- Salman Rushdie, FAZ vom 24. Februar 2006, nach der
Berliner
Zeitung vom 25. Februar 2006
Tunnel (2) Der Zugführer hängte seine rote
Tasche an einen Haken. »Was wünschen Sie?« fragte er, schaute jedoch den jungen
Mann nicht an, sondern begann in einem Heft, das er der Tasche entnommen hatte,
Tabellen auszufüllen. »Wir befinden uns seit Burgdorf in einem Tunnel«, antwortete
der Vierundzwanzigjährige entschlossen, »einen derartigen Tunnel gibt es auf
dieser Strecke nicht, ich fahre sie jede Woche hin und zurück, ich kenne die
Strecke.« Der Zugführer schrieb weiter. »Mein Herr«, sagte er endlich und trat
nah an den jungen Mann heran, so nah, daß sich die beiden Leiber fast berührten,
»mein Herr, ich habe Ihnen wenig zu sagen. Wie wir in diesen Tunnel geraten
sind, weiß ich nicht, ich besitze dafür keine Erklärung. Doch bitte ich Sie
zu bedenken: Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muß also irgendwohin rühren.
Nichts beweist, daß am Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, außer natürlich, daß
er nicht aufhört.« Der Zugführer, die Ormond Brasil immer noch, ohne zu rauchen,
zwischen den Lippen, hatte überaus leise gesprochen, jedoch mit so großer Würde
und so deutlich und bestimmt, daß seine Worte vernehmbar waren, trotz der Wattebüschel
und obgleich im Packwagen das Tosen des Zuges um vieles stärker war als im Speisewagen.
»Dann bitte ich Sie, den Zug an2uhalten«, begehrte der junge Mann ungeduldig,
»ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen. Wenn etwas nicht stimmt mit
diesem Tunnel, dessen Vorhandensein Sie selbst nicht erklären können, haben
Sie den Zug anzuhalten.« »Den Zug anhalten?« antwortete der andere langsam,
gewiß, daran habe er auch schon gedacht, worauf er das Heft schloß und in die
rote Tasche zurücksteckte, die an ihrem Haken hin und her schwankte, dann steckte
er die Ormond sorgfältig in Brand. Ob er die Notbremse ziehen solle, fragte
der junge Mann und wollte nach dem Haken der Bremse über seinem Kopf greifen,
torkelte jedoch im selben Augenblick nach vome, wo er an die Wand prallte. Ein
Kinderwagen rollte auf ihn zu, und Koffer rutschten heran; seltsam schwankend
kam auch der Zugführer mit vorgestreckten Händen durch den Packraum. »Wir fahren
abwärts«, sagte der Zugführer. - Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel. In:
Weltuntergangsgeschichten. Von Poe bis Dürrenmatt. Zürich 1981 (zuerst
1952/1978)
Tunnel (3) Als sie unten anlangte, atmete sie nochmals tief durch, bevor sie den Tunnel betrat, speicherte genügend Luft, um auf die andere Seite zu kommen. Es war eine undurchdringliche Schwärze. Die Neigung des Hangs verhinderte, daß auch nur der geringste Widerschein der Straßenlaternen in der Ferne über die leichte Einbuchtung direkt am Tunneleingang hinaus ins Innere vordrang. Man würde meinen, sie hätten zumindest eine Lampe reingehängt oder genau oben über dem Eingang angebracht. Nun, sie hatten es mehrere Male versucht, aber die Kinder, die tagsüber hier herumspielten, halten sie immer wieder in ein, zwei Tagen kaputtgemacht, so daß sie sich schließlich nicht mehr darum bemüht hatten, dafür zu sorgen, daß eine brannte.
Kaum hatte sich das unsichtbare gewölbte Dach über ihr geschlossen, da begannen ihre Schritte hohl zu hallen, und die Mauern ringsherum ließen das Echo etwas dumpfer und schaler klingen. Einmal, vor etwa einem Jahr oder so, hatte man einen Toten hier drinnen gefunden. Mit einem Messer im Leib, und seine Taschen ... Aber sie wollte jetzt nicht daran denken. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Unbewußt hatte sie ihr Tempo beschleunigt, seit sie den Tunnel betreten hatte. Ihre Augen, zu allen Zeiten glänzend und groß, mußten in der Düsternis riesig sein, doch man konnte sie nicht sehen. Graäas a Dies, er war nicht sehr lang, hatte nur die Breite des Boulevards, der oben drüberlief. Sie hatte jetzt die Hälfte hinter sich. Ihre Schritte machten bumm, bumm, bumm, bumm, als würden Kürbisse zu Boden plumpsen, die Steine oben gaben den Schall an die Steine unten weiter.
