einem Arm mütterlich umfing. Dinge, die allen zu denken geben müßten.  - Michel Leiris, Die Spielregel I. Streichungen. München 1982 (zuerst 1948)

Müdigkeit (16)  Wenn der Mensch eilig läuft oder einen anstrengenden Marsch macht, so werden die Sehnen unter den Knien und die Äderchen in den Knien zu sehr erweitert. Sie berühren dann die zahlreichen Adern in den Waden, mit denen sie wie in einem Netze zusammenhängen, und kehren mit der  Müdigkeit zu den Adern der Leber zurück, berühren nun auch die Gehirnadern und lassen so den ganzen Körper erschlaffen. Es ist, wie wenn der Mensch den rechten Tugendweg maßlos zu gehen versucht und also Unzuträgliches tut... Er enthält sich dann maßlos erlaubter Dinge und zieht sich Ekel auch an anderen Tugenden zu ... Die Adern der Nieren berühren mehr die linke als die rechte Wade, weil die rechte von der Wärme der Leber Kraft erhält.    - (bin)

Müdigkeit (17)  

Müdigkeit (18)  

Walking around

Es kommt vor, daß ich müde bin, Mensch zu sein.
Es kommt vor, daß ich in die Schneiderstuben, in die Kinos gehe,
schlapp und undurchdringlich wie ein Schwan aus Filz,
der in einem Gewässer aus Ursprung und Asche schwimmt.

Der Geruch der Frisiersalons läßt mich laut aufweinen.
Ich begehre einzig eine Ruhe wie Stein oder Wolle,
ich mag keine Verordnungen mehr noch Gärten sehen,
keine Waren, weder Brillen noch Fahrstühle.

Es kommt vor, daß ich meiner Füße und Nägel überdrüssig bin,
und meines Haares und meines Schattens.
Es kommt vor, daß ich müde bin, Mensch zu sein.

Und dennoch wäre es herrlich,
einen Notar mit einer ausgerauften Lilie zu erschrecken
oder eine Nonne mit einer Ohrfeige umzubringen.
Es wäre schön, mit grünem Messer durch die Straßen zu laufen
und Schreie auszustoßen, bis man vor Kälte tot umfällt.

Ich mag nicht mehr Wurzel sein in der Finsternis,
schwankend, ausgestreckt, zitternd vor Schlaf,
abwärts immer ins nasse Eingeweid der Erde,
saugend und sinnend, essend Tag um Tag.

Ich mag so viel Unheil nicht für mich.
Ich mag nicht weiter Wurzel sein und Grab,
verlassener Schacht, Kellergewölbe voll von Toten,
kältestarr und vor Leid zugrunde gehend.

Darum flammt, so er mich kommen sieht
mit meinem Kerkergesicht, der Montag wie Erdöl auf,
und in seinem Ablauf heult er wie ein wundes Rad
und macht Schritte heißen Bluts der Nacht entgegen.

Und er treibt in manche Winkel mich, in manche feuchte Hausung,
in Spitäler, wo die Knochen aus den Fenstern herauskommen,
in manche Schusterstube, die nach Essig riecht,
in Straßen, schrecklich wie Schlünde der Erde.

Schwefelfarbene Vögel gibt es mit gräßlichem Gedärm,
die an den Türen der Häuser hängen, die ich hasse,
Gebisse gibt es, die man in einer Kaffeekanne vergaß,
Spiegel,
die hätten weinen sollen vor Scham und Entsetzen,
Schirme gibt es allerorts und Gifte und Nabel.

Und ich, ich schlendere gelassen umher, mit Augen, Schuhen,
Wut, Vergessen,
ich geh vorüber, durchschreite Amtsstube und orthopädische Läden
und Höfe, wo an einem Draht Wäsche hängt:
Beinkleider, Handtücher und Hemden, die langsame
schmutzige Tränen weinen.

