ihilist  Ich war nie im Leben einem russischen Nihilisten begegnet, außer auf der Bühne, und mein erster Eindruck war, daß ihm diese Rolle auf den Leib geschrieben war.

Boris Savinkov

Klein von Wuchs, sparsam, lautlos und entschlossen in seinen Bewegungen; eigenartig grüngraue Augen in einem Gesicht von tödlicher Blässe; die Stimme ruhig, leise gleichmäßig, fast monoton; unzählige Zigaretten rauchend. - Winston Churchill, 1937, nach: Hans Magnus Enzensberger, Nachwort zu: Boris Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen. Nördlingen 1985 (Die Andere Bibliothek 4, 1985, zuerst 1917)

Nihilist (2) Boris Savinkov überschritt am 20. August 1924, aus Polen kommend, die russische Grenze. Auch bei dieser letzten Reise des alten Abenteurers hatte die Çeka die Hand im Spiel. Er wurde verhaftet, kaum daß er russischen Boden betreten hatte. Zwei Tage später stellte ihm die Staatsanwaltschaft bereits die Anklageschrift zu, in der er als »einer der unversöhnlichsten und aktivsten Feinde der russischen Bauern und Arbeiter« bezeichnet wird.

Der Prozeß gegen Savinkov vor dem Militärkollegium des Obersten Revolutionstribunals begann am 27. August. Nach drei Sitzungstagen wurde er zum Tode verurteilt. Das Zentralkomitee wandelte das Urteil in eine zehnjährige Gefängnisstrafe um. Zwei Wochen später erschien in der Pravda ein Artikel Savinkovs unter der Überschrift »Warum ich die Sowjetregierung anerkannt habe«. Die folgenden Auszüge geben einen Begriff von seinem Inhalt.

»Warum ich die Sowjetregierung anerkannt habe?... Die einen erklären meine Anerkennung durch Unaufrichtigkeit, die anderen durch Abenteurertum, die dritten durch den Wunsch, mein Leben zu retten. Diese Erwägungen waren mir fremd. Die Wahrheit liegt in folgendem: Ich habe gegen die Bolschewiken sei dem Oktober 1917 gekämpft. Ich nahm teil am ersten Kampf, bei Pulkovo, um am letzten bei Mosyr‘. Ich nahm teil an der weißen Bewegung, ebenso an der grünen. Ich befaßte mich mit Untergrund-Arbeit und bereitete Attentate vor. Nachdem ich alle Kampfmittel erschöpft hatte, begriff ich, daß ich besiegt bin. Aber sich für besiegt er klären bedeutet noch nicht, daß mai die Sowjetregierung anerkennt. Ich habe sie anerkannt. Welches waren die Gründe hierfür?

Nach dem Oktoberumsturz glaubten viele, daß die Pflicht jedes Russen ist, gegen die Bolschewiken zu kämpfen. Weshalb? Weil die Bolschewiken die Nationalversammlung auseinandergejagt haben; weil sie den Frieden geschlossen haben; weil sie durch die Verjagung der provisorischen Regierung den Monarchisten den Weg geebnet haben; weil sie durch Erschießungen, Ermordungen und den Raub des Geraubten unerhörte Grausamkeit zeigten. Auf der weißen Seite sind Ehrlichkeit Treue zu Rußland, Ordnung und Achtung des Gesetzes; auf der roten Verrat Mord, Betrug und Verachtung der ele mentaren Menschenrechte. So hab auch ich damals gedacht.

