rühling   Eines Morgens, als ich erwachte, sah ich durch mein Fenster über die Nachbarhäuser hinweg das große blaue Himmelstuch von Sonne ganz entflammt. Im Käfig an den Fenstern zwitscherten die Zeisige; die Hausmädchen sangen in allen Etagen; fröhlicher Lärm klang von der Straße herauf; und festlich gestimmt zog ich aus, irgendwohin.

Die Leute, denen man begegnete, lächelten; ein Hauch von Glück wehte überall im warmen Licht des wiedergekehrten Frühlings. Es war, als triebe ein Hauch von Liebe durch die Stadt; und die jungen Frauen, die in Morgentoiletten vorübergingen, heimliche Liebe in den Augen, gelöstere Grazie im Gang, erfüllten mein Herz mit wirren Empfindungen.

Ohne zu wissen wie, ohne zu wissen warum, gelangte ich zum Seineufer. Dampfschiffe fuhren nach Suresnes, und mich kam eine unbändige Lust an, durch die Wälder zu streifen.

Das Deck der »Mouche« war voller Passagiere, denn die erste Sonne lockt jeden unwillkürlich aus dem Haus, und alles ist in Bewegung, geht, kommt, plaudert mit dem Nachbarn.

Ich hatte eine Nachbarin; eine kleine Arbeiterin sicherlich, von ganz pariserischer Anmut, ein reizender Blondkopf mit gelocktem Schläfenhaar; Haare wie gekräuseltes Licht fielen ihr übers Ohr, liefen bis in den Nacken, tanzten im Wind, gingen darunter in so feinen, so leichten, so blonden Flaum über, daß man ihn kaum sah, aber die unwiderstehliche Lust empfand, eine Flut Küsse dorthin zu setzen.

Unter meinem eindringlichen Blick wandte sie den Kopf nach mir, dann schlug sie die Augen nieder, während ein Fältchen wie ein aufkeimendes Lächeln ihre Mundwinkel ein wenig vertiefte und auch dort den feinen seidigen Flaum schimmern ließ, den die Sonne zart vergoldete.

Der stille Fluß wurde breiter. Warmer Frieden schwebte in der Atmosphäre, und murmelndes Leben schien den Erdenraum zu erfüllen. Meine Nachbarin hob die Augen, und diesmal, da ich sie immer noch ansah, lächelte sie eindeutig. Sie war reizend so, und mir leuchtete aus ihrem flüchtigen Blick tausenderlei entgegen.  - (nov)

Frühling (2)  Jedem seine unheilbringende Jahreszeit (»Ich hasse den Sommer, der mich vernichtet«, schreibt Rimbaud irgendwo). Für mich ist es der Frühling, der mich zermürbt und mich vom Scheitel bis zur Sohle durcheinanderbringt: der säuerliche, herbe, beißende, launenhafte, von Hagel und Gewittern durchgepeitschte Frühling Frankreichs. Weder der wilde Einbruch des Lebens quer durch Wasser und Luft wie beim kanadischen Frühling noch die blühende Wärme der Hügel Umbriens oder Galiläas, sondern nur eine von schneidenden Körnern durchfegte Verschnaufpause zwischen zwei Frösten; der Frühlingskult ist in Frankreich ein geliehenes Stereotyp, eine reine Verpflanzung antiker und biblischer Poesie in eine fremde Umgebung. Davon nehme ich nur die wenigen Junitage knapp vor der Heuernte aus, an denen die Erde ganz von einem zarten Flaum überzogen ist. und auch einige bedeckte Spätnachmittage im Mai, wenn bei Einbruch der Nacht der Regen aufhört und mich eine übernatürlich laue Luft, die sich unter dem trüben Himmel ausbreitet, an einen Satz Aragons in Les Paysans de Paris denken läßt: »So weit war ich mit meinen Gedanken gekommen, als der Frühling, ohne daß irgend etwas sein Näherkommen verraten hätte, plötzlich die Welt betrat.«   - (grac)

Frühling (3) Mein alter Freund, der Frühling, hatte mich überrascht in meiner Finsternis. Sonst hätt ich ihn noch von ferne gefühlt, wenn die erstarrten Zweige sich regten, und ein lindes Wehen meine Wange berührte. Sonst hätt ich für jedes Weh Linderung von ihm gehofft. Aber das Hoffen und Ahnden war allmählich aus meiner Seele verschwunden.

