eher   Es ist nicht so, wie Euripides sagt ,Der beste Seher ist, der recht vermutet', sondern dieser ist ein gescheiter Mann, der dem vernünftigen Teil der Seele, der ihn mit Wahrscheinlichkeitsgründen leitet, folgt. Die prophetische Kraft aber ist wie ein unbeschriebenes Blatt, ohne Vernunft und ohne Bestimmtheit aus sich heraus, aber befähigt, passiv Vorstellungen und Vorempfindungen aufzunehmen, und so erfaßt sie ohne Denken das Zukünftige, wenn sie am meisten aus dem Gegenwärtigen heraustritt. Heraus aber tritt sie, wenn sie vermöge einer gewissen Stimmung und Verfassung des Körpers die Verwandlung erfährt, die wir Gotterfüllung (Enthusiasmus) nennen. Aus sich heraus gelangt der Körper zu einer solchen Verfassung zwar nicht oft. Doch sendet die Erde den Menschen Quellen von mannigfaltigen Kräften heraus, teils Wahnsinn erzeugende, Krankheiten und Tod bringende. - Plutarch, nach: alcheringa oder die beginnende Zeit. Hg. Hans Peter Duerr. Frankfurt am Main 1983

Seher (2)  Da, über den Marktplatz, wie auf Verabredung, schritt violetten Gesichtes der Seher, gebot den lachenden Häusern, den Sternen, dem Mond und der Menge und sprach: »Zitronengelb stehen die Himmel. Zitronengelb stehen die Felder der Seele. Den Kopf haben wir schief zur Erde geneigt und die Ohren weit aufgetan. Die Schürzen und Kutten haben wir ausgespannt und der Rücken aus Knallporzellan blinkt im Gefüge.

Wahrlich ich sage euch: meine Demut gehet nicht euch an, sondern GOTT. Jeder suchet ein Glück, für das er nicht ausreicht. Keiner hat Feinde, soviele er haben kann. Eine Schimäre ist der Mensch, ein Wunder, ein göttliches Ungefähr, voll Tücke und Zwielist.

Eines Tages kannt ich mich selbst nicht mehr aus Neugier und Argwohn. Siehe, da kehrte ich um und hielt Einkehr. Siehe, da brannte die Kerze und tropfte auf meinen eigenen Schädel. Meine erste Erkenntnis aber war: klein und groß, das ist Aberwitz. Groß und klein, das ist Relativismus. Siehe, da schnellte mein Finger hervor und verbrannte sich an der Sonne. Siehe, da ritzte der Zeiger der Turmuhr den Boden der Straße auf. Ihr aber glaubet zu fühlen und werdet gefühlt.« Er machte eine Pause, um sich das Ohr zu scheuern, und warf einen Blick in das fünfte Stockwerk des vierten Gebäudes. Dort ragte Lünettes rosaseidenes Bein aus dem Fenster. Darauf saßen zwei geflügelte Wesen, die saugten Blut. Und der Seher fuhr fort:

»Wahrlich, kein Ding ist so, wie es aussieht. Sondern es ist besessen von einem Lebgeist und Kobold, der steht still, alslang man ihn anschaut. So man ihn aber entlarvet, verändert er sich und wird ungeheuer. Jahrelang trug ich die Last der Dinge, die ihre Befreiung wollten. Bis ich erkannte und sah ihre Dimension. Da hob mich die Inbrunst. Entsetzliches Leben! Da breitete ich meine Arme, zur Abwehr, und flog, flog pfeilgerad über die Dächer.«

Hier konnte man sehen, daß der Seher, vom Brausen der eigenen Worte betört, nicht hatte unhaltbare Versprechungen ausgelassen. Mit beiden Händen laut flatternd, erhob er sich, flog wie zum Versuch ein gutes Stück Wegs in den Abend, neigte dann aber die Kurve und kam, unter einigem Hüpfen, leichthin wieder zu Stand. - Hugo Ball, Tenderenda der Phantast, in: H. B., Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1915)

Seher (3)  