Wer glaubt jetzt noch an die Nationalversammlung? Wer verurteilt den von den Bolschewiken geschlossenen Frieden? Wer glaubt, daß der Oktoberumsturz dem Zaren den Weg geebnet hat? Wer weiß nicht, daß nicht nur die Bolschewiken erschossen, gemordet und geraubt haben, sondern auch wir? Endlich, wem ist es nicht klar, daß wir keine ›‹Ritter im weißen Gewande‹ waren, daß wir gerade die Verbrechen begangen haben, deren wir die Bolschewiken beschuldigten? Das eben Gesagte erfordert keine Beweise. Und wenn es sich nur um diese zweitrangigen Ursachen handeln würde, hätten wir natürlich längst die Waffen niedergelegt und die Sowjetregierung anerkannt. Aber wir sind Russen. Wir lieben Rußland, das heißt das russische Volk. Wir fragen: Mit wem ist denn dieses Volk? Sind die Bolschewiken keine Usurpatoren? Richten sie das Vaterland nicht zugrunde? Bringen sie nicht Rußland der Kommunistischen Internationale zum Opfer? Und wo ist die von der Februarrevolution eroberte Freiheit?...
Ich antworte darauf: Und wenn die Weißen gesiegt hätten, gäbe es dann keine Diktatur? Ich ziehe immerhin die Diktatur der Arbeiterklasse der Diktatur von Generalen vor, die nichts gelernt haben... Ich habe gesagt, wenn man sich für besiegt erklärt, so heißt das noch nicht, daß man die Sowjetmacht anerkennt. Wäre nur ich besiegt, wäre nur die ›Union zur Verteidigung von Vaterland und Freiheit‹ zerschlagen, dann wäre ich gezwungen, zu sagen, daß ich persönlich kampfunfähig bin. Aber wir alle sind von der Sowjetmacht besiegt. Besiegt sind die Weißen und die Grünen, die Parteilosen und die Sozialrevolutionäre, die Kadetten und die Menschewiken, besiegt in Moskau wie in Weißrußland, in der Ukraine, in Sibirien wie im Kaukasus. Besiegt in Schlachten, in der unterirdischen Arbeit, in Geheimverschwörungen und in offenen Aufständen. Besiegt nicht nur physisch, durch die erzwungene Emigration, sondern auch seelisch, durch den Zweifel an dem, was wir noch gestern für die absolute Wahrheit hielten. Aber vor jedem von uns steht die gleiche Frage: Was ist die Ursache unseres Unglücks und unserer Niederlage? Das Hinterland? Aber auch die Roten hatten ein Hinterland. Diebstähle, Räubereien, Morde? Aber auch die Roten hatten anfangs Raub und Mord. In der Talentlosigkeit, in der Dummheit? Aber es sind nicht Götter, welche Tontöpfe brennen. Auf unserer Seite war die ›Blüte‹ der Militärmenschen und die ›Blüte‹ der Gelehrtenwelt, die ›Blüte‹ der Gesellschaft und die ›Blüte‹ der Diplomatie. Wenigstens dachten wir aufrichtig so. Aber der rote Kommandeur aus dem Arbeiterstand hat die Strategen des Generalstabs geschlagen. Aber der Bauer, das Mitglied der RKP, hat besser den Sinn der Ereignisse begriffen als verdiente und berühmte Professoren. Aber der gewöhnliche Parteifunktionär ist dem werktätigen Volk näher gekommen als die patentierten Volksfreunde. Aber die Sowjetdiplomaten zeigten sich stärker und fester als die vielerfahrenen russischen Botschafter. Sieben Jahre sind vergangen. Wir sind atomisiert. Wir sind lebende Leichname. Die Sowjetmacht aber erstarkt von Stunde zu Stunde...

Als ich unter der Zarenregierung auf die Hinrichtung wartete, war ich ruhig. Ich wußte, ich hatte dem Volk gedient, so gut ich konnte: das Volk ist mit mir gegen den Zaren. Als ich jetzt die unvermeidliche Erschießung erwartete, beunruhigten mich die gleichen Zweifel, wie vor einem Jahre im Ausland:

Und wenn die russischen Arbeiter und Bauern mich nicht verstehen werden? Und wenn ich für sie ein Feind bin, ein Feind Rußlands?

Es ist schwer mit diesem Gedanken zu sterben.