Itzt war er da, in aller Glorie der Jugend.

Mir war, als sollt ich doch auch wieder fröhlich werden. Ich öffnete meine Fenster, und kleidete mich, wie zu einem Feste. Er sollte auch mich besuchen, der himmlische Fremdling.

Ich sah, wie alles hinausströmte ins Freie, aufs freundliche Meer von Smyrna, und sein Gestade. Sonderbare Erwartungen regten sich in mir. Ich ging auch hinaus.

Da zeigte sich recht die Allmacht der Natur. Fast jedes Gesicht war herzlicher.; überall wurde offner gescherzt, und wo man sich sonst recht feierlich begrüßt hatte, bot man sich itzt die Hände. Alles verjüngte und begeisterte der herrliche süße Frühling.

Der Hafen wimmelte von jauchzenden Schiffen, wo Blumenkränze wehten, und Chierwein blinkte, die Myrtenlauben tönten von fröhlichen Melodien, und Tanz und Spiel durchrauschte die Ulmen und Platanen.  - Friedrich Hölderlin, Hyperion (ca. 1793)

Frühling (4) »Spät kommt der Frühling in diesem Jahr«, meinte Matwej aufhorchend. »Es ist auch besser so, ich liebe das Frühjahr nicht. Im Frühling ist es immer sehr schmutzig, Sergej Nikanorytsch. In den Büchern steht allerdings geschrieben: ›Frühling, die Vögel singen, die Sonne geht unter‹ - aber ist denn das so angenehm? Der Vogel ist ein Vogel und weiter nichts. Ich liebe eine angenehme Gesellschaft und gute Unterhaltung, ich liebe über Lerigion zu sprechen oder im Chor etwas Hübsches zu singen, diese Nachtigallen aber und Blümchen - Gott mit ihnen!«  - Anton Tschechow, Der Mord. Nach (tsch)

Frühling (5)  Heute Frühjahr, schon ganz richtig. Aber im Lichthof des Bürohauses stinkt es, das ganze Jahr stinkt es nur, nach Rauch, Keller, Erdäpfeln, Lumpen, jetzt auch nach etwas wie verschüttetem Wein. Sie lassen wahrscheinlich Fässer ausstinken. Mit verdrossener Stimme ruft jemand mehrmals im Tag nach „Frau Gagerer!". Es zersprengt mich, wenn ich in die Frühlingsluft, in all das Beginnende, fahre am Morgen, aber - ins Büro, wo fast den ganzen Tag Licht brennen muß und wo der Lichthof so jahreszeitlos stinkt und die Arbeit so öd ist.  - (met)

Frühling (6)  Nachts, wenn in den Häusern die Lichter angezündet wurden und Cosimo im Gezweig mit den gelben Augen der Käuze allein blieb, träumte er zuweilen von Liebe. Wenn sich Liebespaare hinter Hecken oder zwischen den Reihen der Weinberge ein Stelldichein gaben, erfüllte ihn Bewunderung und Neid; er folgte ihnen mit den Augen, bis sie sich im Dunkel verloren; legten sie sich aber am Fuße seines Baumes nieder, so entfloh er voller Scham.

