ultiviertheit
Schreiben kann ich nur teilweise, mit großer Mühe, ich tippe nur mit der rechten
Hand, die linke mußte ich an die Stuhllehne anbinden, weil sie dagegen war.
Sie riß das Papier aus der Maschine, ließ sich durch keine Argumente beschwichtigen,
und beim Festbinden schlug sie mir ein Auge blau. Das ist eine Folge der Verdoppelung.
Jeder hat zwei Gehirnhälften im Kopf, die durch den Balken (lateinisch: corpus
callosum) miteinander verbunden sind. Zweihundert Millionen weißer Nervenfasern
verbinden das Gehirn, damit es seine Gedanken zusammennehmen kann, aber nicht
mehr bei mir. Ein Schnitt — schwupp! — und alles war
vorbei. Und es gab nicht einmal einen Schnitt, sondern bloß das Versuchsgelände,
auf dem die Mondroboter ihre neuen Waffen ausprobierten. Dabei bin ich ihnen
zufällig über den Weg gelaufen. Ich hatte meine Aufgabe schon ausgeführt, diese
kalten Geschöpfe ausgetrickst und war bereits auf dem Rückweg zum LEM, als ich
das Bedürfnis verspürte, Pipi zu machen. Auf dem
Mond gibt es keine Klos. Im
Vakuum wären sie übrigens zu nichts nutze. Man trägt bei sich im Raumanzug einen
Behälter, wie ihn Aldrin und Armstrong hatten. Pinkeln kann man also an jedem
Ort und zu jeder Zeit, aber ich genierte mich. Ich bin, genauer gesagt, ich
war zu kultiviert — in der prallen Sonne, inmitten des Mare Serenitatis schickte
sich das einfach nicht. Etwas weiter ragte ein großer einsamer Felsen empor,
ich ging also dorthin, in den Schatten des Felsens. Woher hätte ich wissen sollen,
daß dort schon das Ultraschallfeld wirksam war. Als ich mich erleichterte,
verspürte ich plötzlich im Kopf ein kurzes Knacksen. Nicht etwa im Nacken,
was ja vorkommt, sondern etwas höher. In der Mitte des Schädels. Das war eben
die ferngelenkte integrale Kallotomie. Es schmerzte gar nicht, nur war mir etwas
mulmig zumute, aber auch das ging schnell vorbei, und ich begab mich zum LEM.
Es stimmt, ich hatte das Gefühl, daß alles irgendwie verändert war, ich selbst
auch.
-
Stanislaw Lem, Die Verdopplung. In: Phantastische Träume. Hg. Franz
Rottensteiner. Frankfurt am Main 1983 (Phantastische Bibliothek 100)
Kultiviertheit
(2) Der Charakter von Rogue Rogue
ist etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Er ist hochgewachsen und
ziemlich mager. Sein Gesicht ist ansehnlich, doch seine wilden
grauen Augen und seine mächtige Stirn haben etwas überaus Schreckliches.
Er weiß sich recht höflich und vornehm zu benehmen, doch in seinem
Wesen ist er hinterlistig, blutrünstig und grausam. Sein Gang
(auf den er sich außerordentlich viel einbildet) ist stattlich
und soldatisch, und er redet sich ein, er sei dem des Herzogs
von Wellington sehr ähnlich. Er tanzt gut, spielt vortrefflich
Karten und kennt sich in allen Tricks und Schlichen des Falschspiels
bestens aus. Es ist die Krönung all dessen, daß er auf diese
»Kultiviertheit« (wie er es nennt) über die Maßen stolz
ist. C. T. 17. Dezember 1829 -
(bronte)
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