nfall  Die ungekämmten Haare ließen die Kopfhaut durchschimmern. Ihr schwarzes Kleid war schmutzig.

Ein auffallender Flaum überschattete ihre Oberlippe.

Dennoch war sie schön, von einer gewöhnlichen, animalischen Schönheit. Die Augen auf den Kommissar gerichtet, die Mundwinkel verächtlich herabgezogen, ein wenig in sich zusammengekrochen oder vielmehr, weil sie Gefahr witterte, geduckt, brummte sie:

»Wenn Sie das alles wissen, warum fragen Sie mich dann?«

Ihr Blick hellte sich auf, und mit einem beleidigenden Lachen fügte sie hinzu;

»Sie fürchten wohl, sie bloßzustellen! .. . Das ist es, nicht wahr? .. . Ha, ha! ... Ich, ich zähle nicht .. . Eine Ausländerin . .. Ein Mädchen, das ein armseliges Leben im Getto lebt... Aber sie! Oh! . ..«

Von ihrem Temperament mitgerissen, sprach sie weiter. Maigret spürte, daß seine Aufmerksamkeit sie einschüchtern könnte, tat gleichgültig und schaute woanders hin.

»Oh, nichts! .. . Hören Sie? .. .« schrie sie dann. »Hauen Sie ab! Lassen Sie mich in Ruhe! Nichts, sage ich Ihnen ... Nichts!«

Und sie warf sich mit einer Bewegung auf die Erde, die unmöglich vorauszusehen war, selbst wenn man mit solchen Frauen Erfahrung hatte.

Ein hysterischer Anfall! Sie war völlig entstellt. Ihre Glieder verkrampften sich, und heftige Schauer schüttelten ihren Körper.

War sie einen Augenblick zuvor noch schön, wurde sie jetzt häßlich, riß sich die Haare büschelweise aus, ohne an Schmerzen zu denken.

Maigret rührte sich nicht. Es war der hundertste Anfall dieser Art, den er erlebte. Er nahm den Wasserkrug vom Boden auf. Er war leer.

Er rief einen Wärter.

»Füllen Sie ihn schnell.. .«

Wenig später goß er das kalte Wasser der keuchenden Jüdin ins Gesicht, die gierig die Lippen öffnete, ihn ansah, ohne ihn zu erkennen, und schließlich in tiefe Apathie verfiel.

Hin und wieder glitt ein Schauer über ihre Haut. - Georges Simenon, Maigret und Pietr der Lette. Zürich 1978 (detebe 155/2, zuerst 1929)

Anfall (2)  Wahnsinn und Ausschweifung sind zwei Dinge, die ich so gründlich erforscht und in denen ich mich aus eigenem Willen so viel bewegt habe, daß ich niemals (hoffe ich) ein Verrückter oder ein de Sade sein werde. Aber es hat mich auch etwas gekostet, sapperlot! Mein Nervenleiden war der Schaum dieser kleinen intellektuellen Possen. Jeder Anfall war wie eine Art Bluterguß des Nervensystems. Er war ein Samenverlust der Bildvorstellungsfähigkeit des Gehirns, denn hunderttausend Bilder schossen wie ein Feuerwerk gleichzeitig auf. Es war ein entsetzliches Losreißen der Seele vom Körper (ich bin überzeugt, mehrere Male gestorben zu sein). Doch das, was die Persönlichkeit ausmacht, das Vernunftwesen, das ging bis zum Ende; sonst wäre der Schmerz umsonst gewesen, denn ich wäre rein passiv geblieben, und ich war doch stets bei Bewußtsein, selbst als ich nicht mehr sprechen konnte. Die Seele war dann völlig in sich zurückgezogen und wie ein Igel, der sich mit seinen eigenen Stacheln sticht.  - (flb)

Anfall (3)  Schwitzend und keuchend mühte er sich nach dem Mundvoll Luft ab. Von Zeit zu Zeit gelang es ihm, einen körnigen und schwärzlichen Schleim auszuspucken, keineswegs wie der, wenn man erkältet ist. Blaurot im Gesicht, von Migräne geplagt, das klopfende Herz wie ein Schlauch aufgebläht, wartete er darauf, daß dieser Anfall, zu seinem Höhepunkt gelangt, aufhörte. Er hatte nur noch einen so ärmlichen Atem in sich, daß er hätte glauben können, er werde sterben. Doch er wußte, daß er wiedergeboren werden würde.

