rwartung

- Richard Oelze 1934/35, nach: Wieland Schmied, Zweihundert Jahre phantastische Malerei. München 1980

Erwartung (2) Es geht darum, die Wege der Begierde nicht, hinter sich, wiederverwuchern zu lassen. Nichts, in der Kunst, in den Wissenschaften, schützt uns weniger davor als jenes Verlangen nach Anwendung, Beute, Ertrag. Schändlich, wer sich gefangen gibt, und sei es im Namen des allgemeinen Nutzens, sei es in Montezumas Gärten aus Edelsteinen! Heute noch setze ich alle meine Erwartungen einzig in meine Ungebundenheit, in diesen Drang, mich treiben zu lassen, um allem zu begegnen, ein Drang, von dem ich überzeugt bin, daß er eine geheimnisvolle Gemeinschaft zwischen mir und den anderen ungebundenen Menschen herstellt, als wären wir berufen, uns plötzlich zu vereinigen. Ich möchte, daß von meinem Leben kein Laut bleibt als nur das Lied eines Spähers, der sich die Erwartung durch Singen verkürzt. Unabhängig von dem, was eintrifft, oder nicht eintrifft, ist es wunderbar, in der Erwartung zu leben. - André Breton, L'Amour fou. Frankfurt am Main 1985 (BS 435, zuerst 1937)

Erwartung (3) Er steigt eine dunkle Treppe hinauf; - und nach vielen Stufen ist er vor einer Tür.

Da flüstert der, der ihn führt (ist es Hilarion? er weiß es nicht), einem anderen ins Ohr: »Der Herr kommt« - und man läßt sie in einen niedrigen kahlen Raum.

Seine Augen fallen auf eine blutrote Schmetterlingspuppe;sie hat einen Menschenkopf, von dem Strahlen ausgehen; um ihn herum steht in griechischen Buchstaben das Wort KNUPHIS! Sie thront auf einem Säulenstumpf, der von einem Sockel getragen wird. An den anderen Wänden blanke Eisenmedaillons mit Tierköpfen darauf: ein Stier, ein Löwe, ein Adler, ein Hund und wieder - ein Esel.

Unter den Bildern flackern Tonlampen. Antonius sieht durch ein Loch in der Mauer weit draußen Mondlicht auf den Wellen flimmern, er kann ihr leises, stetiges Plätschern hören und das dumpfe Geräusch eines Schiffskiels, der gegen die Steine der Mole schlägt.

Männer hocken, das Gesicht im Mantel vergraben, auf der Erde und stoßen ab und zu ein ersticktes Bellen aus. Frauen dösen, die Stirn auf den Armen, mit angezogenen Knien und so tief in ihre Schleier gehüllt, daß man sie für Kleiderbündel an der Wand halten könnte. Neben ihnen stieren halbnackte, von Ungeziefer zerfressene Kinder in die brennenden Lampen; - und nichts geschieht; man wartet auf irgend etwas. - (vers)

Erwartung (4) Seit einiger Zeit (und vielleicht infolge der Monotonie meiner Existenz hier) überkommt mich eine Neugier, die ich bisher nie mit einer solch destillierten Intensität verspurt hatte - eine Neugier, was im nächsten Augenblick geschehen werde. Vor meiner Nase - eine Mauer von Dunkelheit, aus der das Unmittelbarste sogleich wie eine drohende Erscheinung auftaucht. Hinter dieser Ecke .. . was wird da sein? Ein Mensch? Ein Hund? Ist es ein Hund: von welcher Gestalt, von welcher Rasse? Ich sitze am Tisch, und in einer Weile wird die Suppe erscheinen, aber . . . was für eine Suppe? Diese so grundsatzliche Erkenntnis ist bisher noch nicht gebührend von der Kunst bearbeitet worden: der Mensch als Instrument, das Unbekanntes in Bekanntes umwandelt, figuriert nicht unter der Zahl ihrer hervorragendsten Helden. - (gom)

Erwartung (5)