Es ist schwer mit diesem Gedanken zu leben... September 1924, Inneres Gefängnis. Boris Savinkov.«

Wie diese Erklärung zustandegekommen und was von ihrer Aufrichtigkeit zu halten ist, darüber kann es keine Gewißheit geben. Fest steht nur, daß die sowjetischen Behörden am 12. Mai 1925 eine knappe Erklärung abgaben, derzufolge sich Savinkov fünf Tage zuvor im Lubjanka-Gefängnis zu Tode gestürzt hatte. Er soll sich vom fünften Stock in einen Lichthof geworfen haben und auf der Stelle tot gewesen sein. Auch die Glaubwürdigkeit dieser Mitteilung ist selbstverständlich angezweifelt worden. Fedor Stepun, ein russischer Gelehrter, der in der Kerenskij-Regierung eine gewisse Rolle spielte und 1922 emigriert ist, steht gewiß nicht in dem Verdacht, den Bolschewiken mit übermäßigem Wohlwollen zu begegnen. Er hat Savinkov gut gekannt. In seinen Erinnerungen beschreibt er eine Episode aus dem Jahre 1917. Er war mit Savinkov an die Front gefahren, um eine meuternde Division zum Weiterkämpfen zu veranlassen.

»Von dem ewigen Einerlei, von dem ständigen Einreden auf immer neue Deserteure war uns beiden traurig und trübe zumute. Um uns diesem Druck zu entziehen, begannen wir wieder einmal über Literatur zu sprechen. Mitten in dieses Gespräch knallten plötzlich scharfe Gewehrschüsse. Offensichtlich hatten die in einem nicht weit von uns entfernten Wäldchen postierten Bolschewiken schon vorher beschlossen, Savinkov ganz beiläufig und anonym seines Postens zu entheben...

Als Antwort auf das Singen der Kugeln wandte sich Savinkov langsam mit dem Gesicht zu mir und skandierte mit einem steinernen Lächeln:

›Die Guillotine ist ein Messer,
Um so besser —
Gleich ergreife ich den Becher,
Soll man mich zum Tode führen...‹

Zu vollem Leben erwachte Savinkov nur als Theoretiker und Praktiker des Terrors. Der Verantwortung, die ich mit dieser Behauptung auf mich nehme, voll bewußt, muß ich doch den mich lange quälenden Verdacht aussprechen, daß die ganze terroristische Tätigkeit Savinkovs wie auch die Verteidigung der Todesstrafe im Kriegsministerium nichts anderes waren, als ein ihm persönlich notwendiges Experimentieren mit dem Gedanken an das Erlebnis des Todes. Wenn dieser einsame Mensch bis ans Ende seines Lebens irgend etwas wahrhaft liebte, dann einzig und allein das Exerzitium der Selbstversenkung in den ihn anziehenden Abgrund des Todes. ›Es gibt keine Liebe, es gibt keine Welt, es gibt kein Leben, es gibt nur den Tod.‹ In diesen Worten des Terroristen George aus dem Roman Das fahle Pferd offenbart sich das ganze Geheimnis Savinkovs ...

Bei der Ausübung seiner Aufgabe als Kommissar kam ihm seine angeborene Tapferkeit zustatten, die, wie ich mich überzeugte, ihren tiefsten Grund in einem beinahe wollüstigen Genuß jeglicher Todesgefahr hatte. ›Man blickt in den Abgrund‹, schreibt er in seinen Briefen aus dem Felde, ›es wird einem schwindlig, und doch fühlt man die Sehnsucht, in den Abgrund zu stürzen, obwohl man weiß, daß dies den sicheren Tod bedeutet.‹ Mehr als einmal in seinem Leben ist Savinkov kopfüber in den lockenden Abgrund gestürzt, bis er seinen Schädel an den Steinen zerschmetterte, als er sich aus einem Fenster der Moskauer GPU herausstürzte.« - Aus: Hans Magnus Enzensberger, Nachwort zu: Boris Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen. Nördlingen 1985 (Die Andere Bibliothek 4, 1985, zuerst 1917)

Nihilist (3) »Was Basarow ist?« Arkadij lächelte. »Wenn Sie wollen, Onkelchen, werde ich Ihnen sagen, was er eigentlich ist.«

»Tu mir den Gefallen, Neffe.«

»Er ist ein Nihilist.«

»Wie?« fragte Nikolaj Petrowitsch, während Pawel Petrowitsch das Messer mit einem Stück Butter auf dem Ende der Schneide in die Höhe hob und regungslos verharrte.

»Er ist ein Nihilist«, wiederholte Arkadij.

»Nihilist«, stammelte Nikolaj Petrowitsch. »Das kommt vom lateinischen nihil, nichts, soviel ich beurteilen kann; folglich bezeichnet dieses Wort einen Menschen, der ... der nichts anerkennt.«

»Sag: der nichts achtet«, fiel Pawel Petrowitsch ein und wandte sich wieder der Butter zu.

