Ramblas  Die dickste Frau der Welt, mit Minirock und durchlöcherten Strümpfen bekleidet, mit Malerpinsel und Lackfarbe der Firma Titanlux geschminkt und überzeugt davon, daß dies die entscheidende Nacht ihres Lebens ist. Und eine Gruppe blonder, hellhäutiger, entzückender, reizender Touristinnen, die ihrer ersten Vergewaltigung entgegeneilen. Die Kinder, süße, schmutzige, freche, verdorbene, verführerische Kinder, kleine Diebe, die alles wissen und sich schubsend durch die Menschenmenge drängeln, die sie sich in möglichst sicherer Entfernung vom Halse hält.

Die unergründlichen Zigeuner, die sich mit drohenden Blicken umschauen, während sie um sich herum nach Bedrohungen Ausschau halten. Die gewaltigen Transvestiten, Weiblichkeit en gros, in Qualität und Quantität. Die Huren an den Hauseingängen der Plaza del Teatro, Figuren, wie aus dem nahegelegenen Wachsfigurenkabinett entsprungen, die mit ihrer Umgebung verschmelzen, so als gehörten sie zum städtischen Mobiliar. Die durchsichtige Haut, die das klapprige Skelett durchscheinen läßt, die tiefen, dunklen Augenhöhlen einer Fünfzehnjährigen. Der junge, hochgewachsene, optimistische Vater, der seinen Sohn auf dem Rücken trägt, der mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen die Welt betrachtet. Zwei Polizisten, ein Mann und eine Frau, die Kleinkindern in Marineanzügen ähneln, flirten verstohlen; fehlt nur noch, daß sie Händchen halten, dann würden sie polternd vom Sockel ihrer Macht herunterfallen. Und die stolzen Araber, mit Turban und Kaftan, die Barcelona im Namen des Islam erobern und dabei von ihren verschleierten Frauen unterstützt werden. Der Mann mit dem vollen, weißen Haar und dem weißen Bart, der unauffällig in einer Ecke sitzt und Harfe spielt. Der Blechmann aus dem 'Zauberer von Oz', ein Künstler, silbern geschminkt, so als sei er in Aluminiumfolie eingewickelt, und mit einem Trichter auf dem Kopf, steht regungslos wie eine Skulptur auf seinem Hocker und bewegt sich nur, wenn jemand ihm ein Geldstück zuwirft. Und weiter hinten, sein Imitator, mit einem künstlichen, weißen Bart und dunkler Brille, mit der typischen katalanischen Tracht bekleidet - Zipfelmütze, Weste, Gürtelschärpe -, dem es an Disziplin mangelt, was ihm erlaubt, sich einfach zu bewegen, wenn er müde ist.

Der schmutzigste Mann der Welt, dick angezogen, mit finsterem Gesicht, fettigem Haar, schmierigem Bart und abwesendem Gesichtsausdruck schleppt einen Schatz aus Müll und alten Kartons mit sich herum. Die Ehepaare in Smoking und Abendkleid, die hastig zur Oper eilen, ängstlich, weil sie zu spät kommen könnten und sich das Lumpengesindel auf sie stürzen könnte. Die Schwarzen, bekleidet mit schwarzen Lederjacken, mit Armreifen und stechenden Augen, die glänzen wie Nadeln. Eine Gruppe südamerikanischer Indios, die das Publikum mit exotischen Instrumenten und Tänzen betäuben; sie drängen sich mit fanatischer Überzeugungskraft auf. Die verrückte Alte mit den Geschwüren an den Füßen, die sich mit letzter Kraft an einen Ort schleppt, wo sie in Ruhe sterben kann. Der Zuhälter mit pomadeglänzendem Haar, glockenförmiger Hose und zweifarbigen Schuhen, eine verrückte Erscheinung, die einem Tango entsprungen sein könnte. Ein Mann, der so eingebildet ist, daß er Selbstgespräche führt, ist kurz davor, sich selbst vom Unmöglichen zu überzeugen. Die Frau in dem Nylonmorgenmantel, unter dem der rote Pyjama zum Vorschein kommt. Die untergehakten Ehepaare, die würdevoll einherschreiten und ihr Recht auf diese Straße zurückfordern, obwohl sie ganz und gar nicht in diese Zirkusarena passen, da sie dem Publikum nichts zu bieten haben. Die unzähligen Japaner mit den schläfrigen Augen und dem obligatorischen Lächeln, die, bewaffnet mit ihren Kameras, die Stadt in Besitz nehmen. Die stumpfsinnigen Hare-Krishna-Anhänger, die sich angestrengt bemühen, die anderen mit ihrem fröhlichen Stumpfsinn anzustecken. Die Mädchen, die von Zuhause ausgerissen sind, um das langweiligste aller Abenteuer zu erleben, das ohnehin wie immer damit enden wird, daß sie wieder zusammen mit Mama und Papa vor dem Fernseher hocken. Und die Studenten von jenseits der Diagonal, die entschlossen sind, sich für eine kurze Weile zu amüsieren und zu besaufen, einfach so. - Andreu Martín, Don Jesús in der Hölle. Moos - Baden-Baden 1991