Da - sie konnte das andere Ende schon vor sich sehen; sie näherte sich dem Ausgang. Sie begann wieder zu atmen, und erst, als sie wieder atmete, ging ihr auf, daß sie es bis jetzt nicht getan hatte. Es war dort draußen nicht sehr viel heller, als es hier drinnen war. Ein paar Dunkelblau- oder Grauschattierungen vermischten sich mit dem glattstrukturierten Schwarz, so daß es fadenscheiniger erschien - das war alles. Aber ihre Schritte hatten nicht mehr eine ganz so tiefe Resonanz, und die Luft wurde ein bißchen weniger dumpf und drückend. Das allein signalisierte den nahen Ausgang, zu sehen war er kaum.
Sie beeilte sich, rasch wieder ins Freie zu kommen, doch plötzlich schaute sie zufällig zur einen Seite. Aus keinem besonderen Grund, oder was immer das für ein Grund sein mag, der den leeren Blick ablenkt, wenn keine Ursache dafür da zu sein scheint und doch ist. Ihr plötzlich stockender Atem blähte ihren Hals. Was war das? Die Mauer dort drüben mußte naß sein. Dort zwischen den Sprüngen mußte ein bißchen Wasser durchsickern. Denn sie sah so etwas wie einen schwachen Schimmer, ein schillerndes Blinken, als ob von draußen durch die Tunnelöffnung Licht... Doch da draußen gab es kein Licht, nichts, das so weit hereindringen, auf dem Verputz des Tunnels einen so starken Lichtschein erzeugen könnte. Es war flächenmäßig nicht ausgedehnt, noch war es ein kontinuierlicher, senkrechter, dünner Strich, einem Wasserrinnsal gleich. Wenn es Wasser war, so war dieses zu zwei Tropfen geformt, die nebeneinanderlagen. Zwei langgezogene, fast schlitzartige Tropfen; stabförmig; wie Bazillen durch ein Mikroskop gesehen. Sie vibrierten schwach, als würden sie dank einer Wärme, die hinter ihnen aufstieg, innerlich glühen, in einem dunstigen, schwefligen Gelbgrün, das sich jedoch nicht scharf, nicht klar gegen die Schwärze abzeichnete; nichts dergleichen. Es war eher ein diffuses flüchtiges Glitzern, das ihrer Aufmerksamkeit restlos entgangen wäre ohne die Schwärze, die dem Auge, ihrem Auge, keinen anderen Anhaltspunkt bot.
Es waren keine Augen, oder doch? Andere Augen? Sie
bewahrten so beharrlich ihre Paarigkeit, den gleichen Abstand, die intensive
Suggestion eines tückischen starren Blicks ... Nein,
natürlich nicht. Wie könnten es welche sein? Was würden denn Augen hier drinnen
machen - und wem würden sie im übrigen gehören - und ... Laß sie es einfach
nicht sein. Denk einfach nicht, daß es welche sind. Wenn du denkst, es sind
keine, dann werden es auch keine sein. Es ist nichts weiter als Licht, das von
zwei kleinen, nassen, vorspringenden rauhen Stellen zurückstrahlt, zwei nebeneinanderliegenden
Unebenheiten - das ist alles. - Cornell Woolrich, Schwarzes Alibi. München
1986 (zuerst 1942)
Tunnel (4) Sie kümmerten sich nicht mehr um Krankenpfleger, Penner oder Katzen. Es war warm da unten in den Tunneln, dunkel und schwül wie an einem Tropenstrand bei Nacht. Wir sollten das Paar jetzt ein Weilchen in Ruhe lassen, in einer Nische auf Dr. Hakes weißen Laborkittel gebettet, ein bißchen Blut vorne drauf, nichts Häßliches, und sehr gemütlich.
Es geht niemanden mehr etwas an, sie stellen einander Fragen privater, nicht
frommer Natur. Anfangs hegen sie im Hinterkopf noch einen Rest von Hoffnung,
daß Dr. Gossenberg ihre unentschuldigte, standeswidrig traute Abwesenheit nicht
bemerkt. Doch schon sehr bald gibt das Wort Abwesenheit seinen Geist auf unter
der ungeheuren Macht des Gegenwärtigen. -
Irene Dische, Fromme Lügen. Frankfurt am Main 1989
Tunnel (5) Niemand oder fast niemand ist in der Nähe, nur ein paar späte Autos mit Betrunkenen, die nach Hause fahren. Hier auf dem Gehsteig stehen zwei ziemlich abgerissene Huren, ein Priester, der vorbeigeht, dreht sich nach ihnen um. Ein solches Loch fehlt euch im Vatikan, ihr träumt nur davon.