Um das natürliche Schamgefühl seiner Augen zu überwinden, verlegte er sich darauf, das Liebesspiel der Tiere zu beobachten. Im Frühling war die Welt über den Bäumen eine hochzeitliche Welt: Die Eichhörnchen liebten sich mit nahezu menschlichen Bewegungen und Quiecklauten; die Vögel paarten sich, indem sie mit den Flügeln schlugen; auch die Eidechsen enteilten mit ineinander verknoteten Schwänzen, und die Stachelschweine schienen ihre Starrheit abzulegen, damit ihre Umarmungen inniger würden. Der Hund Ottimo Massimo, den der Umstand, daß er der einzige Dachshund Ombrosas war, nicht im geringsten entmutigte, machte im Vertrauen auf die natürlichen Sympathien, die er einflößte, mit der größten Dreistigkeit dicken Schäfer- oder Wolfshündinnen den Hof. Zuweilen kehrte er, von Bissen übel zugerichtet, nach einer solchen Unternehmung zurück, aber ein einziges glückliches Liebeserlebnis genügte, um ihn für alle Niederlagen zu entschädigen.   - Italo Calvino, Der Baron auf den Bäumen. München 1984 (zuerst 1957)

Frühling (7)  Inzwischen, so stellen wir uns vor, ist alles Fleisch, alles menschliche Fleisch auf Erden für zehnmillionenmilliarden Jahre tot gewesen. Der Vogel hat sich in einen Stein ver­wandelt, in dessen Herzen ein Ei ungelegt verborgen blieb.

Es ist Frühling! Aber - Wunder der Wunder! - ein wunderbares Wunder hat sich nach und nach während der scheinbar verschwendeten Äonen ereignet. Ordentlich der Reihe nach in unsäglichen Zeiten HAT DIE EVOLUTION SICH VON ANFANG AN WIEDERHOLT.

Du großer Gott!

Jeder Schritt, der sich einst, beim ersten Heraufkommen des Menschengeschlechts, vollzog - von der Amöbe bis hin zu den höchsten Formen der Intelligenz -, wurde ein zweites Mal getan, jeder Schritt das genaue Doppel seines Vorgängers in den toten vergangenen Zeiten. Das Ergebnis ist ein vollkommenes Plagiat. Alles ist da und ist neu. Nur die Imagination läßt sich nicht täuschen.

An diesem Punkt beginnt der ganze verwickelte und mühselige Prozeß, sich einem neuen Tag zu nähern. Aber zunächst einmal ist alles frisch, vollkommen, neugeschaffen.

Eigentlich ist jetzt zum ersten Mal alles neu. Hirnlos be­staunt man den perfekten Schein, die Begriffe ›Wahrhaftigkeit‹, ›Tatsächlichkeit‹, ›wirklich‹, ›natürlich‹, ›echt‹ werden endlos diskutiert, wobei jedes Wort der Diskussion aus genau derselben Diskussion hervorgeht, die vorgestern stattgefunden hat.

Ja, trunken von Verboten, hat die Imagination alles zerstört und nagelneu nach dem Bilde dessen, was es einst war, wiedergeschaffen. Und tatsächlich, jetzt blicken die Menschen einander verwundert an, in der vollen Erkenntnis dessen, was ›Kunst‹ bedeutet. - William Carlos Williams, Frühling und Alles. Nach (kore)

Frühling (8, reimreicher)

Vorzug deß Frülings.

Jm Lentzen da gläntzen die blumigen Auen /
die Auen / die bauen die perlenen Tauen /
die Nympfen in Sümpfen ihr Antlitz beschauen /
es schmutzet der Schnee /
man segelt zur See /
bricht güldenen Klee.
Die Erlen den Schmerlen den Schatten versüssen /
sie streichen / sie leichen in blaulichten Flüssen /
die Angel auß Mangel und Reissen beküssen /
Die Lerche die singt /
das Haberrohr klingt /
die Schäferin springt.
Die Hirten in Hürden begehen den Majen /
man zieret und führet den singenden Reien /
die Reien die schreien um neues Gedeien /
die Herde die schellt /
der Rüde der bellt /
das Eiter das schwellt.

- Johann Klaj, nach: Lyrik des Barock I. Hg. Marian Szyrocki. Reinbek bei Hamburg 1971

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