- Goya, Die nackte Maja

Erwartung (6) Die Laputier befinden sich in fortwährender Unruhe, so daß sich ihr Geist kaum eine Minute lang in Behaglichkeit fühlt, und diese Störungen entstehen aus Ursachen, welche auf die übrigen Menschen keinen Einfluß ausüben. Ihre Furcht beruht auf Veränderungen, die sie in betreff der Himmelskörper besorgen; zum Beispiel die Erde müsse zuletzt von der Sonne absorbiert und verschlungen werden, da letztere ihr fortwährend immer näher rücke; die Oberfläche der Sonne werde zuletzt durch ihre Effluvien inkrustiert und könne alsdann die Welt nicht mehr erleuchten; kürzlich sei die Erde kaum dem Untergange durch den Schwanz eines Kometen entgangen, der sie unfehlbar in Asche verwandelt haben würde; der nächste, welcher nach einunddreißig Jahren, wie sie berechnet, erscheinen müsse, werde wahrscheinlich uns sämtlich vernichten. Wenn er nämlich in seinem Perihelion sich der Sonne bis auf einen gewissen Grad nähere (und die Berechnung gebe Ursache zu dieser Besorgnis), so müsse er eine Hitze erhalten, deren Intensität um zehntausend Grade die Hitze des glühenden Eisens übertreffe; nach der Entfernung von der Sonne werde er zehnmalhunderttausendundvierzehn Meilen weit seinen Schweif ausstrecken; wenn nun die Erde in der Entfernung von einmalhunderttausend Meilen von dem Kern oder Hauptbestandteil des Kometen passiere, müsse sie beim Vorübergang entzündet und in Asche verwandelt werden. Die Sonne, welche uns täglich ihre Strahlen sende, müsse sich ohne Zustrom neuer Kräfte zuletzt erschöpfen und somit untergehen; alsdann sei auch der Untergang unseres Planeten die notwendige Folge, sowie auch der Tod der anderen, welche ihr Licht von unserm Fixstern erhalten.

Die Laputier werden ständig so sehr durch die Besorgnis dieser Gefahren und ihrer Folgen geängstigt, daß sie nicht ruhig schlafen und sich auch an den gewöhnlichen Vergnügungen des Lebens nicht erholen können. Begegnen sie ihren Freunden des Morgens früh, so betrifft die erste Frage die Gesundheit der Sonne, wie sie beim Abend- und Morgenrot aussah und ob Hoffnungen vorhanden sind, den Stoß des nahenden Kometen zu vermeiden. So geht es in dem Gespräche mit demselben Vergnügen fort, welches Kinder bei schrecklichen Geschichten von Geistern und Gespenstern empfinden, die sie begierig anhören, und aus Furcht dann nicht sich trauen zu Bett zu gehen. - (gul)

Erwartung (7)

Erwartung (8) Barbara liegt, die Beine hochgezogen, auf einem sommerlichen Bett, in durchsichtiger Sommerluft, unbesonnte Stellen mit Bräunungslotion fleckig nachgefärbt; die Szenerie hat etwas von dem gläsernen Sarg aus dem Märchen. Barbara hat die fleischigen Arme an sich gepreßt, wird sie aber sogleich J. um den Nacken schlingen. Sie hält den Kopf 80° zur Seite gewendet, J. entgegen, der im Sommerpyjama an die Sache rangeht; ich hab ihr richtig den Kopf verdreht, denkt J. Barbara lacht satt und doch hungrig aus den kernigen Wangen hervor, ihre fettgewachsenen und fettgeschminkten Lippen sind geöffnet und guten weißen Zähnen vorgelagert. Die Augenlider triefen von schwarzem glänzendem Fett, indisch, der Blick ist sieghaft wie der einer dicken, noch enthusiastischen Dirne oder auch einer Flitterwöchnerin, die sich reich und potent verheiratet hat, und muß sich, genau wie das Lachen, erst durch das Kernfett der Wangen durchschieben. Barbara ist frisch gewaschen und bergamottiert, nur ihr Klarsichthemdchen, babykurz, babyblau, riecht in Achselnähe nach Erwartung, An den schönen Ohrläppchen hat Barbara unmöglich stechende rotmetallene Gehänge. J. selbst trägt einen whiskyfarbenen Siegelring mit dem verfänglichen Zeichen der Retorte. - (oko)

Erwartung (9) Es fehlen nur noch die großen überzeugenden Menschen, — sonst ist alles zu einer völligen Veränderung vorbereitet, Prinzipien, Mißtrauen, Auflösung aller Verträge, die Gewöhnung, ja das Bedürfnis der Erschütterung, die Unzufriedenheit. - Friedrich Nietzsche, Nachlass ("Die Unschuld des Werdens" II)

Erwartung (9) Ich leb immer in der Erwartung eines Ungeheuers, das da kommen soll, eintreten — einbrechen soll bei mir. Ein Orang-Utan etwa, ein Auerhahn mit glühenden Augen oder am besten ein wütender Stier. Dann aber fällt mir ein, daß der ja gar nicht durch die Tür könnt, und ich lasse meine übergroßen Hoffnungen sinken. - Albert Ehrenstein, Tubutsch, nach A.E.: Gedichte und Prosa. Neuwied u.a. 1961