Ramblas (2)  Ich betrat den »Barrio chino«. Ich war nicht auf der Suche nach Mädchen, aber der »Barrio chino« bot die einzige Möglichkeit, nachts einmal drei Stunden totzuschlagen. Um diese Zeit konnte ich Andalusier singen hören, cante rondo-Sänger. Ich war außer mir, überreizt, die Überreiztheit des cante rondo war das einzige, was sich mit meinem Fieber vertragen würde. Ich trat in eine elende Kneipe ein: gerade als ich hineinkam, stellte sich eine fast unförmige Frau, eine Blonde mit einem Bulldoggengesicht auf einem kleinen Podium zur Schau. Sie war fast nackt: ein buntes Tuch um die Lenden bedeckte nicht einmal die tiefschwarzen Schamhaare. Sie sang und vollführte einen Bauchtanz. Ich hatte mich kaum gesetzt, als ein anderes, nicht minder häßliches Mädchen an meinen Tisch kam. Ich mußte etwas mit ihm trinken. Es waten viele Leute da, ungefähr dieselbe Sorte wie in der Criolla, nur verkommener. Ich tat, als spräche ich kein Spanisch. Ein einziges Mädchen war hübsch und jung. Es betrachtete mich. Seine Neugier glich einer jähen Leidenschaft. Es war von Ungeheuern umgeben, deren Matronenköpfe und -brüste in schmutzige Schals gehüllt waren. Ein junger Bursche, fast noch ein Kind, in einem Matrosenanzug und mit ondulierten Haaren und geschminkten Wangen näherte sich dem Mädchen, das mich anblickte. Er sah wild aus: er machte eine obszöne Gebärde, lachte schallend und setzte sich dann etwas weiter hinten hin. Eine gebeugte, ganz alte Frau in einem bäurischen Kopftuch kam mit einem Korb herein. Ein Sänger betrat mit einem Gitarrespieler das Podium; nach einigen Takten auf der Gitarre begann er zu singen . . . ganz verhalten. In diesem Augenblick hatte ich befürchtet, daß er wie andere sänge, mich mit seinen Schreien quälen würde. Der Saal war groß: in einer Ecke saßen die Mädchen in einer Reihe und warteten darauf, mit den Kunden tanzen zu können: gleich nach der Gesangseinlage würden sie mit den Kunden tanzen. Diese Mädchen waren leidlich jung, aber häßlich, in schäbige Kleider gehüllt. Sie waren mager und schlecht ernährt: die einen dämmerten vor sich hin, andere lächelten albern, wieder andere schlugen mit den Absätzen den Takt gegen das Podium. Sie stießen dabei ein tonloses olé aus. Eines von ihnen in einem blaßblauen halbverschlissenen Kleid und mit flachsgelben Haaren hatte ein mageres und aschfahles Gesicht: offenbar würde es in wenigen Monaten sterben.  - (bar)

Ramblas (3)  Die Straße beherrschen Lieferwagen und alte Nutten in Angorapullovern, die wie Decken über großen Tonkrügen wirken. Mit der einen Hand schwenken sie ein von jahrealtem Schweiß glanzlos gewordenes Täschchen; mit der ändern machen sie die Kunden an oder benutzen einen Fingernagel, um die Lücke zwi­schen Eckzahn und erstem Backenzahn von einem Fleischrest zu säubern. Derselbe Finger nutzt die Wegstrecke, um auf den Lippen das Rot zu verteilen oder das Ohr von Juckreiz, Schuppen und altem Ohrschmalz zu befreien. Die Fahrer der Lieferwagen gehen mit abendlicher Müdigkeit zwischen den Läden und höhlenartigen Bars und ihren Lieferwagen von Sanchez Hermanos oder Fenogar Productos Congelados hin und her, wobei sie den alten Gunstgewerblerinnen die eine oder andere Bemerkung zurufen.

»Aber Großmutter, warum hast du so große Titten?«
»Weil dein Papi immer daran nuckelt.«

Ein Betrunkener testet die kürzeste Entfernung zwischen Fahrbahn und Gehweg. Ein Strom von Kindern quillt aus ir­gendeinem College im Hochparterre, wo Klogestank die Atmosphäre bestimmt und der Horizont in einem Hinterhof beginnt und endet, dem Hoheitsgebiet von Katzen, Ratten und Müll. Auf ein paar Galerien scheint immer dieselbe Wäsche zum Trocknen zu hängen. Geranientöpfe auf brüchigen Baikonen, Bartnelken, Käfige mit mageren, gestreßten Grünpapageien, Butangasflaschen, Schilder von Fußpflegern und Hebammen. Partit Socialist Unificat de Catalunya - Federación Centro, Friseursalon Maite. Fettiger Bratölgestank: panierte Kalamares, fritierte Fischchen, Pommes frites mit scharfer Sauce, im Ofen zubereitete Lammköpfe, Bries, Kutteln, capipota*, Kniekehlen, Achselhöhlen, Furchen zwischen den Brüsten, Kaninchenbeine, wassersüchtige Tränensäcke, Krampfadern. Aber Carvalho kennt die Gegend und die Leute. Er würde sie nie missen wollen, es ist die Umgebung, die er braucht, um sich lebendig zu fühlen, obwohl er nachts lieber aus der besiegten Stadt flieht und zum pinienbestandenen Stadtrand fährt, von dem aus man sie wie eine Fremde betrachten kann.

* Schweinskopf mit Schweinfüßchen

- Manuel Vázquez Montalbán, Die Einsamkeit des Managers. München 1977
 
 

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