Seher (4) Wird ein Häuptling der Skythen krank, läßt er drei Mann holen, besonders angesehene Seher, die sagen wahr wie angegeben. Und die sagen im allgemeinen meist das: Bei den Herdstellen des Häuptlings habe falsch geschworen der und der, und dabei nennen sie von den Landsleuten einen, den sie eben nennen. Bei den Herdstellen des Häuptlings zu schwören ist insbesondere Brauch bei den Skythen, wenn sie den stärksten Eid schwören wollen. Sofort wird der, den sie des Meineids bezichtigen, an beiden Armen ergriffen und vorgeführt, und ist er da, verhören ihn die Seher; es sei klar durch das Wahrsagen, daß er bei den königlichen Herdstellen falsch geschworen hat und der König deswegen krank ist. Der streitet es ab und sagt nein, er habe nicht falsch geschworen, und redet mit allen Kräften dagegen. Streitet der's ab, läßt der König zwei weitere Seher holen. Und wenn auch die, nachdem sie ihrerseits die Wahrzeichen angeschaut haben, ihn verurteilen, er habe falsch geschworen, schlagen sie ihm sofort den Kopf ab, und die ersten Wahrsager verlosen seinen Besitz unter sich. Sprechen ihn aber die dazugekommenen Wahrsager los, sind andere Wahrsager zugegen und noch mal andere. Und sind die den Mann lossprechen in der Überzahl, trifft die ersten Wahrsager selber das Todesurteil.

Die bringen sie auf folgende Art zu Tode. Nachdem sie einen Wagen mit Reisig gefüllt und Ochsen eingespannt haben, fesseln sie die Füße der Wahrsager, binden ihnen die Hände auf den Rücken, knebeln sie und packen sie mitten auf das Reisig, dann stecken sie's an, scheuchen die Ochsen und lassen sie laufen. Viele Ochsen verbrennen nun mit den Wahrsagern, viele werden auch nur angesengt und kommen davon, wenn die Deichsel verbrannt ist. Auf besagte Art verbrennen sie die Wahrsager auch anderer Vorwürfe wegen und schelten sie Lügenwahrsager. Und die der Häuptling umbringen läßt, von denen läßt er auch die Söhne nicht übrig, sondern alles Männliche tötet er, dem Weiblichen aber tut er nichts zuleide. - (hero)

Seher (5)   Der Götterkönig nahm ihm übel, daß er den Menschen die Zukunft bis zum letzten Ende offenbarte. Die Harpyien soll Helios deswegen gegen ihn geschickt haben, weil er überheblich darauf verzichtete, das Sonnenlicht zu sehen. Sie kamen immer, wenn Speisen vor Phineus gesetzt wurden, und rissen sie ihm aus Hand und Mund. Was sie übrigließen, war mit einem Gestank behaftet, den niemand aus der Nähe ertragen konnte.

Blind, mit eingesunkenen Wangen wie ein Toter, erscheint er auf dem berühmten Vasenbild, auf dem einst auch der Name der am Kopfende des Bettes sitzenden Frau als Erichtho zu lesen war. Und so schildert ihn auch der Erzähler: wieder waren die Harpyien da, sie raubten ihm das Essen, er hörte aber dennoch das Herannahen der Heroen, von denen er durch die Weisung des Zeus wußte, daß sie ihm den Genuß der Speisen wiedergeben würden. Wie ein lebloser Schatten erhob er sich vom Lager, tastete, gestützt auf seinen Stock, mit zusammengeschrumpften Füßen der Wand entlang zur Türe. Es zitterten ihm beim Gehen vor Schwäche und Alter die Glieder. Wie eine starre Kruste lag der Schmutz an seinem ausgetrockneten Leib, nur die Haut hielt die Knochen zusammen. Er verließ den Saal, doch die Knie trugen ihn nicht weiter. Auf die Schwelle des Hofes mußte er sich setzen. Dunkelrot umhüllte ihn der Schwindel, wegzulaufen schien ihm unter den Füßen der Boden. Er brach in Ohnmacht zusammen. Die Argonauten umstanden ihn in Staunen. Schwer fand der Alte den Atem wieder und begrüßte die Helden, alles wissend von ihnen, und ließ sie auch sein eigenes Schicksal wissen.  - (kere)

Sehen Id genus omne Wahrsagung

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