ensch,
neuer Kurz vor Erfindung des Wissenschaftlichen Sozialismus,
dieser Dampfmaschine der neueren Geschichte, tauchte in einer deutschen
Kleinstadt, wo er seine Kindheit und die Jugendjahre in einem Kellerloch
verbracht hatte, ein elternloser Barbar auf. Den
Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen seiner Gattung stand er so fremd,
so ungelenk gegenüber, daß er sofort zum Objekt seiner Umwelt wurde, ein
Wesen, auf das jedermann Anspruch erhob zum Zwecke der Formung und Gewissenserforschung,
des medizinischen Studiums und der pädagogischen Fürsorge. Denn er war
ohne die Linderungen und Täuschungen der Menschensprache aufgewachsen,
hatte keine Kenntnis von Vater und Mutter und brachte auch den geheimen
Banden von Zeit und Raum zunächst nur etwas wie eine tierhafte Witterung
entgegen. Der Namenlose war, zum Frohlocken seiner künftigen Lehrer
und Untersucher, das erste wirklich intelligente Tier, das ihnen diesseits
der freien Wildbahn begegnete, ein Lebewesen, wie es innerhalb der von
Menschen geschaffenen Gehege, ging es mit rechten Dingen zu, gar nicht
auftreten konnte. In frommeren Zeiten hätte man von einem Wunder gesprochen,
ehrfürchtig auf Jahrmärkten zu bestaunen. Den aufgeklärten Beobachtern
jedoch war der Findling ein Gegenstand der Examination. Man prüfte seine
Reflexe, umzingelte Herz und Gehirn,
war auf der Suche nach den natürlichen Gaben, den angeborenen Moralvorstellungen.
Man fahndete in ihm nach dem sogenannten gesunden Menschenverstand, unterzog
ihn verschiedener ausgeklügelter Tests. Er war das ideale Versuchstier;
mit ihm hatte, tief in der Provinz, doch schneller als mit allen späteren
Telegraphen verkündet, eine andere Zeit angefangen. Der erste Neue Mensch
nach dem Kalender der kommenden sozialen Revolutionen hatte die Bühne betreten.
Der erste vollständig objektivierbare Mensch war inmitten der Gesellschaft
erschienen. Wenn er auch bald darauf einging, die Zukunftshoffnungen konnten
sich fortan um so vehementer auf seinesgleichen richten. Hochbegabt und
von Anfang an systematisch überfordert, war er das erste Opfer,
das die Kollektive ihrer Veränderbarkeit brachten. - (
gr
)
Mensch,
neuer (2) Che Guevara war
cool. Er hatte Rock-Star-Qualitäten. Er hatte Charisma. Er war tapfer
und brillant, er verschrieb sich mit unheimlicher, aber eben auch
bewundernswerter Konsequenz seiner Sache. Er war, das nicht zuletzt,
voller Ironie. Wie etwa diese Anekdote belegt: "Als Che erfuhr, wie
viele WC's für den neuen Sitz der Nationalbank geplant waren, sagte er:
'Das können wir mindestens auf die Hälfte reduzieren.' - 'Aber auch
während der Revolution gehen die Leute auf die Toilette, genau wie
vorher', sagte ich. 'Nicht der neue Mensch, er kann sich opfern',
erwiderte Che." (Bericht des Architekten Nicolás Quintana). Jean- Paul
Sartre, der ihm auch persönlich begegnet war, nannte ihn "den
vollkommensten Menschen unserer Zeit".
