leischer
Ich bin mir dessen, was ich tue, bewußt, wenn ich
töte, und ich erkenne die Tragik, die darin liegt, Getötetes zu essen. 'Es
ist die Tragik des Lebens, daß die Nahrung des Menschen aus lauter getöteten
Seelen besteht', soll ein Eskimo-Schamane
gesagt haben. Dieser Satz beschäftigte mich viele Jahre
... Wenn ich heut ein Rind oder ein Schwein töte -
und ich schlachte von Zeit zu Zeit in der Werkstatt oder bei einem Schlachtfest
zusammen mit Freunden -, erlebe ich dabei jede Phase mit ganzem Herzen und mit
ganzer Aufmerksamkeit.
Ein Schuß, das Zusammenbrechen, ein Stich, mit dem Blut entweicht das Leben,
ich spüre das mit der Hand, über die das warme Blut
rinnt. Ich rede mit dem Tier, ich sage ihm, daß es mir
leid tut und daß ich traurig bin und tröste es damit, daß eine andere Kraft
auch mich eines Tages töten wird. Ein letztes Zittern,
und die 'Seele' ist wohl entschwunden. Jetzt ist es
Fleisch. - N.N., nach Günter Altner, in
(lte)
Fleischer (2) Über seine Fleischbank hat Monsieur
Boillault ein Gemälde gehängt, das er auf dem Speicher seiner Schwiegereltern
im Departement Yonne gefunden hat. »Dieses Gemälde ist mindestens hundert Jahre
alt!« sagt er stolz. Man sieht darauf eine auf einem Tisch liegende Männerleiche,
umgeben von schwarzgekleideten Herren in altertümlichen Kleidern mit spitzen
Instrumenten in der Hand, deren sie sich bedienen, um der Leiche an verschiedenen
Stellen Schnitte beizubringen. Monsieur Boillault ist zufrieden mit seinem Gemälde,
das, wie er mir gesagt hat, außer mir niemand bewundert. Madame Boillault findet
es »widerlich« und sagt, daß man so was Veronica nicht vor die Augen hängen
dürfe. Aber Veronica, die fünf Jahre alt ist, hat ganz andere Sorgen im Kopf:
Sie denkt daran, ihren Stammplatz im Sandkasten der Grünanlage Grands-Edredons
zu behalten und ihn gegen alle anderen kleinen Ärsche zu verteidigen, die ihn
begehren. - Jacques
Roubaud, Die schöne Hortense. München 1992 (dtv 11602, zuerst 1985)