Niemand konnte die Existenz des Leidens rechtfertigen. Dieser Mensch, der in den Händen des Henkers brüllt, sein Schmerz wird dauern und fortbestehen und wird ihn, sich von ihm ablösend, überleben bis ans Ende der Zeiten und darüber hinaus, wird diese Masse an Grauenvollem, die sich seit dem Beginn der Welt — im Angesicht Gottes — gebildet hat, vergrößern. Das Leiden war so stark, seine Macht so sagenhaft, daß es Gott breite Fetzen des Seins entriß. Ein Blutfleck, in den Bereich der Existenz gefallen, wurde langsam, allmählich, sicher, immer größer, wie Öl. Und dieses Blut war nicht das Blut Abels, sondern das des ersten Hingerichteten. So wie die Christen immer die fünf Wunden Christi bluten sehen, so erblickte Daniel einen sich aus den Tiefen der Urzeiten heranwälzenden scharlachroten Strom, der Eiter und gehacktes Fleisch mit sich führte. Und der nicht von Gott kam. Wer also hatte auf dem Plan der Schöpfung mit dieser schmutzig-widerlichen Tinte herumgeschmiert? Wer hatte ihn so durchgestrichen?

Und jetzt war der Anfall vorbei. Allmählich streckte er sich aus mit einem Atem, der nun frei wehen konnte. Von Zeit zu Zeit spuckte er noch ein wenig; und der Schweiß wurde eiskalt auf ihm.  - (lim)

Anfall (4)  Die Eltern trafen sich manchmal zu Hause, manchmal irgendwo in der Nachbarschaft, mit einigen anderen Leuten zu spiritistischen Sitzungen. Eine treibende Kraft bei dieser Forn religiöser Betätigung war der alte Demarest, ein frommer Gläubiger. Die wichtigste Lehre dieser ernster Menschen lautete, daß die Toten als Geister um uns lebten und zu gewissen Zeiten durch Gebet oder anderes herbeigerufen werden könnten. Das hatte eigenartigt Folgen.

Als wir in Bagellon House einmal beim Abendessen saßen, sagte Mutter, die bei ihren Verwandten als Medium bekannt war, plötzlich zu meinem Vater: »Das sind also die Jungen. Wie groß sie geworden sind. Kommt her, meine Lieben«, wobei sie Ed und mich abwechselnd ansah und die Hände nach uns ausstreckte, »und laßt euch betrachten!« Dies wohlgemerkt zu ihren eigenen Kindern, die sie den ganzen Tag umsorgt hatte.

Pop, der solche Auftritte gewöhnt war, forderte uns beide, die wir ziemlich verdattert waren, freundlich auf, wir sollten tun, wie uns geheißen - also gingen wir zu unserer Mutter und stellten uns neben sie. Sie legte jedem von uns eine Hand auf den Kopf und tätschelte uns mit beifälligem Lächeln und liebevoller Zärtlichkeit. »Wie gut sie aussehen. Ich bin ja so glücklich.«

Worauf Pop zu ihr sagte, zu seiner eigenen Frau: »Mit wem haben wir das Vergnügen zu sprechen?«

»Kennst du mich nicht?« gab Mutter zurück. »Na, ich bin's doch, Lou Paine.« Damit war der Anfall vorbei, und Mutter war wieder sie selbst. Alles ging weiter wie zuvor.

Später hat mir Pop oft erzählt, er habe damals umgehend ein Telegramm an Tesse Paine geschickt - einen alten Freund und Nachbarn von uns aus der Passaic Avenue, der jetzt in Los Angeles lebte - und nachgefragt, ob seiner Frau Lou irgend etwas zugestoßen sei. Zwei Wochen später bekam er einen Brief von Jesse, in dem dieser sich entschuldigte, daß er das Telegramm nicht früher habe beantworten können; Lou sei nämlich krank gewesen. Als er das Telegramm erhalten habe, habe sie im Krankenhaus gelegen und sei dort gerade an diesem Tag nach einer sehr risikoreichen Bauchoperation praktisch schon für tot erklärt worden. Inzwischen aber habe sie sich so weit erholt, daß er sein normales Leben wieder aufnehmen und sagen könne, sie sei über den Berg - und so weiter.  - (wcwa)

 

Plötzlichkeit Krampf Krampf

 

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