- Rüdiger Suchsland,
Telepolis
23.07.2009
Mensch,
neuer (3) Man hat keine großen Heilsbotschaften zu erwarten, aber
eines Tages wird ein Mensch biologisch gut sein, und die Samen werden von ihm
ausgehen, um neue Menschen zu machen. Wie neue Wälder
werden die Menschen aufstehen und alles Gewesene in sich aufbrauchen, denn es
liegt bereit im Boden und in den Lebenden, die an seiner Schwere sterben. Biologisch
gute Menschen brauchen einander ganz und gar nicht ähnlich zu sein. Sie werden
erst Menschen sein, wie Pflanzen Pflanzen sind oder Tiere Tiere. Sie werden
nur wenig gemeinsame Züge haben, den Raubtieren weniger ähnlich sein, und doch
vielleicht nicht so wenig giftig und gefährlich, sondern hier eher den Pflanzen
verwandt, von denen niemand sagen kann, daß sie eine Feindschaft kennen. Denn
dies ist die wichtigste Aufgabe der Menschen, keine Feindschaft auf der Erde
übrig zu lassen, sondern diese immerfort in sich aufzunehmen, und damit werden
sie weit von allem fortgehen, was man denken kann. Denn ihr Sein wird unendliche
Spielarten möglich machen. Im Essen und Trinken würden sie wieder ganz unscheinbar
sein, weil sie genau wissen, was sie brauchen. Jede Pflanze läßt unerkannt,
was sie nimmt. Die Menschen sind vielleicht schon heut mehr, als man ahnt, fähig,
für sie wertvolle Stoffe aus der Atmosphäre aufzunehmen. Es liegt außerhalb
der jetzigen Beweisbarkeit. Wie große, verfeinerte Werte sterben vielleicht
immerwährend in unsre Luft hinein, ohne daß wir davon wissen? -
Ernst Fuhrmann, Der Weg in die Zukunft. Nach (
fuhr
)
Mensch,
neuer (4) Zum ersten Punkt: Entfaltung
der Persönlichkeit. Der Leiter des Instituts für Motivationsforschung, Dr. Dichter,
behandelt in seinem Werk Strategie der Wünsche das Programm des neuen
Menschen. »Wir haben uns mit dem Problem zu befassen, das Selbstvertrauen des
Durchschnittsamerikaners soweit zu stärken, daß er sich, selbst wenn er flirtet,
das Geld hinauswirft und einen zweiten oder dritten Wagen kauft, noch immer
als ein moralisches Wesen fühlt. Ein grundlegendes Element der Prosperität liegt
darin, daß die Menschen für ihre Genußsucht und Lebensfreude eine Rechtfertigung
zur Hand haben, daß sie überzeugt sind, Leben als Vergnügen sei durchaus moralisch.
Dieses Zugeständnis an den Verbraucher, sein Leben hemmungslos zu genießen,
und der Hinweis, daß er auch das Recht darauf hat, sich mit allen Gütern auszustatten,
die Lust und Glanz in seine Existenz bringen, hat der Grundsatz jeder Werbung
und Verkaufsförderung zu sein.« Mit einer solchen Manipulation der Motive beginnt
eine neue Ära, in der die Werbung auch die moralische Verantwortung für die
Gesellschaft übernimmt. Anstelle der puritanischen Strenge wird eine hedonistische
Moral der reinen Bedarfsbefriedigung verkündet, und mitten in unserer Hyperzivilisation
ein neues Verhältnis der »Natürlichkeit« begründet. - (
baud
)
Mensch,
neuer (5) Er eilte den Eingetretenen
entgegen. Da war der Rostocker, Vorhang der Lider, untergegangen. Er verwirrte
sich. Er sagte: »Es ist vorhin wie von ungefähr, hypothetisch, von jungen Menschen
gesprochen worden, die man in Europa nach einer leicht unbarmherzigen Methode
von den übrigen ausmustern müßte. Daß sie mit steinernen und fleischlichen Eiden
zusammengeschweißt, würden zu einem Heer. Zu einer Phalanx der Starken, die
das Mitleiden kennen. Und das Unterliegen in Liebe für keine Schande erachten.
Denen sich die Begriffe Herr und Knecht in einem gewissen Sinne verwirrt haben.
Und der Dünkel ihrer Abstammung ein leeres Loch in ihrem Erinnern. Die nicht
von Vater und Mutter sprechen als von Tugenden, die ihnen beigegeben wurden.
Und von einem Vaterland. Die vielmehr eine neue Geschichte anfangen wollen.
Als neue Menschen. Ich verschwieg, die Lehre, die ich verbreitete, ist schon
tiefer als ihr Wort. Sie ist eine Gestalt. Wie ein Tempel. Mit einem Glockenturm.
Mit einem erzenen Mund. Mit tausendfachen Herzen der bereiten Beter. Bilder.
Gewiß kein Tempel. Nur ein großes Gefäß voll Blut. Eine lebendige Welle. Leiber.
Wie auf dem jüngsten Gericht des Hans Memling in Danzig. Das Heer ist
ausgemustert. Zehntausend, zwanzigtausend junger Menschen. Gebrandmarkte. Ihre
Brust ist gezeichnet mit der Narbe, die ein glühendes Eisen hinterließ. Die
Brüder- und Schwesternschaft vom Goldenen
Siebenstern.« - Hans Henny Jahnn, Perrudja.
Frankfurt am Main 1966 (zuerst 1929)
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