ystik Ein
Mann mag ein Spieler, ein Lüstling, ein Ehebrecher, ein Mörder sein, zu allen
Schandtaten bereit, allen Versuchungen offen, und er kann dennoch ein Heiliger
sein. Die Hauptperson in dem Film Hallelujah ist hierfür ein Beispiel.
Genauso mag eine Frau der Inbegriff von Durchtriebenheit und Lüge sein, was
ebensowenig bedeuten würde, daß sie keine Heilige und bisweilen sogar zu einem
bewundernswerten Rausch befähigt ist, in dem ihre maßlose
Überschwenglichkeit für das Gute mit einem rauschhaften Zustand einhergeht,
wo sie zu allem bereit ist, außer zur Mittelmäßigkeit, mit einem Wort: Sie ist
heilig, heilig wie Lilith, Mutter der Strigen und schöner als Eva, Mutter
der Menschen, heilig wie jene, von der Gérard de Nerval sagte:
Die Heilige der Abgründe ist in meinen Augen von noch größerer Heiligkeit
In einer derart seichten Epoche wie der unsrigen, in der es nur so wimmelt von lächerlichen Peinlichkeiten und schwammigen intellektuellen Spekulationen, hat ein Film wie Hallelujah gute Chancen, Mißfallen zu erregen oder aber wegen eines völlig nebensächlichen Aspekts, seines pittoresken Charakters, zu überzeugen.
In so einer verkommenen Zeit, wo Heilige nach dem Maß einer Gesellschaft von Industriellen, Geschäftsleuten und Bankiers geschnitzt werden und die Form »achtbarer« und schäbiger Figürchen im Stil Thérèse de Lisieux annehmen, ist ein solcher Film von Bedeutung, weil er uns daran erinnert, was wirkliche Mystik ist; eine, die nichts mit Religion und dem widerwärtigen Getue weißer christlicher Kirchen zu tun hat, sondern sich in allem wiederfindet: in der Erotik, im Alkohol, im Skandal, in jeder Form von Abenteuer - ebensogut in einem hysterischen Anfall wie in sinnlichem Vergehen und heiliger Ekstase.
Es steht den verzärtelten Intellektuellen frei, diesen Film zu verspotten und ihn zum Anlaß zu nehmen, von »schwarzem Snobismus« zu sprechen. Die mystische Ausstrahlung der schwarzen Rasse verliert dadurch nicht an Wirkung und realer Grundlage. Denn man kann bei ihr einkehren, nicht wie ein Katholik bei der heiligen Jungfrau einkehren will, sondern so, als wollte man einen Inzest begehen. Zudem erteilt sie den künstlerisch verblaßten und ermatteten Weißen - heute nur noch zu technischem Fortschritt fähig - mit der Kraft ihres Gesangs, ihrer Musik und ihres Tanzes, die uns durch ihren Rhythmus, ihre ungehemmte Leidenschaftlichkeit und ihre erotische und rituelle Ausstrahlung gefangennehmen, eine bittere Lehre.
Seit Hallelujah träume ich jedenfalls von einer ähnlichen Heiligen wie jener blutigen Nonne, der man um Mitternacht an manch einer Straßenecke in Schauerromanen begegnet, einer Heiligen mit nachtfarbenem Körper, schmutzverschmierter Haube und blutbeflecktem Kleid; die sich barfuß, abgerissen und halb wahnsinnig in den finstersten Spelunken irgendeines Harlems oder Whitechapels herumtreibt, lauthals lacht, becherweise Whisky trinkt und wundervoll daherfaselt.
Schön wäre es auch, sie würde allen Weißen ins Gesicht speien oder sie zum
rechten Glauben bekehren, indem sie sich in den Hüften wiegt, um dann das Kleid
zu schürzen. - Michel Leiris,
Leidenschaften. Frankfurt am Main 1992 (Fischer-Tb. 10560)
Mystik (2) Wir alle haben ein Gespür
für Aspekte der Welt, mit denen sich das begriffliche Denken nicht befaßt, wir
lieben am Baum das, was die Botaniker über ihn weder sagen können noch wollen:
dieses Mehr ist es, das den Weg zum Einen eröffnet - ein Wort, das nur dann
unklar ist, wenn man versucht, es (begrifflich) zu denken statt es zu leben.
Und gerade diese erlebte Erfahrung ist die »Mystik«: also das in der Welt, dem
unsere Vorliebe gilt, das Aller gewöhnlichste. Unter diesen Umständen sehe ich
nicht ein, warum sich die »mystische« Einstellung, die Öffnung des Bewußtseins
für das, was ist, irn Gefuge des Gedichts nicht mit anderen Aspekten unseres
In-der-Welt-Seins verbinden können soll, beispielsweise dem Verlangen, das seinen
Traum verfolgt. Nur seine extremen Formen sind mit dem Schreiben unvereinbar,
Formen, die jenseits der Dinge unserer Welt auf die Suche gehen, die das Eine
zum Abgrund machen. Aber wird da nicht eher das Nichts als das Eine bedacht?
- Yves Bonnefoy, nach: Der Pfahl VII. München 1993
Mystik (3) Spricht
man in diesem Land von Mystik, von einem Mystiker, dann versteht man darunter
religiöse Schwärmerei, etwas, das mit religiösem Wahn zu tun hat. Für mich ist
Mystik ein sehr natürlicher Seelenzustand, sie ist mehr als Imagination,
ist Intuition, die zwar nicht jeder besitzt, doch
wer sie besitzt, der weiß, daß sie von außerhalb über ihn gekommen ist, wie
ein Geschenk. Für mich beginnt die Mystik auf dem schmalen Brückensteg des Regenbogens,
über den man zum anderen Ufer gelangt, in ein geliebtes Wesen eindringt, ins
Herz einer abendlichen Landschaft. Mystik ist für mich eine höchst natürliche
Methode, die man nicht lernen kann und dennoch nur von jemandem zu lernen vermag,
der es versteht, die Klinken von Türen zu betätigen, die zu sämtlichen Dingen
führen, der es versteht, auch in Stille und Demut, in einer Nullsituation ohne
jedes Zwinkern zu schauen und den feinen, scheuen Quell wahrzunehmen, den dünnen
Strahl, der verbindet. Mystik ist also eine natürliche Art der Erkenntnis, allerdings:
Sie ist nicht jedem gegeben. Sie ist ein Trauma, das schon in der Wiege vorhanden
ist, ja früher schon, in den Genen, was den Säugling m das triviale Geheimnis
einweiht, daß man nicht etwa fliegen, sondern schlicht und einfach hören und
alles Lebendige verstehen kann, denn der Tod, der alles erfaßt, dieser Tod sagt
ihm nichts, und deshalb ist ein Mystiker ein Mensch, der den Wert des Todes
aufgehoben hat, wogegen ein Held mit dem Tod erst sein Scheitern erfüllt, das
sein Ruhm ist ... - Bohumil Hrabal, Die Katze Autitschko.
In: B. H., Leben ohne Smoking. Frankfurt
am Main 1993 (BS 1124, zuerst 1986)
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