- Pablo Neruda, nach (mus)

Müdigkeit (19)  Die Müdigkeit wurde so bedrängend, daß ich nicht mehr aus noch ein wußte. Oder dann doch: Ich schloß mich ein in eine der Kabinen der Bahnhofstoilette, welche sich, wenn auch abseits, irgendwo im Inneren der Anlage befand.

Die Tür war zu öffnen mit einer Schilling-Münze, und als ich sie absperrte, spürte ich erst einmal eine gewisse Geborgenheit oder Aufgehobenheit. Ich habe mich umstands-los auf den gekachelten Boden gelegt, den Seesack als Nackenpolster. Die Kabine war freilich so klein, daß an ein Ausstrecken nicht zu denken war, und deshalb habe ich mich, den Kopf an der Hinterwand, in einer Art Halbkreis um die Klosettmuschel geringelt. Das Licht in der eher weidäufigen Bedürfnisanstalt, ziemlich hell, weiß, blieb die ganze Nacht an und kam nur leicht gedämpft in die nach oben und, für etwa eine Kinderfußbreit, auch nach unten offene Kabine. Zugedeckt mit ein paar Anziehsachen aus dem Seesack, versuchte ich zu lesen, Thomas Manns »Buddenbrooks«, die mich am Vortag in Radenthein, nach langem eher Befremdetwerden, unversehens mit sich genommen und beschwingt hatten, als es gegen Ende ans Sterben ging und der Todgeweihte darüber geradezu luftig ins Sinnen geriet.  - Peter Handke, Versuch über den Stillen Ort. Frankfurt am Main 2012

Müdigkeit (20)  Manchmal, wenn ich hier sitze, faßt mich die Müdigkeit. Gerade noch habe ich unter mir" an den lockeren Armen die runden Leisten des Sessels gespürt; das Holz war in die gespannte Hautfalte zwischen Zeigefinger und Daumen geschnitten; ich habe gerade noch den Schrank knacken hören; der Ausguß hat nach verbrühten Ameisen gerochen; das Zimmer wird als verhältnismäßig kühl beschrieben; draußen ist eine Schar von Vögeln scharf vom Zaun her im Tiefflug über das Dach geschwirrt. Hierauf aber, ohne mein Zutun, strecken sich langsam über den Boden die Beine aus, während der Absatz kratzend in die Bretter die Geste der Müdigkeit zeichnet; der Kopf fällt schwer auf die Lehne zurück.

Mit einem Mal wird der Körper mit Wachs verschlossen. Unbekannt schlägt vom Dach her das Gelächter der Vogel ein, das Knacken des Schranks ist ein Knirschen und Lispeln geworden, die verstummten Drähte der Überlandleitung, auf die zuvor das Ohr noch gehorcht hat, sind jetzt so stumm, daß ihre Stille mich nicht mehr berührt. Die Geräusche und Gerüche versammeln sich auf der Haut, ohne indes hindurchzudringen. Der Körper ist von dem Wachs verstopft und reglos vor Müdigkeit. Während ich sitze, steigen in mir Überlegungen auf; weil ich nicht weiß, wo ich bin, weil ich vergessen habe, daß ich in dem Zimmer bin und den Ruf zum Essen erwarte, weil ich mich selber vergessen habe, dadurch, daß von draußen nichts mehr in mich kommt und mir derart bestimmt, wo mein Körper sich aufhält, und weil kein Geräusch mehr mich festhält, treiben mich die Gedanken im Niemandsland umher; es sind nicht Gedanken, die ich mir mache, sondern Gedanken, die mir entstehen.

Ich sehe Stätten und Ansichten durch mich gehen, die ich noch niemals gesehen habe; die schwarzen Schalen einer Banane auf einem staubigen Feldweg befremden mich; ich wundere mich über die vergilbten Fasern an der Innenseite der Schalen und über den auf derselben Stelle flatternden Schatten eines weißbauchigen Vogels.  - Peter Handke, Die Hornissen. Frankfurt am Main 1977 

Entkräftung

 

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Unterbegriffe
VB
Synonyme
Schlafbedürfnis