»Der sich allem gegenüber kritisch verhält«, bemerkte Arkadij.

»Ist das nicht dasselbe?« fragte Pawel Petrowitsch.

»Nein, es ist nicht dasselbe. Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität verbeugt, der kein einziges Prinzip auf Treu und Glauben gelten läßt, gleichgültig, welchen Ansehens sich dieses Prinzip auch erfreuen möge.«

»Und ist das gut?« unterbrach ihn Pawel Petrowitsch.

»Je nachdem, Onkelchen. Für manchen ist es gut, für manchen sehr schlecht.«

»So ist das. Nun, ich sehe schon, das ist nichts für uns. Wir alten Leute glauben, daß man ohne Prinsipien« - Pawel Petrowitsch sprach dieses Wort weich, nach französischer Art, Arkadij dagegen sagte Prynzip, mit der Betonung auf der ersten Silbe -, »ohne, wie du sagst, auf Treu und Glauben angenommene Prinzipien nicht einen Schritt machen, nicht atmen kann. Vous avez changé tout cela, Gott schenke euch Gesundheit und den Generalsrang, aber wir werden uns nur an euch freuen, ihr Herren . .. wie doch gleich?«  

»Nihilisten«, sagte Arkadij deutlich.

»Ja. Zuerst gab es Hegelianer, und jetzt gibt es Nihilisten. Wir wollen sehen, wie ihr in der Leere, im luftleeren Raum leben werdet ... Aber jetzt klingle bitte, Bruder Nikolaj Petrowitsch, es ist Zeit, daß ich meinen Kakao trinke.« - Iwan Turgenjew, Väter und Söhne. München 1969 (zuerst 1862)

Nihilist (4) Nachdem ich die Bücher beiseite gelegt hatte, kam ich zu dem Schlusse: du bist ein erotischer Nihilist. Was soll das bedeuten? Platt herausgesagt, ist mir die Frau am liebsten, die mich durch ihre Anwesenheit nicht stört, die also nicht vorhanden ist. Das, wie gesagt, ist ein ganz allgemeiner Fall, und eben er hatte Bertha an mir gestört.

Nun könnte ich mich aus der Affäre ziehen mit der Behauptung, ich sei vielleicht sogar ein erotischer Idealist. Die Gegenwart der Geliebten würde insofern stören, als sie die Aphrodite beeinträchtigt. Die letzte Kammer bleibt verschlossen, und nur ein Lichtstrahl blitzt hindurch. Das ist der geheime Grund so vieler Enttäuschungen. - Ernst Jünger, Aladins Problem. Stuttgart 1983

Nihilist (5)  Ich traf Picabia nur wenige Male, aber immer war es für mich ein Todeserlebnis: höchst fremd, höchst anziehend, äußerst herausfordernd und erschreckend. Aber wir alle hatten wohl in einem gewissen Moment und für eine gewisse Zeitspanne das Bedürfnis, dem Anti-Lebensimpuls zu folgen, den Picabia so virulent ausdrückte. ...

Picabia nahm die Haltung eines schöpferischen Menschen ein, der sich immer wieder gehalten sieht, zeugen zu müssen, mit der Haltung des Skeptikers, der die völlige Sinnlosigkeit all dieses Zeugens einsieht und dessen cartesianische Intelligenz jede Hoffnung ausschließt ... außer der, sich in diesem Konflikt aufzulösen. ...

Darin unterschied sich der Nihilismus Picabias grundsätzlich von dem moralischen Pessimismus Serners, dem immerhin noch tief unten ein Funke idealistischen Feuers trotz seines heftigen Zynismus blieb. Er unterschied sich ebenso von dem elegant verspielten, doch fundamental materiellen Nihilismus Tzaras, der das Leben nahm, wie er es finden sollte, und der, wenn auch nicht anders, so doch an sich glaubte. - Hans Richter, Dada Kunst und Anti-Kunst, nach Raoul Schrott: Walter Serner und Dada. Siegen 1989 (Vergessene Autoren der Moderne XLI)

Revolutionär Nichts Nihilismus
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