Erwartung (10) Der sogenannte fledermaussalon auf schloß , in veritas jedoch eine exquisit ausgestattete folterkammer. Oleana, in weißem brautkleid, ist auf das noch ruhende streckbett geschnallt. Sie scheint wie gelähmt, aber dennoch zeigt ihr gesicht kein anzeichen von furcht oder grauen, sondern vielmehr die leise erwartung des bräutigams.. Der graf, um hunderte jahre gealtert, hantiert an retorten, seziermessern und saugrohren. Ein lichtschein von in verschwenderischer pracht flackernden fackeln zuckt in dunklen schatten über das blutrote geweb der zugezogenen gardinen. Irgendwo im schlosse läuft ein tonbandgerät mit cembalomusik: ein altertümlicher, getragener csárdás. Der graf entscheidet sich für ein zartes hakiges instrument.... - H. C. Artmann, Drakula Drakula. Ein transsylvanisches Abenteuer. In: H.C.A., Schauerromane. München 1997 (zuerst 1965)

Erwartung (11) Eines Abends, kurz vor Sonnenuntergang, verengte sich die Umwelt rings um einen, die Berge traten näher und deutlicher hervor, verheißungsvoll tiefblau und grün gefärbt. Etliche Stunden später trat man hinaus und sah, daß die Sterne verschwunden waren, und fühlte, wie die Nachtluft weich und schwer und des Segens voll war.

Wenn dann ein rasch anschwellendes Rauschen über die Köpfe hinging, dann war es der Wind in den hohen Bäumen des Waldes, aber nicht der Regen. Wenn es am Boden hinlief, dann war es der Wind in den Büschen und im langen Gras, aber nicht der Regen. Wenn es nahe über der Erde raschelte und prasselte, dann war es der Wind in den Maisfeldern - der so ganz dem Regen ähnlich klang, daß man sich immer wieder täuschen ließ und doch schon dankbar war, das Ersehnte wenigstens in der Einbildung vorzufühlen -, aber nicht der Regen.

Aber wenn die Erde wie ein Schallbogen mit tiefem brünstigem Dröhnen antwortete und die ganze Welt ringsum in allen Richtungen des Raumes in der Höhe und der Tiefe zu singen anhub - das war der Regen. Das war wie das Heimkehren an die See, nach langem Fernsein, und wie die Umarmung des Geliebten. - (blix2)

Erwartung (12) (Die Erwartungsangst ist nicht ständig gleich heftig; sie hat auch ihre matten Augenblicke; ich warte, und die ganze Umgebung meines Wartens ist in Unwirklichkeit getaucht: in diesem Café schaue ich mir die anderen an, die eintreten, plaudern, scherzen, ruhig lesen: sie warten nicht.)

Die Erwartung ist Verzauberung: ich habe Weisung erhalten, mich nicht zu rühren. Das Warten auf einen Telephonanruf ist, ad infinitum, ohne daß man es sich einzugestehen wagte, mit kleinen Verboten belegt: ich versage es mir, das Zimmer zu verlassen, auf die Toilette zu gehen, selbst zu tele-phonieren (um die Leitung freizuhalten); ich leide (aus demselben Grunde) darunter, daß man mich anrufen könnte; ich gerate außer mich bei dem Gedanken, wie nahe der Zeitpunkt ist, wo ich selbst ausgehen muß und damit Gefahr laufe, den erlösenden Anruf zu verpassen, die Wiederkehr der Mutter. Alle diese Ablenkungen, die mich locken, wären somit für das Warten verlorene Augenblicke, Angst-Verunreinigungen. Denn die Erwartungsangst in ihrer reinen Form will mich in einem Sessel in Reichweite des Telephons finden, untätig. - (barthes)

Erwartung (13)

- N. N.

Erwartung (14)

- Edward Hopper

Erwartung (15)

- Leone Frollo

Erwartung (16)  Es sind gewiß Kräfte da, ungeheure Kräfte, aber wilde, ursprüngliche und ganz und gar unbarmherzige. Man sieht mit banger Erwartung auf sie hin wie in den Braukessel einer Hexenküche: es kann jeden Augenblick zucken und blitzen, schreckliche Erscheinungen anzukündigen. Seit einem Jahrhundert sind wir auf lauter fundamentale Erschütterungen vorbereitet; und wenn neuerdings versucht wird, diesem tiefsten modernen Hange, einzustürzen oder zu explodieren, die konstitutive Kraft des sogenannten nationalen Staates entgegenzustellen, so ist doch für lange Zeiten hinaus auch er nur eine Vermehrung der allgemeinen Unsicherheit und Bedrohlichkeit. Daß die einzelnen sich so gebärden, als ob sie von allen diesen Besorgnissen nichts wüßten, macht uns nicht irre: ihre Unruhe zeigt es, wie gut sie davon wissen; sie denken mit einer Hast und Ausschließlichkeit an sich, wie noch nie Menschen an sich gedacht haben, sie bauen und pflanzen für ihren Tag, und die Jagd nach Glück wird nie größer sein, als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muß: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist. - Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher (1874)



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