Hier öffnet sich der Tunnel weit. Wollen wir eintreten? Ein Gesang begleitet mich, ein Gesang aus voller Kehle. Woher kommt er? Vom Himmel? Von weit her? Vielleicht aus einem Radioapparat in einem Haus der Umgebung? Oder singe ich?
Ich dringe ein in den lebendigen Körper der Hauptstadt Rom, gerade unter dem Sessel des Präsidenten der Republik Italien. Ich ziehe mich zurück und dann von neuem. Dort oben beben die Gärten des Quirinals, die Zypressen, die Eorbeerbäume und die römischen Eichen. Zerzauste Baumkronen. Der Präsident spürt, wie sein Sessel wak-kelt und sagt, das ist ja wie ein Erdbeben.
O Römischer Tunnel, Große Grotte im Körper der Hauptstadt, Erhabener
Schlitz, ausgelegt mit weißen glasierten Kacheln, benannt nach einem König Italiens,
der ermordet gestorben ist, du bist der Mittelpunkt des unsterblichen Roms,
an eine Mauer gelehnt oder liegend, bei Tag oder Nacht, in der Sommerhitze oder
im Februarnebel. Ich dringe singend ein und schaue auf der andern Seite auf
die Via Nazionale hinaus. Wenn ich einmal losgegangen bin, kann mich nichts
mehr halten. Lieber Römischer Tunnel, was will ich dir in diesem Brief sagen?
Daß ich dich liebe? Du glaubst es ja doch nicht, wenn ich dir sage, daß ich
in dich verliebt bin. Dann ist es besser, wenn ich dir diesen Brief gar nicht
erst schreibe und damit dem Rat des Stolzen Ottomanen folge. Anstatt zu schreiben
und zu reden, will ich in dir auf und ab gehen wie ein Kaiser oder ein Papst.
Es ist ein schönes Gefühl, sich im Körper Roms zu befinden, aber mir ist, als
hätte ich das schon einmal gesagt, und in diesem Fall kann man diese Zeile auch
streichen. Du bist das größte und schönste Loch der Welt, bravo, Architekt Viviani,
bravo! -
Luigi Malerba, Der
Protagonist
. Berlin 1989 (zuerst 1973)
Tunnel (6) Vor ihnen ragte eine Reihe uralter Zedern auf. Zwischen ihnen lagen große Geröllblöcke und wuchsen Dornensträucher. Die Wipfel neigten sich oben zusammen und sperrten das Licht der Sonne ab. Die Luft roch nach verfaultem Laub.
Rechts bildeten zwei knorrige Pinien auf jeder Seite des Pfades einen natürlichen Torweg. Am Fuß der einen lehnte eine steinerne Tafel mit der Inschrift «Eingang». Dahinter zog sich ein dämmriger, feuchter, zunächst gerade ausgerichteter Tunnel hin, der schließlich in einer Kurve endete.
In diesen grünen Tunnel blickend, empfand Richter Di plötzlich eine unheimliche Angst.
Langsam drehte er sich um. Links bemerkte er den Zugang zu einem andern Tunnel. Zwischen den Zedernstämmen waren große Geröllblöcke aufgeschichtet. Ein Stein trug die Inschrift «Ausgang».
Ma Jung und Wachtmeister Hung standen hinter dem Richter. Sie sprachen kein Wort. Aber auch sie empfanden die unheimliche, bedrohliche Atmosphäre dieses Platzes.
Richter Di blickte wieder in den Eingang. Der Tunnel schien einen kalten Luftstrom auszuatmen, dessen Kälte der Richter bis in die Knochen spürte. Doch war die Luft völlig unbewegt. Nicht ein Blatt regte sich.
Richter Di wollte seine Augen abwenden, aber der düstere Tunnel hypnotisierte ihn. Er spürte einen Drang hineinzugehen. Er vermeinte, die hohe Gestalt des alten Gouverneurs in der grauen Dämmerung hinter der Kurve stehen und ihm zuwinken zu sehen.
Nur sehr mühsam gewann er seine Selbstbeherrschung zurück. Um sich von dieser unheildrohenden Atmosphäre zu befreien, richtete er seinen Blick fest auf den mit einer dicken Schicht fauliger Blätter bedeckten Boden.
Plötzlich setzte sein Herzschlag aus. Mitten in einer Lehmmulde, rechts von
seiner Fußspitze, erblickte er den Abdruck eines kleinen Fußes, der auf den
Tunnel zuzugehen schien. Dieses geheimnisvolle Zeichen schien ihm zu befehlen,
den Tunnel zu betreten. -
Robert van Gulik, Mord im Labyrinth. Zürich 1985
Tunnel (7)
- N. N.
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