Fett   Der Doktor Katzenberger versetzte leise: »Mangel an Fett, Herr Posthalter, können Sie im ersten Bande von Walthers köstlicher Physiologie gefunden haben - der sich vom Berliner Zergliederer Walter so unterscheidet wie beider Wissenschaften, also wie Geist von Körper — Fett-Mangel macht zu empfindsam; denn die Nerven liegen halb nackt da und stoßen sich an alles. Ein Fetter hingegen führt sie, wie Eier, unter diesem Überguß gut bewahrt bei sich; Speck schützt gegen geistige Hitze und gegen äußerliche Kälte.«

Giftig redete den dicken Doktor selber das Fräulein an und sagte: »Ich kenne doch manche beleibte Personen von Empfindung.« —

»Von diesem Schlage«, versetzte er, »dürfte ich selber sein, meine reizende Grauäugige! Im Vorbeigehen bei Ihren himmelgrauen Augen will ich doch anmerken, daß es gar keine blauen und keine schwarzen Augen unter den Menschen gibt (grüne und gelbe jedoch), sondern was sie so nennen, sind nur graue und braune, weil die Iris nie blau und schwarz aussieht. - Aber zurück! Ob ich nun gleich als ein Mann von Talg hier am Tafel-Ende den Fettschweif vorstelle, den sich das kirgisische Schaf nachfährt auf einem Wägelchen: so hab' ich doch auch zwei Augen und ein Schnupftuch; wie oft hab' ich nicht unter dem heftigsten Lachen Tränen vergossen! Desgleichen bei Kälte von außen im Schlitten. Überhaupt wie könnte man als gefrorne Winterbutter erscheinen, wäre man nicht äußerst weich? Nur das Weiche kann gefrieren, Gnädige, nicht das Harte.« - (katz)

Fett (2)  Über den Fortschritt stritten der Ingenieur und Masa beinahe jeden Tag.

Zum Beispiel las Erast Petrowitsch in der Morgenzeitung etwas über die Eröffnung der Eisenbahnverbindung ins Baikalgebiet und sagte: Nun, das ist eine schöne Nachricht für die Bewohner Sibiriens. Früher brauchten sie für die Reise von Irkutsk nach Tschita einen Monat, nun nur noch einen Tag. Da haben sie einen ganzen Monat geschenkt bekommen! Damit können sie machen, was sie wollen. Das, sagte er, ist der wahre Sinn des Fortschritts - die Einsparung von Zeit und unnötigem Kraftaufwand.

Worauf der Japaner entgegnete: Ihnen wurde nicht ein Monat geschenkt, sondern im Gegenteil, ein Monat gestohlen. Früher fuhren die Einwohner von Irkutsk nicht ohne wichtiges Anliegen von zu Hause fort, nun aber werden sie m der Weltgeschichte herumreisen. Wenn sie es wenigstens mit Bedacht taten, dabei die Erde mit ihren Schritten messen, über Berge kraxeln und durch Flüsse schwimmen würden, aber nein, sie setzen sich auf einen weichen Platz, schniefen mit der Nase, und das ist die ganze Reise. Wenn der Mensch früher reiste, verstand er, daß das Leben ein WEG ist, nun aber wird er denken, das Leben sei ein weicher Sitz in einem Zug. Früher waren die Menschen stark und zäh, bald werden sie schwach und fett sein. Fett - das ist euer ganzer Fortschritt.

Herr Nameless wurde wütend. Du übertreibst, sagte er. Fett? Na und, warum nicht, wunderbar! Im übrigen ist Fett das Wertvollste im ganzen Organismus, als Energie- und Kraftreserve für den Notfall. Man muß nur dafür sorgen, daß das Fett sich nicht in bestimmten Teilen des gesellschaftlichen Organismus konzentriert, sondern sich gleichmäßig verteilt, und dafür gibt es den sozialen Fortschritt, »gesellschaftliche Evolution« genannt.

Masa gab sich nicht geschlagen. Fett, meinte er, ist etwas Körperliches, das Wesen des Menschen aber ist die Seele. Vom Fortschritt setzt die Seele Fett an.

Nein, widersprach Erast Petrowitsch. Warum den Körper geringschätzen? Er ist das Leben, und die Seele, wenn es sie überhaupt gibt, gehört der Ewigkeit, also dem Tod. Nicht umsonst heißt Leben auf Altslawisch dasselbe wie Bauch - »shiwot«. Übrigens sitzt bei euch Japanern die Seele auch nicht irgendwo, sondern im Bauch, im »hara«.

An dieser Stelle hatte Senka sich eingemischt - mit der Frage, wo bei den Japanern die Seele sitzt, im Bauch oder in den Haaren. Das war doch interessant!

Ein andermal hatten Erast Petrowitsch und der Sensei gestritten, ob sich durch den Fortschritt die Werte veränderten oder nicht.

Herr Nameless hatte gesagt, sie verändern sich - ihr Niveau steigt, vor allem würde der Mensch sich selbst, seine Zeit und seine Bemühungen höher einschätzen, doch Masa widersprach ihm. Ganz im Gegenteil, meinte er: Heutzutage hängt vom einzelnen Menschen und seinen Bemühungen kaum noch etwas ab, und deshalb sinken die Werte. Wenn der Fortschritt die Hälfte aller Dinge erledigt, kann man sein ganzes Leben verbringen, ohne daß die Seele erwacht. - Boris Akunin, Die Liebhaber des Todes. Berlin 2005

 

Körperbild Stoff

 

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